|34|Die verlogene Wahrheit

Die Freundinnen von Anne kamen uns oft besuchen. Ihre Ehemänner saßen, wie mein Baba auch, immer im Café und spielten Karten. Nur bei Tante Birsen war es anders, denn die hatte keinen Mann mehr, weil sie sich von ihm hatte scheiden lassen. Tante Birsen konnte ich nie leiden. Sie wollte mich mit ihrem Sohn verheiraten. Das flüsterte sie mir immer, wenn ich sie sah, ins Ohr, und jedes Mal wurde ich ganz rot im Gesicht. Ich hatte es Anne schon mal gesagt, aber die meinte nur, dass Tante Birsen es nicht ernst meinen würde. Schließlich sei ich erst fünfeinhalb Jahre alt. Ich schämte mich trotzdem und es machte mich wütend. Ich würde doch nie einen türkischen Mann heiraten und erst recht nicht mit fünf Jahren! Aber Tante Birsen konnte es nicht lassen. Sie ärgerte mich weiterhin und einmal hatte sie sogar ein Foto von ihrem Sohn mitgebracht. Die Kinder lebten in der Türkei bei den Großeltern und gingen dort zur Schule. Tante Birsen war sehr stolz auf ihre Söhne. Sie hatte sich von ihrem Mann scheiden lassen, weil er sie immer geschlagen hatte. Sie hatte ihre zwei Söhne in die Türkei gebracht, damit sie so schnell wie möglich Geld verdienen konnte, um sich in Ostanatolien ein Haus zu kaufen.

Die Eltern von Tante Birsen hatten sie zuerst verstoßen, weil Birsen sich von ihrem Mann getrennt hatte. Aber als sie ihrem Baba monatlich ganz viel Geld überwies, kam alles wieder in Ordnung. „Geld stellt sogar die Ehre wieder her“, sagte Birsen immer.

Tante Birsen besuchte uns nur, wenn Baba nicht zu Hause war. Sie war bei den türkischen Männern nicht besonders beliebt, nicht nur weil sie eine geschiedene Frau war.

|35|„Sie ist männerfeindlich, und ihre Zunge hat keinen Knochen“, sagte Baba.

Anne war da anderer Meinung: „Ihre Familienangelegenheiten gehen uns nichts an. Allah allein entscheidet über Gut und Böse. Wir dürfen sie nicht verurteilen!“

Und manchmal flüsterte Anne: „Birsen sagt nicht immer Unrechtes.“

Aber die Männer waren sich einig: Wenn Birsen eine anständige Frau gewesen wäre, hätte sie ihren Mann nicht zum Teufel gejagt. Birsen war eine Hure!

Wenn Baba nicht zu Hause war, sagte Anne oft: „Ich bewundere den Mut dieser Frau!“

 

Tante Birsen zeigte mir wieder mal ein Foto von ihrem Sohn Volkan.

„Schau Nilgün, das ist mein jüngster Sohn. Ist er nicht wunderschön? Gefällt er dir?“ Ich zuckte nur mit den Schultern.

Volkan war hässlich! Er hatte natürlich nur wenig Farben auf dem Kopf und sah aus wie ein Türke. Diese Frau machte mich jedes Mal wütend, und am liebsten hätte ich sie an ihren schwarzen, fettigen Haaren gezogen.

„Nein! Er gefällt mir überhaupt nicht“, schrie ich Tante Birsen an. „Und außerdem würde ich nie einen Türken heiraten. Erst recht nicht so einen hässlichen wie deinen Sohn. Und geschieden bist du auch noch!“

Anne schnappte mich am Arm, schüttelte mich, dass es weh tat, und schrie mich an: „Schämst du dich nicht, so mit Tante Birsen zu sprechen? Los, entschuldige dich sofort bei ihr!“

„Ich werde mich nicht entschuldigen und schon gar nicht bei einer Hure!“

|36|Mein Geschrei wurde wieder mal mit einer Ohrfeige beendet. Die Ohrfeigen von Anne waren zum Glück nicht ganz so schlimm wie die von Baba. Es brannte immer nur kurz auf der Wange und es klingelte nicht so lange in den Ohren. Ich verschwand gleich im Kleiderschrank, drückte mir die Kleider an die Ohren und weinte.

Baba mochte Birsen doch auch nicht, und er sagte schließlich immer, sie sei geschieden und deshalb sei sie eine Schlampe. Ich hasste diese Frau.

Ich hörte, wie Anne sich bei ihr entschuldigte und sich vor allen Leuten darüber beklagte, was für ein unmögliches und unerzogenes Kind ich sei, und dass es an der Zeit wäre, so schnell wie möglich in die Heimat zurückzukehren. Schließlich wäre ich doch nur so rebellisch, weil ich die deutschen Kinder nachahmen würde.

„Hier kann man ja sein eigenes Kind nicht erziehen wie man will. In Deutschland ist es verboten, seine Kinder zu schlagen! Da muss man Angst haben, dass die Polizei kommt und einem das Kind wegnimmt“, sagte Anne.

„Schläge kommen aus dem Paradies, das steht sogar im Koran“, sagte Tante Serife.

„Wer seine Tochter nicht schlägt, der wird eines Tages großes Leid erfahren!“, sagte Anne.

Die dicke Fatma bestätigte den Spruch „Wer seine Tochter nicht schlägt, der wird eines Tages großes Leid erfahren“, und alle seufzten.

Plötzlich tat es einen Schlag. Birsen Teyze fing an, ganz laut zu sprechen: „Redet doch nicht so einen Schwachsinn“, schrie sie. „Von wegen, wer seine Tochter nicht schlägt, wird eines Tages großes Leid erfahren! In welchem Koran soll das stehen? Hat jemals eine von euch den Koran wirklich gelesen?“

|37|Großes Schweigen. Keine der Frauen gab eine Antwort. Die dicke Fatma sagte nur, ihre Großmutter habe diesen Spruch auch schon immer benutzt. Doch bevor sie ihren Satz beendet hatte, wurde sie von Birsen unterbrochen.

„Unsere Großmütter hätten uns lieber Märchen erzählen sollen und nicht solch einen Mist!“

Leise kletterte ich aus dem Kleiderschrank, um Tante Birsens Worte besser verstehen zu können.

„Darunter haben wir jahrelang gelitten, ihr leidet sogar immer noch und erzählt diesen Unsinn doch tatsächlich euren Töchtern weiter! Wann wollt ihr endlich aufwachen? Ihr werdet nach wie vor geschlagen und bringt euren Töchtern bei, dass das richtig ist!? So etwas Dummes steht weder im Koran noch im Gesetz. Das sind Sprüche von Macho-Männern, die sich gern hinter der Religion verstecken, wenn es um die Unterdrückung der Frauen geht.“

Diesmal unterbrach meine Anne Birsens wütende Rede und versuchte, sie zur Vernunft zu bringen. Sie solle Allah nicht beleidigen. Aber Birsen ließ sich nicht beruhigen. Im Gegenteil, sie wurde noch lauter.

„Ja, Allah! Immer wenn es für euch eng wird, müssen Allah oder der Koran herhalten.“

Birsen Teyze sagte, dass sie den Koran und die Bibel gelesen habe, und es seien beides Gottesbücher, die mit Frieden und Liebe erfüllt seien.

Daraufhin wurde die dicke Fatma böse und drohte Birsen mit der ewigen Hölle, wenn sie es wagen würde, den Koran mit der Bibel zu vergleichen.

Birsen Teyze erhob ihre Hände zu Allah. „Verbrennen soll er mich und meine Kinder, wenn ich ein falsches Wort gesagt habe. Alle Gottesbücher sind erfüllt mit Liebe, Erbarmen und Frieden. Religionen sind Wege, die zu Gott führen. Aber |38|wichtig ist nicht der Weg, sondern das Ziel. Gott ist für alle Menschen wichtig. Nehmt euren Kindern nicht das Wichtigste im Leben weg, indem ihr Allah als Werkzeug für eure Zwecke einsetzt!“

Ich verstand nicht so ganz, was Birsen sagte, und ich glaube, die anderen Frauen im Wohnzimmer auch nicht. Trotzdem wurden alle still und nachdenklich.

Plötzlich sagte Birsen Teyze noch: „Außerdem hat mich die Kleine nicht beleidigt. Sie hat nur die Worte eurer Männer auf der Zunge gehabt.“

Ich traute meinen Ohren nicht. Birsen Teyze verteidigte mich, obwohl ich sie beleidigt hatte.

Sie stand auf und ging zur Tür.

„Benutzt die Religion nicht als Werkzeug und lasst es nicht zu, dass eure Männer das Gleiche mit euch tun.“

Birsen Teyze sah mir direkt in die Augen und lächelte mich an. Ich fühlte mich ertappt und verschwand gleich hinter der Schlafzimmertür.

„Die ist doch nur frustriert, weil sie keinen Mann hat“, sagte Fatma.

„Sie ist gottlos!“, meinte eine andere Frau.

„Aber sie hat angeblich den Koran und die Bibel gelesen“, gab Annem zu bedenken.

Auch wenn ich nicht alles verstanden hatte, blieben viele von Birsens Worten in meinen Ohren hängen.

Aber durfte man solche Gedanken haben? War Allah nicht böse mit mir? Und war Allah derselbe wie Gott, und ging es im Koran wirklich um Liebe und Frieden wie in der Bibel auch?