Sei stolz auf deinen Namen

Eigentlich durfte ich die Wohnung nicht verlassen,bevor Mine aus der Schule nach Hause kam, aber es war Sommer und das Wassereis vom Bäcker ging mir nicht aus dem Kopf! Ich hielt die nötigen 30 Pfennig bereits in der Hand und kämpfte noch mit meinem Gewissen und meiner Angst. Wahrscheinlich musste ich sogar nicht einmal lügen, weil Anne mich nicht immer danach fragte, ob ich das Haus verlassen hätte oder nicht. Ich wollte meine Anne nicht anlügen, weil das Günah war, und außerdem hatte ich in letzter Zeit ziemlich viel angestellt. Aber ich beruhigte mich damit, dass ich mir vorstellte, Allah könne sich doch nicht den ganzen Tag für mich interessieren. Ich würde so schnell rennen, dass es Allah gar nicht mitbekäme.

Bäcker Hägele war nicht weit weg von uns und ich durfte |48|ja auch ab und zu ganz alleine Brot kaufen gehen. Aber nur wenn Mine, Anne oder Baba zu Hause waren. Meine Anne würde das ja überhaupt nicht merken, dachte ich, und machte mich auf den Weg. Ich rannte, so schnell ich konnte, und kam endlich beim Bäcker an.

„Drei Wassereis mit Apfel bitte.“

Die mit Apfelgeschmack waren die besten! Mine kaufte sich immer die mit Cola-Geschmack und Helene liebte Erdbeere.

„Heute kein Mischbrot?“, fragte mich die Verkäuferin. Ich schüttelte nur den Kopf und machte mich rasch auf den Heimweg. Unterwegs schlürfte ich schon ein Eis und sah von weitem, wie Tekir am Fenster auf mich wartete. Ich rannte die Treppen hoch. Da kam plötzlich eine fremde Frau auf mich zu. Ich blieb stehen und starrte sie an. Sie hatte schöne blaue Augen und blonde, ganz kurze Haare. Ich hatte noch nie eine Frau gesehen, die so kurze Haare hatte. Meine Großmutter sagte immer: „Eine Frau braucht lange Haare und ein Mann seine Ehre.“ Und trotzdem sah diese Frau wunderschön aus.

Sie blieb vor mir stehen und lächelte mich an.

„Na, wo kommst du denn her? Und wie heißt du?“, fragte sie mich und beugte sich ganz tief zu mir runter.

Ich versuchte, ohne etwas zu sagen an ihr vorbeizukommen. Aber der Flur war so eng, dass ich keine Chance hatte. Also blieb ich stehen und lächelte sie nur an.

„Kannst du kein Deutsch? Bist du alleine zu Hause?“

Meine Knie fingen an zu zittern und ich war den Tränen nah, aber auf keinen Fall durfte ich weinen. Das ist die Frau, die mich mitnehmen will, dachte ich. Oh Allah, bitte bestrafe mich anders. Ich will nicht bei einer deutschen Familie leben und schon gar nicht ohne meine Anne und ohne Tekir.

|49|„Natürlich kann ich Deutsch! Und ich bin auch nicht alleine zu Hause. Meine Mama ist Brot kaufen und kommt in fünf Minuten wieder zurück!“

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und machte wieder einen Schritt zur Türe. Ich stand so nah bei dieser Frau, dass ich sogar ihr Parfüm riechen konnte. Jetzt sah ich, dass sie blaue Wimpern hatte und ganz glänzende Lippen.

„Wie heißt du denn, wie ist dein Name?“

Ich überlegte kurz, richtete mich ganz stolz auf und sagte: „Ich heiße Helene. Helene Schäufele und mein Vater ist ein wichtiger Mann bei der Stadt!“

„Du hast aber einen schönen Namen. Ich heiße Elke und arbeite auf dem Jugendamt“, sagte die Frau und ging einen Schritt zurück. Ich wusste es, die wollte mich mitnehmen und danach meine Familie in die Türkei schicken, und mich hätte sie sicher zu einer deutschen Familie gebracht. Meine Angst wurde immer größer und ich wollte so schnell wie möglich in die Wohnung hinein.

„Meine Mama kommt sicher gleich, und wenn sie sieht, dass ich mit fremden Menschen spreche, kriege ich Ärger“, sagte ich und wagte mich in Richtung Wohnungstür.

Die Frau strich mir übers Haar und sagte: „Helene, du hast wirklich einen hübschen Namen und sag deiner Mama liebe Grüße von mir, sie soll dich das nächste Mal nicht alleine lassen.“ Ich nickte eifrig, grinste und schloss die Tür schnell hinter mir zu. Ich kletterte in den Kleiderschrank, und außer meinem Herzklopfen war nichts mehr zu hören.

Irgendwann kam meine Schwester nach Hause und ich traute mich aus dem Kleiderschrank heraus. Ich erzählte ihr alles, und Mine schimpfte natürlich mit mir. Aber sie versprach, es Anne und Baba nicht zu erzählen.

Am Abend konnte sie natürlich ihre Klappe doch nicht |50|halten und petzte alles. Anne hatte keine Angst, dass die Frau wiederkommen und mich mitnehmen würde, sie wurde nur furchtbar böse, dass ich nicht meinen richtigen Namen gesagt hatte.

„Sei stolz auf deinen Namen und darauf, dass du eine Tochter Atatürks bist und keinen deutschen Namen hast. Jeder türkische Name hat eine Bedeutung. Du bist eine Türkin, vergiss das nie!“, schrie sie mich an. Ja, wie hatte ich das nur vergessen können ...