|7|Zwei Jahre Deutschland

1968 stand in den türkischen Zeitungen, dass in Süddeutschland Gastarbeiter gesucht werden. Mein Vater, der als Schreiner auf der Werft in Istanbul arbeitete, bewarb sich, ohne meine Mutter zu fragen, und bekam nach einer gründlichen Untersuchung sofort die Zusage für eine Einreisegenehmigung. Ein Freund, der sich mit ihm beworben hatte, wurde wegen seiner schwarzen Zähne abgelehnt. Man musste kerngesund sein, um eine Einreisegenehmigung nach Deutschland zu erhalten.

Meine Mutter war von der Idee, nach Deutschland zu gehen, gar nicht begeistert.

„Wir wissen nicht mal, wie man Deutschland schreibt, wie sollen wir da klarkommen?“, fragte sie und wollte nicht von Istanbul weg.

Meine Eltern wohnten damals in einer kleinen Zweizimmerwohnung mitten in der Stadt. Meine Schwester war vier Jahre alt und ich gerade mal sechs Monate.

„Wir waren arm, aber glücklich. Wir hatten türkische Erde unter den Füßen“, sagte meine Mutter später immer.

Baba versprach Annem, höchstens zwei Jahre in Deutschland zu bleiben. Nur, bis wir genügend Geld für ein eigenes Haus gespart hätten.

So machten wir unsere erste große Reise mit dem Zug. Die Beamten am Zoll in Deutschland müssen sehr nett gewesen sein. Sie lachten, weil bei den meisten Türken im Reisepass als Geburtsdatum der 1. Januar eingetragen war. Viele Türken wurden, wie meine Babaanne, erst Jahre später registriert, und die meisten Eltern wussten dann nicht mehr, wann ihre Kinder geboren waren. Also gab man entweder |8|den 1. Januar oder den 15. August an. Bei meinem Baba stand der 15. August und bei meiner Anne der 1. Januar im Pass.

Wir wurden mit noch fünfzehn weiteren Türken am Bahnhof in Stuttgart von zwei Männern in Empfang genommen, die ein Schild mit der Aufschrift „Karl Kübler“ hoch hielten. Das war der Name der Firma, in der mein Baba arbeiten sollte. Einer der Männer war ein Landsmann von uns, der von den Neuankömmlingen wie ein Heiliger verehrt wurde, denn alle waren erleichtert zu sehen, dass es in Deutschland bereits Türken gab, und froh darüber, dass sie von jemandem abgeholt wurden, der sie verstand.

„Ich werde Bruder Mustafa nie vergessen, denn er war ein Stück Heimat in der Fremde“, sagte meine Anne später noch oft mit Tränen in den Augen.

Wir wurden in einem Mehrfamilienhaus untergebracht und bekamen eine Zweizimmerwohnung, die bereits eingerichtet war.

Die ersten Wochen und Monate müssen eine ganz schlimme Zeit für unsere Eltern gewesen sein. Mein Vater hatte einen Teil seines ersten Gehalts im Voraus bekommen, aber er wusste nicht einmal, wo man etwas zu essen einkaufen konnte.

Jahrelang konnten meine Schwester und ich nicht genug von den Geschichten aus dieser Anfangszeit bekommen. Meine Lieblingsgeschichte war die vom ersten Einkauf meiner Eltern:

Sie zeigten auf alles mit dem Finger und sprachen türkisch. Meine Mutter zeigte auf Bananen. „Muz“, sagte sie auf Türkisch und die Verkäuferin antwortete: „Banane?“

„Banane“ heißt auf Türkisch „mir egal“.

Meine Mutter zeigte erneut auf die Bananen und die Verkäuferin sagte wieder: „Banane“.

|9|Meine Eltern fühlten sich beleidigt und liefen einfach weiter.

Viele Geschichten, die uns Anne von früher erzählte, waren schön und lustig. Aber wenn wir lachten, sagte sie immer: „Heute lachen wir darüber, damals haben wir geweint.“

In einer Sache waren sich alle türkischen Gastarbeiter einig: Sie wollten auf jeden Fall nur zwei Jahre in Deutschland bleiben. Nur so lange, bis sie sich ein eigenes Haus leisten konnten, wie unsere Eltern auch.

Wenn man unseren Eltern damals gesagt hätte, dass die geplanten zwei Jahre irgendwann zu zwanzig Jahren werden würden, wäre meine Anne wahrscheinlich sofort umgekehrt.