Sei stolz, eine Türkin zu sein!

Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz als Kind gehört habe. „Stolz“ ist glaube ich das wichtigste Wort bei uns Türken. „Wer keinen Stolz mehr hat, kann sich gleich begraben lassen“, sagte mein Vater immer.

Meine vier Jahre ältere Schwester Mine ging inzwischen bereits in die Schule. Ich war erst fünf und noch zu jung für die Schule. Weil ich nicht katholisch war, wurde ich auch nicht in den Kindergarten aufgenommen. Aber da wollte ich sowieso nicht hin. Meine Anne und ich gingen manchmal zum Bäcker und kamen auf unserem Weg an diesem Kindergarten vorbei. Über der Eingangstür hing ein großes Kreuz aus Holz. Darauf war ein Mann mit einem Dornenkranz auf dem Kopf, und in seinen Händen und Füßen steckten Nägel. Das sah ganz schrecklich aus.

|10|Anne beruhigte mich und erklärte: „Das ist der Prophet Isa. Du musst keine Angst haben. Er war ein guter Prophet und wurde von Allah vor Mohammed auf die Erde geschickt. Die Menschen wollten nicht an ihn glauben und bestraften ihn mit dem Tod!“

Wir gingen auch mal in den Kindergarten hinein, um uns vorzustellen,aber eine „Muselmanin“ wollten die Nonnen dort nicht aufnehmen. Ich freute mich darüber, da es mir zu Hause alleine mit Tekir, unserem türkischen Kater, viel besser gefiel.

Wir wohnten immer noch in dem Mehrfamilienhaus, das uns bei unserer Ankunft zugewiesen worden war, und waren ganz stolz auf unsere Zweizimmerwohnung mitten in der Stadt. Die meisten türkischen Familien hatten viel kleinere Wohnungen als wir. Das Einzige, was wir uns sehnlichst wünschten, war ein Fernseher. Baba hatte uns zwar versprochen, so bald wie möglich einen zu kaufen, aber leider konnten wir uns noch keinen leisten.

Onkel Ali, der Freund von unserem Baba, hatte für seinen Fernseher nichts bezahlt. Onkel Ali besaß ganz viele Dinge, die wir nicht hatten, und er fuhr mehrmals im Jahr mit seinem Ford Taunus in die Türkei. Onkel Ali war ein guter Geschäftsmann und Anne war von seinen Geschichten immer ganz begeistert.

Baba sagte: „Ali ist eine Müllratte und hat überhaupt keinen Stolz. Er ist ein Eşoleşek!“

„Na und? Er versteht sein Geschäft und wird sicher in ein paar Jahren für immer in die Heimat zurückkehren, wovon wir nur träumen können“, antwortete Anne und vergoss dabei jedes Mal ein paar Tränen.

 

Wir hatten viele Freunde und bekamen oft Besuch. Manchmal kamen so viele, dass die Frauen im Schlafzimmer auf |11|dem Bett saßen und die Männer im Wohnzimmer auf dem Boden.

Meistens war es lustig und traurig zugleich, und immer ging es um die Heimat. Allerdings gefiel das unseren deutschen Nachbarn nicht. Die bekamen nämlich nie Besuch.

Ali Amca sagte immer: „Die Deutschen sind anders als wir. Sie haben keine Freunde und unterhalten sich nur kurz auf der Straße.“

Es war in der Tat so, wie Ali Amca es beschrieb. Die Deutschen bekamen nie Besuch, aber sie redeten dafür beim Bäcker und im Supermarkt sehr lange mit den Verkäuferinnen oder unterhielten sich mit ihren Nachbarn auf der Straße.

Anne sagte: „Jedes Land hat seine eigenen Sitten, deshalb sind wir Türken anders und werden es auch immer bleiben!“

Wir sahen unsere Nachbarn morgens, wenn sie zur Arbeit gingen, und abends, wenn sie wieder zurückkamen. Manchmal wurde es bei uns sehr laut, wenn viele Freunde da waren. Dann klopften die Nachbarn von oben auf den Fußboden oder sie klingelten und baten um mehr Ruhe. Meine Anne ging dann gleich in die Küche, holte einen Teller mit Gebäck, drückte ihn dem Nachbarn in die Hand und entschuldigte sich. Danach stellten alle fest, dass es die Deutschen mit uns auch wirklich nicht immer einfach hätten. Wir wären eben anders, viel gastfreundlicher und warmherziger als die Deutschen. Dabei lächelten sich alle zufrieden und stolz an.

Unsere Eltern verließen das Haus morgens sehr früh, um zur Arbeit zu gehen. Meine Schwester wurde jeden Morgen von unserer Kuckucksuhr geweckt und kam trotzdem immer zu spät in die Schule. Ihre Lehrerin schickte ihr sogar mal einen Brief nach Hause. Aber den zerriss Mine gleich. Ich blieb mit unserem Kater Tekir alleine, bis Mine mittags zurückkam. |12|Das durfte niemand wissen, da mich sonst das Jugendamt geholt hätte.

„Die Deutschen kennen da keine Gnade, Nilgün! Du darfst eigentlich nicht alleine zu Hause bleiben. Die nehmen dich einfach mit, und du musst bei einer deutschen Familie leben, und wir würden uns nie wieder sehen“, sagte Anne jeden Morgen, bevor sie aus dem Haus ging.

Ich durfte das Haus ohne Mine nicht verlassen, aber ich durfte aus dem Fenster schauen. Und für den Fall, dass mich jemand fragen würde, wo meine Anne ist, hatte ich eine überzeugende Antwort auswendig gelernt:

„Meine Mama ist Brot kaufen gegangen. Ich darf nicht mit Fremden sprechen, und sie kommt in fünf Minuten zurück!“ Eigentlich war ich ja auch nie alleine. Unser Kater Tekir war immer bei mir.

Tekir war auch „Türke“ und verstand kein deutsch, wie unsere Eltern. Meine Anne sagte immer: „Tekir ist ein Stück Heimat, und eines Tages wird er mit uns für immer zurückkehren!“ Dabei glänzten Tränen in ihren Augen.

Tekir und ich saßen stundenlang am Fenster, und ich kann mich nicht erinnern, dass es mir irgendwann einmal langweilig geworden wäre, denn es gab immer etwas zu sehen und zu entdecken.

In unserer Straße lebten natürlich auch andere Kinder. Die meisten von ihnen waren schon in der Schule, so wie meine Schwester Mine.

Paola und Giuseppe gingen in die gleiche Schule. Mine und ich waren fast jeden Tag mit den beiden zusammen. Obwohl unsere Eltern kein Italienisch und kein Deutsch sprachen und die Eltern von Paola und Giuseppe auch nur italienisch konnten, mochten sie sich sehr. Sie konnten sich sogar, jeder in seiner Sprache, verständigen. „Menschen müssen |13|nicht die gleiche Sprache sprechen, um sich zu mögen“, sagte Anne.

Von unserem Wohnzimmerfenster aus konnten wir zu Familie Schäufele sehen. Das waren ganz feine Menschen, und sie hatten als Einzige in der Straße ein großes Haus, das sie ganz alleine bewohnten. Sie hatten nur eine Tochter. Ihr Name war Helene.

Helene spielte immer alleine und ab und zu schaute sie aus dem Fenster und lächelte mich an. Ich hatte noch nie mit ihr gesprochen oder mit ihr gespielt. Ich wusste nur, dass sie Helene hieß. Helene durfte nicht mit uns spielen. Ihr Papa wollte das nicht. Ich wusste nicht, was er dagegen hatte, aber vielleicht lag es auch daran, dass sie erst vor kurzem in unsere Straße gezogen waren und uns nicht kannten. Mein Baba mochte Herrn Schäufele gar nicht. „Der meint, er sei was Besseres, weil er Beamter ist und auf dem Rathaus arbeitet, dieser Eşoleşek!“, schimpfte er jedes Mal, wenn es um Herrn Schäufele ging. Ich mochte Herrn Schäufele sehr. Ich war mir sicher, dass er ein wichtiger Mann sein musste. Herr Schäufele trug jeden Tag einen Anzug und eine Krawatte. Er ging jeden Morgen um die gleiche Zeit aus dem Haus und kam auch immer um die gleiche Zeit zurück.

Helene saß bei schönem Wetter auf den Stufen vor ihrer Haustüre und spielte mit ihren Barbiepuppen. Sie sah aus wie eine Prinzessin mit ihren rosa Kleidern und den dazu passenden Schuhen. Sogar ihre Strümpfe und Haarschleifen waren in den Farben auf ihre Kleider abgestimmt.

Helene hatte Haare wie Gold, Augen wie das Marmarameer und eine wunderschöne helle Haut. Meine Schwester war auch ungewöhnlich hellhäutig, weil die Vorfahren meiner Anne vom Schwarzen Meer stammen. Die Menschen dort sind bekannt für ihre helle Haut und ihre blauen Augen.

|14|Meine Anne war ganz anders als die übrigen türkischen Frauen. Annem hatte eine helle Haut, dunkle Augen und sie trug kein Kopftuch wie die meisten türkischen Frauen. Sie hatte Haare, die aussahen wie Milchkaffee, und wenn wir auf eine Hochzeit gingen, schminkte sie sich sogar. Meine Anne war eine sehr schöne Frau und meine Großmutter hatte sie Adalet genannt. Das heißt Gerechtigkeit. Als meine Anne auf die Welt kam, wurde mein Großvater gerade aus dem Gefängnis entlassen. Deshalb hatte sie den Namen „Gerechtigkeit“ bekommen.

Der Name meines Babas war Hasan, aber was das heißt, weiß ich leider nicht. Er war nicht schön. Er hatte schwarze Haare, schwarze Augen und eine dunkle Haut.

Ich hatte auch wenig Farben auf dem Kopf. Meine Augen und meine Haare waren schwarz, und ich sah mit meiner dunklen Haut aus wie die meisten türkischen Kinder. Aber ich war schöner als mein Baba. Baba nannte mich immer „Kara Kızım“, meine schwarze Tochter. Mine nannte er „Pamuk Kızım“, meine Watte-Tochter.

Allah sei gnädig, aber Mine war alles andere als ein luftiges Watteflöckchen. Sie war dick, groß und hatte mit ihren neun Jahren schon richtige Brüste.

„Bald werden sie an unserer Tür klopfen und um deine Hand anhalten, wenn du weiterhin so wächst!“, sagte Anne zu Mine und war immer ganz stolz auf ihre „Watte-Tochter“.

Ich dagegen wurde neben Mine meistens übersehen. Ich war für mein Alter zu klein, hatte schwarze Locken und von Brüsten konnte ich nur träumen.

Aber da war ich nicht die Einzige. Meine Freundin Helene hatte auch noch keine Brüste und war nur wenig größer als ich.

Paola, Giuseppe und Mine konnten Helene nicht leiden. |15|„Die sieht aus wie eine Puppe und ist genauso dumm wie ihre Eltern“, sagte Mine immer, wenn sie an Helene vorbeilief. Helene tat dann so, als ob sie Mine nicht hören würde, und spielte weiter mit ihren Puppen.

Mine war manchmal sehr ungerecht und blöd, aber ich musste auf sie hören.

Ich hatte zwar noch nie mit Helene gesprochen, aber sie war trotzdem meine Freundin.

 

Onkel Ali war wieder mal bei uns und erzählte ausführlich, was er für großartige Sachen vom Sperrmüll mit in die Türkei genommen und dort für viel Geld verkauft hatte. Er leerte alle Altkleidertonnen bei uns im Ort, und seine Familie in Ostanatolien flickte die Kleider wieder zusammen. Danach verkaufte Onkel Ali alles auf dem Bazar.

„Du verstehst dein Geschäft Bruder Ali, wir sind zu dumm, um so etwas zu machen. Wir haben ja noch nicht mal einen Fernseher“, jammerte Anne und warf Baba einen bösen Blick zu. Baba verdrehte wie immer die Augen, streckte die Arme Richtung Allah und sagte: „Schick mir Geduld, mein gnädiger und großer Allah!“ Danach schlürfte er seinen Tee weiter.

Onkel Ali war an den Armen und im Gesicht schwarz behaart wie ein Affe. Seine Familie wohnte in der Türkei, und seine Frau war so dick wie die Kuh meiner Großmutter. Onkel Ali zeigte uns oft Fotos von seinen beiden Töchtern und sagte dann immer: „Ich hoffe, meine Mädchen heiraten bald einen reichen Mann, damit ich nicht mehr so hart arbeiten muss.“ Dabei schaute er nach oben und schenkte Allah ein Grinsen.

„Möge Allah euch bald zusammenbringen, Bruder Ali, und ich hoffe, dass es nicht mehr lange dauert, bis wir alle |16|wieder in unsere Heimat zurückgehen können!“, sagte meine Anne traurig.

„Inşallah“, seufzte Onkel Ali.

 

Wir spielten gerade Verstecken, als Herr Schäufele von der Arbeit nach Hause kam. Immer sah ich ihn an und hoffte, dass er mich nur ein einziges Mal bemerken würde. Manchmal tat ich so, als würde ich niesen, oder ich hustete laut. Aber alles war umsonst. Herr Schäufele nahm mich nicht wahr. Er hatte immer viele Akten unter dem Arm und lief zielstrebig auf sein Haus zu.

Seine Frau stand jeden Tag zur gleichen Zeit am Fenster und wenn sie ihren Mann kommen sah, stellte sie sich in die Eingangstür und begrüßte ihn ganz höflich mit einem Nicken.

Als Herr Schäufele wieder einmal mit schnellen Schritten auf dem Heimweg war, stolperte er plötzlich, schrie und fiel mitsamt seinen Akten auf den Boden. Mine, Paola und ich standen da und keiner traute sich auch nur ein Wort zu sagen. Aber dann stürzte ich los, sammelte die umherliegenden Akten ein, nahm die Tasche von Herrn Schäufele, legte sie unter seinen Kopf und rannte weg. Ich klingelte bei Frau Schäufele und rief gleichzeitig um Hilfe. Sie sah aus dem Fenster, und als sie ihren Mann auf der Straße liegen sah, eilte sie weinend heraus.

Frau Schäufele hockte nur da und tat gar nichts, außer dass sie ganz schlimm weinte. Wir hatten zu Hause ein rotes Kästchen, in dem Pflaster, Verband und eine Telefonnummer war, die wir in Notfällen anrufen sollten. Ich war zwar erst fünfeinhalb, konnte aber trotzdem lesen.

Ich schnappte den Kasten und klopfte bei unserer Nachbarin, da sie die Einzige im Haus war, die ein Telefon besaß. |17|Ich erzählte ihr, was passiert war, und sie rief sofort einen Krankenwagen. Dann rannte ich wieder zu Herrn Schäufele, der immer noch wie tot auf dem Boden lag. Ich gab seiner Frau den Verbandskasten und hoffte, dass sie endlich etwas unternehmen würde. Sie sah mich nur an und weinte weiter. Kurz darauf hörten wir die Sirene vom Krankenwagen.

Zwei dicke Männer stiegen aus, legten Herrn Schäufele auf eine Liege und setzten ihm eine Maske auf den Mund.

„Wollen Sie mitkommen?“, fragte der eine Mann, während er die Liege in den Wagen schob. Frau Schäufele schüttelte nur den Kopf und legte ihren Arm um Helene.

Frau Schäufele stützte sich auch auf meine Schulter, während sie zum Haus zurückging, und zum ersten Mal durfte ich ein deutsches Haus betreten.

Die Treppen waren bedeckt mit einem blauen Teppich. Der Boden war so weich wie unser Bett. An der Wand hingen getrocknete Blumen und wunderschöne Bilder von Bergen und grünen Wiesen.

Helene und ihre Mama schluchzten ganz fürchterlich.

„Ihr müsst nicht weinen. Dein Papa ist nicht tot, und er wird bald wieder nach Hause kommen!“ Ich versuchte, die beiden zu trösten.

Frau Schäufele nahm meine Hand und stammelte: „Aber was sollen wir denn jetzt tun?“

„Sie müssen zu Ihrem Mann in die Klinik gehen. Das hat meine Anne auch gemacht, als Baba einen Unfall hatte.“

„Und was ist mit Helene?“

Ich richtete mich auf und sagte: „Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bleibe bei Helene und wir warten, bis Sie wieder zurückkommen.“

Frau Schäufele nahm ihre Handtasche, zog ihre grüne Strickjacke an und verließ immer noch weinend das Haus. |18|Ich nahm Helene an der Hand und wir gingen ins Wohnzimmer. Ich war glücklich und sehr stolz auf mich!

Das war die Chance, endlich bei Helene zu sein und dieses schöne Haus von innen zu sehen. Ich wollte alle Räume anschauen, bevor Helenes Eltern wieder zurückkamen. Ich lief durch das Haus und konnte es kaum fassen. Ich dachte, wenn unser Haus so groß und so schön wäre, hätten wir sicher all unsere Verwandten aus Istanbul und Ostanatolien zu uns eingeladen. Dann wäre meine Anne bestimmt nicht so oft traurig und hätte auch kein Heimweh mehr.

Im Wohnzimmer standen außer einem großen Schrank eine braune Couch und ein großer Tisch aus Holz. Schäufeles hatten natürlich auch einen Fernseher und einen großen schwarzen Sessel, der davor stand.

„Da dürfen wir nicht sitzen, der Sessel gehört meinem Papa“, sagte Helene ganz leise und nahm mich an der Hand.

„Wie? Dein Papa hat einen eigenen Sessel? Und du? Hast du auch einen eigenen Sessel?“

„Ja, komm, ich zeig dir mein Zimmer“, sagte Helene. Sie hatte ein eigenes Zimmer, ganz für sich alleine! Mein Herz schlug bis zum Hals und ich war sehr aufgeregt. Es war ein Prinzessinnenzimmer. Auf ihrem kleinen Bett saßen ganz viele Puppen und Stofftiere. Der Tisch und ihr Stuhl waren rosa und an den Wänden hingen Poster von Tierbabys.

„Mit dieser Puppenstube hat schon meine Mama gespielt, aber ich darf sie nur anschauen. Erst wenn ich groß bin, darf ich damit spielen“, sagte Helene und nahm die weiße Tülldecke ab. Noch nie in meinem Leben hatte ich etwas so Schönes gesehen.

Kleine Schränkchen, Stühle, Tische, einen Schaukelstuhl, eine Badewanne und sogar einen Küchenherd gab es in der Puppenstube.

|19|Ich wollte unbedingt und sofort damit spielen und dieses kleine Stühlchen nur ein Mal in der Hand halten!

„Helene, deine Eltern sind doch gar nicht da, lass uns damit spielen!“ Ich versuchte, Helene zu überreden, aber sie wollte nicht.

„Nein, ich zeige dir etwas viel Schöneres, komm, Bosporus.“

„Warum nennst du mich so? Ich heiße nicht Bosporus, ich heiße Nilgün!“

„Mein Papa sagt das immer, und ich dachte, das wäre dein Name.“ Helene sah beschämt auf den Boden.

Dachte Herr Schäufele wirklich, dass alle Türken Bosporus hießen?

Wir umarmten uns, und meine Freundin Helene drückte mich ganz fest an sich.

In diesem Haus gab es unendlich viele Zimmer. Ich wusste nicht gleich, in was für einem Zimmer wir jetzt waren, bis ich den Herd entdeckte. Der ganze Raum war voll mit Schränken und Regalen. Wir hatten in unserer Küche nur einen alten Schrank, und meine Anne stellte die Töpfe unter das Waschbecken. Schäufeles hatten auch in der Küche Stühle, die aussahen, als hätte man sie zusammengeklebt und um die Ecke gestellt. Helene sagte, das sei eine Eckbank. Das hatte ich auch noch nie gesehen.

„Wie viele Zimmer habt ihr eigentlich, verirrst du dich hier nicht?“

„Nein, so viele sind es nicht. Ohne Speisekammer sind es drei Zimmer und die Küche.“

Ich kam aus dem Staunen gar nicht mehr raus. Die Familie Schäufele hatten eine Kammer, die so groß war wie die Küche und voller Lebensmittel. Wir hatten kein extra Zimmer für unsere Lebensmittel, und wir aßen im Wohnzimmer auf |20|dem Boden, von einem großen Tablett, das uns meine Großmutter geschenkt hatte.

Plötzlich klingelte es an der Tür, und wir rannten beide zum Fenster. Mine stand wütend draußen und schrie mich auf Türkisch an. Ich solle sofort nach Hause kommen, Anne würde bald da sein. Aber ich streckte ihr nur die Zunge raus. Ich wollte unbedingt noch einen letzten Blick auf die Puppenstube werfen. Ich genoss jeden Schritt auf diesem blauen, weichen Teppich.

Leider wurde meine Besichtigung kurze Zeit später von Helenes Eltern unterbrochen. Herr Schäufele durfte das Krankenhaus schon wieder verlassen, weil er nur einen Schwächeanfall gehabt hatte, aber seine Frau weinte immer noch.

„Jetzt hör endlich auf zu weinen. Das ist doch nichts Schlimmes!“, schimpfte Herr Schäufele und legte seine Hand auf die Schulter seiner Frau.

Danach holte er tief Luft, schaute mich an, und ich bekam wie üblich Angst.

Herr Schäufele bedankte sich bei mir und versprach, dass ich ab und zu Helene besuchen dürfe. „Aber nicht zu oft!“, sagte er mit erhobenem Zeigefinger.

„Ja, danke, Herr Schäufele, das mache ich sehr gerne“, antwortete ich ganz leise und verabschiedete mich von allen.

Ich hätte laut losschreien können vor Freude. Das war der Durchbruch! Ich war die Einzige, die Schäufeles Haus je von innen gesehen hatte. Ich war so stolz auf mich und wollte es unbedingt meiner Anne erzählen.

Als ich nach Hause kam, stand Anne bereits in der Küche und kochte.

„Anne, stell dir vor, was heute passiert ist. Ich habe Herrn Schäufele das Leben gerettet, und ich darf jetzt Helene besuchen, wann immer ich will!“

|21|Anne schien gar nicht hinzuhören, und sie freute sich auch nicht darüber.

„Nilgün, du hast deiner Schwester nicht gehorcht, das darf nicht wieder vorkommen! Wer seinen älteren Geschwistern keinen Gehorsam leistet, der wird in der Hölle schmoren. Das ist Günah!“ Anne war wütend und jetzt schrie sie sogar: „Willst du in der Hölle schmoren? Willst du das?“

Nein, Allah bewahre! Das wollte ich natürlich nicht.

„Allah sagt doch immer, dass man anderen Menschen helfen soll. Genau das habe ich heute getan! Anne, ich habe endlich eine deutsche Freundin!“

Aber das interessierte meine Anne überhaupt nicht, und sie drückte mir die Teller in die Hand.

„Versuch nicht, wie die Deutschen zu sein. Du bist eine Türkin. Sei stolz darauf. Wir sind anders als die Deutschen!“

Anne war böse auf mich, und ich verstand nicht, was ich falsch gemacht hatte.

Das Tablett war fertig gedeckt und wir warteten hungrig auf Baba. Anne war immer noch wütend, und Mine grinste schadenfroh vor sich hin.

Endlich kam Baba zur Tür rein, sagte nur „Merhaba“ und fing gleich an zu essen.

Beim Essen durften wir nicht miteinander reden, da es Günah war und ein Missachten der Mahlzeit. Aber auch wenn jemand gesprochen hätte, man hätte es nicht gehört, denn mein Baba schlürfte und schmatzte immer sehr laut.

Während des Essens fiel mir auf, wie dreckig Baba aussah. Seine Kleider waren schmutzig und verknittert. Ich dachte mir, kein Wunder, dass Herr Schäufele meinen Baba nicht einmal anschaut, wenn der auch so unordentlich herumläuft! Unter seiner Jacke trug Baba im Winter immer einen dicken Pulli und an wärmeren Tagen ein T-Shirt, aber nie eine Krawatte |22|oder einen Anzug. Nicht einmal sonntags trug Baba eine Krawatte. Nur wenn wir mal auf einer Hochzeit waren, zog er ein weißes Hemd und eine schwarze Hose an. Dabei hätte es mir so gut gefallen, wenn mein Baba auch mal eine Krawatte getragen hätte.

„Baba,warum trägst du nie eine Krawatte? Das sieht doch viel schöner aus!“

Baba fing an zu lachen, schüttelte den Kopf und klopfte mir auf die Schulter: „Auf dem Müllwagen eine Krawatte? Soll ich mich zum Idioten machen? Ich muss schon lachen, wenn ich diesem Eşoleşek jeden Morgen begegne.“

Er meinte natürlich Herrn Schäufele. Das konnte ich nicht hinnehmen und knallte meinen Suppenlöffel auf das Tablett. Dann schrie ich: „Herr Schäufele ist kein Idiot. Du bist nur eifersüchtig auf ihn! Schau dich doch mal an, du siehst aus wie die Bettler in Istanbul!“

Ich kann mich weder an eine Antwort noch an seine Reaktion erinnern. Als ich meine Augen wieder öffnete, spürte ich ein schreckliches Brennen auf der Wange und ein Klopfen im Ohr. Anne und Mine saßen neben mir. Sogar Tekir starrte mich böse an.

„Nilgün, geht es dir gut? Soll ich dich zum Arzt bringen? Hörst du mich?“

„Ja, ich ... ich höre dich. Wo ist Baba? Hat er mich geschlagen?“

„Du hast mehr verdient als nur eine Ohrfeige.

Schämen solltest du dich. In der Hölle wirst du schmoren!“, schrie Anne und fing an zu weinen. Ich musste auch weinen und schämte mich sehr. Diesmal würde Allah mir nicht verzeihen, denn schließlich hatte ich zweimal an diesem Tag gesündigt. Die Angst vor der Hölle und vor Allah ließ meinen ganzen Körper zittern. Ich fing an, mit Gott zu |23|sprechen. Er war der Einzige, der mir in diesem Fall helfen konnte. Gott war gnädiger als Allah, und Gott hatte keine Hölle. Gott musste mir dieses eine Mal noch helfen. Ich betete ganz lange und irgendwann schlief ich weinend mit meinem Teddy ein. Am nächsten Morgen war ich trotzdem glücklich und sehr stolz auf mich. Endlich hatte ich eine deutsche Freundin!

Anne kam aus der Küche und setzte sich neben mich.

„Wer lügt, sich gegen seine Eltern stellt oder Schweinefleisch isst, wird von Allah schwer bestraft, Nilgün. Das ist Günah! Denk an die Brücke zwischen Paradies und Hölle. Die Brücke ist so scharf wie eine Klinge und so dünn wie ein Haar. Nur wer keine Sünden hat, wird es schaffen, ins Paradies zu kommen. Und wenn du so weitermachst, wirst du sicher die Schicksalsbrücke zwischen Paradies und Hölle nicht überqueren können und runterfallen in das Flammenmeer!“

Ich fing wieder an zu weinen. Ich hatte das nicht böse gemeint, und ich wollte auch über die Schicksalsbrücke laufen, um ins Paradies zu kommen. Ich wollte nicht verbrennen.

Anne nahm mich kurz in ihre Arme und ging dann zur Arbeit. Ich verkroch mich vor Angst unter die Decke. Zum Glück war Tekir noch da.

Ich musste versuchen, alles wieder gutzumachen. Ich rollte den Gebetsteppich von Baba aus und fing an zu beten. Aber nicht zu Allah! Von dem wollte ich erst mal nichts wissen. Ich betete zu Gott, dem Allmächtigen. Gott war gut, und Gott hatte kein Flammenmeer und keine Hölle. Auch wenn ich keine Deutsche bin, wusste ich, dass Gott mich liebte und mir helfen würde. Das hatte Helene mir gerade gestern erst erzählt. Helene ging mit ihren Eltern jeden Sonntag in die |24|Kirche und betete zu Gott. Wenn Helene mal sündigte, dann musste sie es nur bereuen und in der Kirche dem Pfarrer erzählen. Der telefonierte mit Gott und alles wurde wieder gut.

Bei Allah war das anders. Als ich meine Anne mal nach der Telefonnummer von Allah gefragt hatte, fiel sie fast um vor Schreck.

„Allah ist überall! Hör auf, so zu reden. Das ist Günah!“, schrie sie entsetzt.

Vor Allah hatte ich große Angst. Gott war mein Freund, und ich wusste, dass die beiden sich kannten, und Gott würde mich vor Allah beschützen.

„Lieber Gott, bitte hör mir zu, auch wenn ich eine Türkin bin. Ich habe ganz viel gesündigt, und Allah hat es natürlich gesehen und wird sich das alles aufschreiben, und ich werde in der Hölle schmoren. Ich weiß, dass die Brücke mich nicht tragen wird, weil ich so viel gesündigt habe. Allah liebt mich nicht mehr, und mein Baba liebt mich auch nicht mehr. Ich habe niemanden mehr auf dieser Welt. Aber sterben will ich auch nicht, weil ich nicht weiß, ob du mich bei dir aufnimmst. Nach so vielen Sünden kann ich mich bei Allah nicht mehr blicken lassen. Bitte, bitte, lieber Gott, sprich mit Allah und sag ihm, dass es mir sehr Leid tut und dass ich so was Schlimmes nie wieder machen werde. Bitte, lieber Gott, mach, dass ich wieder von Allah geliebt werde und dass er mir verzeiht! Ich danke dir, lieber Gott!“

Wochenlang sprach ich nicht mit Allah, ich wusste ja, dass er böse auf mich war.