Bald kann noch so lange sein

Wir waren schon sehr lange in Alaca, und Annem hatte uns erst drei Briefe geschickt.

Sie schrieb, dass sie bald kommen würde, aber „bald“ kam nie.

Babaanne hatte meine Schwester noch nicht mal in der Schule angemeldet, und es gab auch keine Bücher, die Ablam lesen konnte.

„Babaanne, vielleicht sollte ich doch in die Schule gehen. Wir sind schon acht Monate hier, und wenn Anne erfährt, dass ich noch gar nicht in der Schule war, wird sie sicher ganz böse“, schlug Mine vorsichtig vor.

„Die Lebensschule ist wichtiger!“, antwortete Babaanne und drückte Ablam die Schüssel mit Linsen zum Waschen in die Hand.

Babaanne saß am Fenster, schnitt die Köpfe der Okraschoten ab und summte vor sich hin.

„Schon wieder Bamya? Die sind doch immer so schleimig!“

|103|„Ihr seid schon richtig verwöhnte ‚Alamankinder‘“, sagte Babaanne und warf Mine einen bösen Blick zu. Ablam verdrehte wie immer die Augen und zeigte Babaanne heimlich einen Vogel.

„Babaanne, es sind schon acht Monate vergangen, seit wir hier sind, und Anne hat uns immer noch nicht abgeholt. Sie hatte doch in den letzten Briefen immer geschrieben, dass sie bald kommen würde. Vielleicht ist ihr etwas zugestoßen? Vielleicht ist das Flugzeug abgestürzt? Sie hat auch schon so lange keinen Brief mehr geschickt.“

Als Ablam das sagte, wurde ich ganz traurig und fing an zu weinen und setzte mich auf Babaannes Schoß.

„Babaanne, wann ist bald?“

Babaannem erzählte uns, als sie so alt war wie wir, hätten sie und ihre Geschwister ein Mal im Jahr an Ramadan Bayrami ein neues Kleid und Gummischuhe bekommen. Ein paar Tage nach dem Fest fragten sie ihre Anne, wann wieder Bayram wäre und wann sie wieder ein neues Kleid bekommen würden. Darauf antwortete die Anne meiner Babaanne: „Bald Kinder, bald ist wieder Bayram.“ Dabei waren es noch viele Monate bis zum nächsten Feiertag.

„Bald kann noch lange sein, Kinder, hört auf zu warten!“, sagte sie und machte meine Haare wieder schön.

Ablam starrte aus dem Fenster und wischte sich die Tränen ab. Dann sprang sie auf und sagte zu Babaanne, dass sie nicht so blöde Geschichten erzählen solle, knallte die Tür hinter sich zu und ging ins Bett.

„Wenn dieses Mädchen ihre Ziegen im Kopf nicht zu zähmen lernt, wird sie nie einen Mann bekommen“, sagte Babanne und zupfte ihr Kopftuch zurecht. Dann sah sie ganz lange aus dem Fenster.

„Babaanne, bist du traurig?“, fragte ich sie.

|104|„Es gibt keine glücklichen Menschen, Yavrum“, antwortete sie und fing plötzlich an zu lachen. „Doch, Yalcin ist immer glücklich, aber auch nur, weil er nichts zum Denken hat.“

„Yalcin ist nicht dumm, er ist mein bester Freund!“, brauste ich auf.

„Ich weiß, du willst ihn heiraten“, sagte Babaannem. „Aber du wirst später bestimmt einen Prinzen heiraten, der meine kara Kızım auf Händen tragen wird.“

„Babaanne, das kann Yalcin auch, der ist so stark!“

Darüber mussten wir beide lachen.

„Yavrum, erzähl mal, habt ihr eine schöne Wohnung und schöne Möbel in Alamanya? Ist mein Sohn glücklich in der Fremde?“

Eigentlich hatte Babaanne uns verboten, über Deutschland zu erzählen, weil sie Baba so vermisste und sie das sehr traurig machte.

„Hadi, Kızım, erzähl, wie ist es in Alamanya?“

 

Babaanne war irgendwann in Alaca auf die Welt gekommen und das war schon sehr, sehr lange her. Sie war noch nie in einer anderen Stadt gewesen. Einmal ist sie bis zum nächsten Dorf gelaufen, um nach Dede zu suchen, weil er wochenlang nicht nach Hause gekommen war.

Sie hatte ihn bei einer anderen Frau gefunden. Danach musste Dede selbst für sich kochen, weil Babaanne böse auf ihn war. Das war das einzige Mal, dass Babaanne woanders auf dieser Welt war.

„Bist du auch nicht böse oder traurig, wenn ich über Deutschland erzähle?“

„Hayır, Kızım, hadi, erzähl schon“, sagte sie noch mal.

Ich erzählte ihr von unserer Zweizimmerwohnung und von dem Metzger, der mir immer „Schweinewurst“ gab. Von |105|Ali Amca und seinen großartigen Geschäften und von unserem Kater Tekir.

„Ich bin nicht einmal so weit gekommen wie dieses undankbare Tier“, seufzte Babaanne und wackelte mit ihrem Kopf hin und her.

Dann erzählte ich Babaanne, dass Baba ganz oft Raki trank und immer Karten spielte, dass er sogar Anne geschlagen und die Miete nicht bezahlt hatte.

„Er ist der Sohn seines Vaters, wie kann es auch anders sein. Eşoleşek!“, fluchte Babaanne.

„Weißt du, Babaanne, die Deutschen glauben nicht an Allah, sie haben ihren eigenen Gott und der hat keine Hölle, wo er seine Menschen verbrennt.“

„Tövbe, mein Kind, Buße. Allah vergib, und verschone uns vor der Hölle!“, sagte sie und erhob die Hände zu Allah.

„Nein, Babaanne, meine Freundin Helene geht jeden Sonntag in die Kirche und da erzählt sie alles dem Pfarrer, das ist der Alaman Hoca. Der hört sich alles an und dann vergibt er ihr. Die Deutschen haben keine Schicksalsbrücke, und ihr Gott straft sie auch nicht wie Allah.“

„Sag Tövbe, sonst trifft dich gleich der Schlag. Los, sag Tövbe, bitte Allah um Verzeihung!“ Sie war sehr aufgeregt, und wir erhoben beide unsere Hände zu Allah.

„Tövbe!“, sagte ich. „Aber ich erzähle dir doch nur, was meine Freundin mir erzählt hat, Babaanne.“

Sie schüttelte mich fest an den Armen und sah mir böse in die Augen.

„Hör zu mein Kind. Es gibt nur einen da oben. Die Almanlar nennen ihn anders und haben einen anderen Weg zu ihm, aber es gibt nur einen. Hast du mich verstanden?“

Ich nickte ängstlich, und Babaanne drückte mir einen Kuss auf die Stirn.