|57|Das Beschneidungsfest

Es herrschte große Aufregung bei uns. Onkel Mehmets Sohn sollte beschnitten werden. Onkel Mehmet war der ältere Bruder meiner Anne und sehr stolz auf seine zwei Söhne. Er und seine Familie lebten in der Schweiz. Seine Frau, Tante Zeynep, sagte immer: „Mehmet, du vergisst ständig, dass du auch eine Tochter hast!“ Yasemin war drei Monate jünger als ich, und immer wenn wir in der Schweiz waren, durfte ich bei ihr im Bett schlafen.

Wir erzählten uns dann die verrücktesten Geschichten.

Aytunc und Tuncay hatte ich auch sehr lieb, aber Yasemin war wie meine Schwester. Onkel Mehmet arbeitete hart, aber Tante Zeynep musste zu Hause bleiben und auf die Kinder aufpassen. Onkel Mehmet sagte: „Ich brauche das Geld einer Frau nicht. Eine Frau gehört zu ihren Kindern und soll immer für ihren Mann da sein!“

Das hätte ich auch gern gehabt, den ganzen Tag mit meiner Anne zusammen sein zu dürfen! Aber das war bei uns nicht möglich. Baba verdiente nicht genug, und außerdem wollten Anne und Baba ja so schnell wie möglich wieder in die Türkei zurückkehren. Daher mussten beide viel arbeiten.

Eine Beschneidung ist ein ganz wichtiges Fest und eine Pflicht für jeden Muslim. Das stehe sogar im Koran, sagte Anne. Man feiert mit allen Freunden und Verwandten. Die Mütter sind immer ganz aufgeregt, die Väter unglaublich stolz auf ihre Söhne.

Mine und ich bekamen neue Kleider, Baba einen Anzug, und Anne nähte sich ein wunderschönes Kleid aus rotem Samt.

|58|Onkel Mehmet und seine Familie wohnten in Schaffhausen in einem großen Hochhaus.

Aytunc, das jüngste der drei Kinder, war mit seinen vier Jahren auf dem Weg, ein richtiger Mann zu werden. Wenn ein Junge beschnitten wird, beweist er seine Tapferkeit und ist somit ein Mann.

Wir mussten zwei Tage vorher da sein, damit wir bei den Vorbereitungen helfen konnten. Als wir ankamen, hatte Onkel Mehmet das Lamm schon geschlachtet und war gerade dabei, es zu zerlegen.

Meine Tante putzte die Fenster und die Kinder waren dabei, ihre Schuhe auf Hochglanz zu bringen. Aytunc saß auf dem Sofa, sah fern und ließ sich von seiner Schwester Yasemin bedienen. Wasser, Chips, Schokolade, immer wieder fiel ihm etwas ein, was er haben wollte. Yasemin verdrehte nur die Augen und verschwand jedes Mal in der Küche. Aytunc benahm sich plötzlich ganz anders als sonst. Er spielte nicht mit uns und nützte jede Gelegenheit, seine Schwester zu schlagen, und obwohl Yasemin fast sechs Jahre alt war, wie ich auch, durfte sie ihren Bruder nicht zurückschlagen. Niemand schimpfte mit ihm, da er bald sein großes Fest hatte.

Yasemin wirkte sehr traurig und erzählte mir am Abend, wie gemein sie das alles fand. Mir schien das Ganze auch ziemlich übertrieben, aber das war halt so. Eigentlich wussten wir beide nicht so richtig, worum es bei der Beschneidung ging. Ich hatte in der Türkei mal gesehen, wie das gemacht wurde, und fand es ehrlich gesagt nicht sehr aufregend. Das bisschen, was da weggeschnitten wurde, war es wirklich nicht wert, so einen Aufstand zu machen. Zumal die Jungs sich nicht gerade tapfer benahmen. Und trotzdem wurden sie immer reich beschenkt mit Geld, Gold und jeder Menge Spielsachen.

|59|Am Abend vor dem großen Fest saßen wir alle bei Tisch. Es gab ein großes Festmahl.

Mein Onkel stand auf, erhob sein Glas Raki und sagte ganz stolz: „Mein Jüngster wird jetzt auch ein Mann. Ich bin sehr stolz auf ihn und natürlich auch auf meinen anderen Sohn. Allah sei Dank, Allah schütze und segne uns alle!“

Alle schauten Aytunc an und sagten: „Amin“. Nur Yasemin nicht. Ich legte meinen Arm um ihre Schultern und gab ihr einen dicken Kuss. Eine Frage beschäftigte mich schon lange. Es wird ein Fest gefeiert, wenn Jungs beschnitten werden. Warum gibt es kein Fest für Mädchen? Wann werden aus Mädchen Frauen?

„Onkel Mehmet“, rief ich von meinem Platz aus. „Wann werden aus Mädchen Frauen, und warum wird für uns kein Fest gemacht?“

Alle lachten und schauten sich an. Meine Frage blieb unbeantwortet. Als ich nochmals Anlauf nahm und weiter nachhaken wollte, flüsterte meine Tante mir ins Ohr: „Wenn du deine Tage bekommst, wirst du eine Frau sein, aber das dauert noch eine Weile.“ Dabei lächelte sie mich etwas beschämt an.

Das war gelogen! Ich stand auf, zeigte auf meine Schwester und sagte: „Das ist eine Lüge! Das stimmt doch überhaupt nicht. Mine ist eine Frau geworden und hat schon mal geblutet und ihr habt kein Fest gefeiert! Immer werden die Jungs gefeiert und die bekommen auch noch Geschenke ...“

Mein Vater, der mir gegenübersaß, beendete meinen lauten Protest mit einer saftigen und sehr schmerzhaften Ohrfeige. Alle wurden ganz still. Auch ich konnte nichts mehr sagen und spürte nur noch ein Brennen im Gesicht und einen unangenehmen Pfeifton im Ohr. Aber die Scham |60|war noch größer als der Schmerz. Weinend rannte ich in Yasemins Zimmer und verkroch mich unter der Bettdecke.

Ich wusste nicht mal, warum ich die Ohrfeige bekommen hatte. Was hatte ich gesagt? Es war doch die Wahrheit. Mine wurde nicht gefeiert und bekam auch keine Geschenke. Im Gegenteil, wir durften es nicht mal meinem Baba sagen.

Ich wollte einfach nur sterben, einfach nur weg sein. Wie konnte mein Baba mich vor den anderen nur so bloßstellen! Das würde ich ihm nie verzeihen! Wir bekamen oft den Hintern versohlt und nicht selten eine Ohrfeige, aber vor anderen geschlagen zu werden, war das Schlimmste. Das hatte mich zutiefst verletzt. Ich fühlte mich schrecklich. Yasemin kam leise ins Zimmer und nahm mich in den Arm. Sie weinte auch, und trotzdem versuchte sie mich zu trösten.

„Sei nicht traurig Nilgün, die sind doch alle dumm. Die mit ihren blöden Söhnen. Sei froh, dass du keinen Bruder hast“, sagte sie schluchzend und drückte mich noch mehr an sich.

Das Beschneidungsfest wurde in einer großen Turnhalle mit über fünfhundert Gästen gefeiert. Es gab viel zu essen und zu trinken. Alle tanzten und Aytunc bekam Berge von Geschenken, Gold und Geld. Yasemin und ich durften nicht mal neben Aytunc sitzen, weil er seine Freunde neben sich haben wollte. Er wurde von allen Menschen geküsst und bewundert. Es stimmte, immer wurden nur Männer gefeiert, und das alles wegen so einem kleinen Zipfel!