Alle Väter sind gleich

Meine Freundin Helene und ich saßen nach der Schule auf der Steintreppe vor ihrem Haus. Ich knabberte an meinen Kürbiskernen und Helene spielte mit ihrer Puppe. Ab und zu sah Frau Schäufele aus dem Fenster und vergewisserte sich, dass Helene noch da war. Helene war wieder sehr traurig und sprach fast gar nichts mit mir. Vielleicht kam sie auch nicht zu Wort, weil ich immer so viel redete.

Ich erzählte Helene über meine Anne, über Alaca, Istanbul, über den Bazar und die vielen schönen Sachen, die uns meine Anne im Urlaub kaufen wollte. Während ich erzählte, bekam ich Hunger auf Döner, Simit und all die leckeren Sachen, die es nur in der Türkei gab.

Frau Mayer hatte Helene in der Hausaufgabenhilfe schon mehrmals gefragt, was mit ihr los sei, und ob sie traurig wäre. Helene hatte nur mit den Schultern gezuckt und nicht geantwortet. Unsere Lehrerin hatte sogar Helenes Eltern in die Schule gebeten, um mit ihnen darüber zu sprechen.

Plötzlich fing Helene an zu weinen. Ich legte meinen Arm um Helene und versuchte, sie zu trösten. Nach einer Weile wischte sie sich die Tränen vom Gesicht und fragte: „Hat dich dein Papa lieb?“

|134|O je!, dachte ich. Woher sollte ich das denn wissen? Anne hatte uns sehr lieb und war nach der Arbeit immer für uns da. Sie erzählte uns Geschichten, streichelte uns in den Schlaf und sagte immer, dass sie ohne uns keinen Tag leben könnte. Aber Baba? Hatte uns unser Baba lieb?

Je mehr ich darüber nachdachte, umso trauriger wurde ich. Ich wusste gar nicht, was ich antworten sollte. Baba sagte immer: „Mine ist mein rechtes Auge und Nilgün mein linkes“, aber er behandelte weder Ablam wie sein rechtes Auge, noch mich wie sein linkes. Babam hatte auch noch nie gesagt, dass er uns lieb hatte. Wir sahen unseren Baba nicht so oft, und wenn er zu Hause war, schlief er meistens auf dem Sofa. An den Wochenenden war er im Café oder wir waren zu Besuch bei Freunden. Aber eigentlich musste doch jeder Baba sein Kind lieb haben. Sonst wäre er doch nicht Vater geworden, dachte ich.

Als ich mal wegen Ohrenschmerzen im Krankenhaus lag, hatte mein Baba nachts nicht schlafen können, weil er sich Sorgen um mich gemacht hatte. Das hatte meine Anne mir erzählt.

„Ja, ich glaube mein Papa hat uns schon lieb. Jeder Papa hat sein Kind lieb, sonst wäre er doch kein Papa geworden“, sagte ich und hoffte, dass Helene endlich aufhören würde zu weinen. Aber sie weinte noch mehr als vorher. Ich stand auf, weil ich dachte, es sei besser zu gehen, aber da hielt Helene meine Hand fest und fragte mich, ob sich meine Eltern auch oft streiten würden.

Jetzt musste ich aufpassen, was ich sagte, weil wir mit niemandem darüber sprechen sollten. Nicht mal die Freundinnen von Anne durften davon erfahren, weil das nicht gerade etwas war, worauf man stolz sein konnte, sagte Annem immer.

|135|„Ja, manchmal, aber nicht so oft, nur ab und zu“, sagte ich.

Da erzählte Helene, dass ihre Eltern sich immer stritten, und dass ihr Papa sie und ihre Mama oft verprügelte. Helene fing wieder an zu weinen.

„Das glaube ich nicht!“, fuhr ich auf.

„Deutsche Männer schlagen ihre Frauen nicht!“ Helene nickte nur und fing wieder an zu weinen. Sagte sie mir die Wahrheit? Aber das konnte doch gar nicht sein, deutsche Männer waren doch viel lieber als türkische und außerdem trug Herr Schäufele immer einen Anzug und eine Krawatte. Er war doch ein wichtiger Mann im Büro. So einer prügelte doch nicht seine Frau und seine Tochter!

„Meine Mama will sich scheiden lassen, aber der Pfarrer hat es ihr verboten“, erzählte Helene. Die Großeltern wollten Helene und ihre Mama zu sich holen. Ihre Großeltern wohnten aber weit weg, in einem schwarzen Wald, oder so ähnlich.

Die Kirche wollte nicht, dass sich Mann und Frau trennten, weil sie Gott versprochen hatten, bis in den Tod zusammenzubleiben.

Einmal hatte Herr Schäufele seine Frau und Helene in den Keller gesperrt. Nur weil ihre Mama zu viel telefoniert hatte. Ich bekam immer mehr Angst und wollte nach Hause.

Zum Glück hatten wir kein Telefon, aber wir hatten ja auch keinen Keller. Ich glaube, Baba hätte uns nie eingesperrt.

Ich war so enttäuscht und traurig über all das, was mir Helene erzählt hatte. Ich verabschiedete mich von ihr und rannte nach Hause. Ich konnte das alles einfach nicht glauben! Mein Baba lag noch im Bett und schlief. Ich zog seine Bettdecke vorsichtig weg, um ihn aufzuwecken.

|136|„Nilgün, ne oldu, was ist passiert?“, fragte er erschrocken.

„Es ist nichts passiert. Baba, hast du mich lieb?“

„Eşoleşek, deshalb weckst du mich auf?“

Baba zog die Decke über den Kopf und schlief weiter.

Ich setzte mich ans Fenster und sah, dass Helene immer noch auf den Stufen saß. Meine arme Freundin Helene, wie konnte ich ihr nur helfen? Vielleicht sollte ich einfach mit Gott sprechen und ihm sagen, dass er die Erlaubnis für die Scheidung geben sollte. Aber da müsste ich ja zum Pfarrer gehen, nur er konnte die Erlaubnis für die Scheidung geben, denn er war ja der Einzige, der wirklich Kontakt zu Gott hatte.

Am Abend erzählte ich alles meiner Anne.

Ich wollte Helene und ihrer Mama unbedingt helfen.

„Kızım, wer soll uns denn helfen? Uns geht es doch auch nicht besser“, sagte Annem.

Sie erzählte, dass eine Scheidung nach dem Koran nur dann erlaubt sei, wenn der Mann nicht für die Frau sorgen würde. Aber das Schlimmste an einer Scheidung war, dass die Ehre einer Frau damit einen schwarzen Fleck bekam. Eine geschiedene Frau würde man in der Gesellschaft nicht akzeptieren, und ihre Kinder müssten auch darunter leiden. Wie bei Birsen Teyze.

Deshalb konnte sich Annem also nicht von Baba scheiden lassen. Sie wollte unsere Ehre damit schützen! Meine Anne musste wegen uns leiden. Sie tat das alles nur wegen meiner Schwester und mir. Tot wollte ich sein, einfach nicht da sein, dann hätte meine Anne keinen Grund mehr, bei meinem Baba zu bleiben, und sie müsste nicht leiden. Alle Väter waren gleich. Eigentlich sollte es nur Mütter geben, dachte ich, traute mich jedoch nicht, mit Allah und mit Gott darüber zu reden. Schließlich wollten beide nicht, dass sich Mütter von ihren Männern trennen.

|137|Am nächsten Morgen begegnete ich Herrn Schäufele. Ich drehte gleich meinen Kopf auf die Seite und machte einen großen Bogen um ihn.

„Na, ist es noch zu früh zum Grüßen oder was?“, rief er hinter mir her.

Ich gab ihm keine Antwort und meine Beine liefen ganz schnell weiter.

 

Ein paar Tage später erzählte Helene, dass sie mit ihrer Mama zu ihren Großeltern ziehen würde. Ihre Großmutter hätte sie dort schon in der Schule angemeldet. Helene war sehr glücklich darüber, weil ihre Großeltern einen Bauernhof und einen Traktor hatten. Sie könnte dann immer mit ihrem Opa mitfahren. Herr Schäufele durfte es aber noch nicht wissen, sonst hätte er die beiden nicht gehen lassen. Helene und ihre Mama wollten heimlich ausziehen, wenn Herr Schäufele bei der Arbeit war. Und irgendwann, wenn ihr Papa lieb wäre, dürfte er sie besuchen.

Mit wem würde ich denn nun mein Pausenbrot teilen, und wer würde mit mir morgens in die Schule laufen? Yalcin hatte ich nicht mitnehmen dürfen, und nun zog auch noch meine beste Freundin weg. Ich war sehr traurig.

Am nächsten Tag verließ Herr Schäufele wie immer um die gleiche Uhrzeit das Haus, und schon kurze Zeit später stand ein großer Lastwagen vor der Tür. Ganz viele Männer trugen Möbel heraus und Helene stand bei ihren Großeltern. Frau Schäufele wischte sich immer wieder die Tränen aus den Augen. Sie war sehr unglücklich. Meine Anne fragte sie, ob wir ihr helfen könnten, aber Frau Schäufele umarmte meine Anne nur ganz fest und beide fingen an zu weinen. Ich stand neben meiner Helene und hielt ihre Hand.

Helene war gar nicht traurig. Ich glaube, so lustig hatte |138|ich meine beste Freundin noch nie gesehen. Jetzt war es so weit, ihre Großeltern saßen bereits im Auto und ihre Mama verabschiedete sich von mir mit einem Kuss auf die Wange. Helene und ich umarmten uns ganz fest. Dann fuhr der Lastwagen weg. Ich stand da und mein Herz klopfte.

Meine Helene war weg. Einfach weg. Jetzt hatte ich überhaupt keine beste Freundin mehr.

„Irgendwann wird es Hasan genauso gehen, wenn er so weitermacht“, sagte Annem und zog ihre Augenbrauen zu einem dicken Strich zusammen.

„Hadi Kızım, du musst dich beeilen, sonst kommst du zu spät in die Schule.“

Aber ich konnte an diesem Tag nicht in die Schule gehen. Ich war so niedergeschlagen, dass ich sogar spucken musste. Ich durfte mit Tekir daheim bleiben. Mein Kater und ich saßen am Fenster und ich sah auf die Steintreppe, wo Helene und ich immer gesessen hatten. Eigentlich hätte es auf der ganzen Welt nur Mamas geben dürfen. Dann wäre das Leben viel schöner.

Zum Glück würde ich mal eine Mama sein und kein Papa. Yalcin würde unser Kind nie schlagen und wir würden den ganzen Tag draußen spielen!