|122|Eine Brücke zwischen Deutschland und Babaanne

Deutschland roch nach Brezeln, gegrillter Wurst und Parfum, die Türkei nach Zimt, Knoblauch und Fladenbrot. Und ich hätte am liebsten alles gehabt!

Eine Brücke zwischen Deutschland und meiner Babaanne wäre so schön gewesen. Aber dafür war Deutschland viel zu weit weg.

Babam stand mit Ali Amca im Flughafen. Als Mine ihn sah, rannte sie gleich zu ihm und fiel ihm um den Hals. Ich versteckte mich hinter meiner Anne.

„Gel, Kızım, komm, hast du deinen Baba vergessen?“

Er streckte seine Arme aus, aber meine Beine wollten nicht. Ich blieb stehen und sah ihn an. Eigentlich wusste ich immer noch nicht, ob das alles jetzt gut war oder nicht. Vielleicht würde ich ja aufwachen und alles war nur ein Traum gewesen? Vielleicht würde mein Freund Yalcin gleich an unserem Fenster klopfen und dann würden wir Amseln für das Mittagessen fangen.

„Hadi, Kızım, geh zu deinem Baba. Los, geh schon“, sagte Anne und schubste mich in die Arme von Baba. Er drückte mich so fest an sich, dass ich fast keine Luft bekam.

„Allahım,mein eigenes Kind kennt mich nicht mehr“, sagte Baba und drückte mir seine Nase in den Nacken. „Oh, ihr riecht nach Heimat“, sagte er und sah mich immer wieder an.

Baba hatte ein anderes Auto gekauft, das er nach dem Urlaub auch nicht gleich wieder verkaufen musste. Es war ein wunderschöner roter Ford Granada und er sah fast so aus, wie das Brautauto bei Mahmut Ağas Hochzeit. Am Rückspiegel hing ein großer Maşallah-Anhänger als Schutz vor dem |123|bösen Blick. Auf der Ablage saß eine Barbiepuppe in einem gehäkelten roten Kleidchen, und neben der Puppe war ein brauner Hund, der ständig mit dem Kopf wackelte.

„Anne, wo ist Tekir?“, wollte ich wissen.

„Oh, meine Tochter hat ihre Zunge doch nicht in Alaca vergessen“, scherzte Babam.

„Wo soll Tekir schon sein, Yavrum? Er wartet auf euch.“

Auf meinen Kater freute ich mich am meisten.

Ali Amca unterhielt sich mit Mine, und wenn er mich etwas fragte, gab ich ihm keine Antwort.

„Ali Amca, Nilgün ist böse auf dich, weil du uns nach Alaca gebracht hast“, sagte Mine.

Ali Amca gab keine Antwort. Er sah aus dem Fenster und stieß einen langen Seufzer aus.

Ali Amca sah mir in die Augen, und seine Mundwinkel fielen dabei fast auf den Boden herab. Er hatte feuchte Augen, dann drehte er seinen Kopf wieder weg.

Anne erzählte uns, wie traurig Ali Amca gewesen war, als er wieder in Deutschland ankam, nachdem er uns bei Babaanne abgeliefert hatte. Er hatte unseren Eltern sogar geraten, uns sofort wieder zurückzuholen. Aber Anne und Baba hatten das Geld für unsere Flugtickets nicht.

Vielleicht war Ali Amca doch nicht so böse, wie ich gedacht hatte, und vielleicht hatte ihm das wirklich sehr leid getan.

Baba parkte an der Straße vor unserem Haus.

Bei Helene war kein Licht zu sehen, es war ja auch mitten in der Nacht.

„Anne, ist Helene noch da?“

„Aber ja, Kızım, wo soll sie denn sonst sein?“

Ich ging gleich ins Wohnzimmer und mein Kater mit den weißen Schühchen lag faul auf dem Sofa und streckte sich.

|124|„Tekir, hast du mich vermisst oder hast du mich vergessen?“

Tekir sah genauso schön aus und roch auch genauso wie früher.

„Hast du mich vergessen?“

Tekir drehte sich um und schlief einfach weiter.

„Allahım, mein Kater kennt mich nicht mehr!“, sagte ich traurig, und alle lachten.

Unsere Wohnung hatte sich verändert. Es gab ein neues Sofa und einen Esstisch mit vier Stühlen. Anne und Baba hatten sich auch ein großes Bett gekauft, und für Ablam und mich stand ein Stockbett im Schlafzimmer.

„Anne, unsere Wohnung ist ja noch schöner als früher“, sagte Mine.

„Das stimmt, aber bald gehen wir für immer zurück in die Heimat“, sagte Annem.

„Dann brauche ich ja gar nicht mehr hier in die Schule gehen“, strahlte Mine.

Aber das war natürlich nicht möglich. Wenn in Deutschland die Kinder nicht in die Schule gehen, kommt gleich die Polizei und die Eltern müssen eine Strafe zahlen.

Ja, wir waren wieder in Deutschland und ich war wieder bei meiner Anne, bei Tekir und all den schönen Sachen.

„Habt ihr Hunger, Çocuklar? Ali und ich haben für euch gekocht. Es gibt Bohneneintopf mit Pilav“, sagte Baba ganz stolz.

„Baba, haben wir Brezeln da? Ich will Brezeln essen“, sagte Mine.

„Au ja! Ich auch, Baba!“, rief ich.

Aber der Bäcker hatte nachts nicht geöffnet wie in Alaca. Da war unsere Backstube bis Mitternacht auf und an Ramadan sogar die ganze Nacht.

|125|Aber die Bohnen und der Reis von Baba und Ali Amca waren auch sehr lecker.

Draußen war es schon fast hell, als wir ins Bett gingen. Ablam und ich durften unsere neuen Stockbetten ausprobieren. Das war das erste Mal, dass wir in einem richtigen Bett schliefen. Ich wollte oben liegen, weil ich unter meiner Abla Angst hatte. Die war doch so dick, womöglich wäre sie nachts auf mich gestürzt.

Als wir wieder aufwachten, standen die Brezeln bereits auf dem Tisch.

Es waren die besten Brezeln, die wir je gegessen hatten. In Alaca gab es keine Brezeln. Babaanne backte immer Maisbrot, oder es gab Dürüm. Deutsche Brezeln hatten wir sehr vermisst.

Beim Frühstück erzählten Ablam und ich alles, was wir erlebt hatten.

„Babaanne hat beim Abschied sogar geweint, obwohl sie nicht immer nett zu uns war“, erzählte Mine. Da bekam auch Baba ganz feuchte Augen.

„Anne, sind Paula und Giuseppe noch da?“

„Evet, Kızım, alle sind noch da und freuen sich auf meine zwei hübschen Töchter!“

Gleich nach dem Frühstück malte ich ein Bild für meinen Yalcin und ein Bild für meine Babaanne. Yalcin hatte sicher in seinem ganzen Leben noch nie einen Brief bekommen. Er konnte ja auch nicht lesen. Umso mehr würde er sich über ein Bild freuen. Ich malte das Haus von Babaanne, Yalcin und mich und den roten Ball mit den weißen Punkten. Anne hatte mir versprochen, dass ich Yalcin bei unserem nächsten Besuch in Alaca den Ball schenken durfte. Babaanne malte ich ein Bild mit einer Sonne, einem Haus und einem Stück Kandiszucker. Ich malte auch noch Brezeln und ein Stockbett, |126|und dann machte ich eine Brücke zwischen den Sachen in Alaca und denen in Deutschland.

Wie schön wäre es gewesen, wenn es wirklich eine Brücke zwischen Alaca und Deutschland gegeben hätte!

„Allahım, ich weiß, du kannst alles machen, aber kannst du auch so eine Brücke bauen? Wenn du das für mich machen würdest, würde ich Tag und Nacht beten. Das verspreche ich dir!“

 

Anne nahm uns gleich am nächsten Tag mit zur Arbeit. Sie wollte uns unbedingt ihrem Chef vorstellen, der ihr das Geld für uns gegeben hatte und Baba eine Arbeit in der Nachtschicht besorgt hatte.

Wir zogen unsere schönsten Kleider an, und Anne war ganz stolz auf uns. Sie klopfte an die Tür seines Büros und wir durften eintreten.

Der Mann sah lustig aus. Er hatte einen dickeren Bauch als mein Baba und ganz wenig Haare auf dem Kopf.

„Na? Euch beide hätte ich auch vermisst. Kein Wunder, dass eure Mutter so traurig war“, sagte er freundlich und beugte sich zu uns herunter.

„Ich bin Werner Boehringer und wie heißt du?“ „Mine, und das ist meine kleine Schwester Nilgün.“

„Na, Mine kann ich mir noch merken, aber mit deinem Namen wird es schwierig“, sagte er.

Wir bedankten uns für alles und schenkten Werner eine Schachtel Pralinen aus der Türkei.

 

Einige Tage später ging Mine wieder in ihre alte Klasse. Die Lehrerin nahm sie sogar in die Arme vor lauter Freude.

Annem verließ das Haus jetzt immer erst dann, wenn Baba von der Arbeit nach Hause kam.

|127|Ich blieb mit Tekir zu Hause und musste leise sein, weil mein Baba die ganze Nacht arbeitete und tagsüber schlief. Aber bald durfte ich ja in die Schule gehen, wie meine Abla.

Tekir war alt geworden und lag den ganzen Tag faul auf dem Teppich. Es war sehr langweilig in Deutschland. Ich dachte oft an meinen Freund Yalcin, an meine Babaanne, an die Hochzeit von Mahmut Ağas Sohn und an die Spiele mit meinem Yalcin. Ich vermisste Alaca, obwohl ich auch froh war, wieder bei meiner Anne zu sein. Wir wollten sowieso bald für immer zurückgehen, und Alaca war ja nicht so weit von Istanbul entfernt wie von Deutschland. Dann würde ich meinen Freund und Babaanne ganz oft besuchen.

 

Giuseppe und Paola waren sehr aufgeregt, als sie uns das erste Mal wiedersahen. Sie freuten sich so sehr, dass sie Ablam und mir sogar Geschenke machten. Meine Freundin Helene war leider bei unserer Ankunft nicht da. Sie war mit ihren Eltern nach Italien gefahren und kam erst nach ein paar Tagen zurück.

Sogar der deutsche Metzger hatte mich vermisst und gab mir eine ganz dicke, fette Scheibe Schweinewurst!

Die Freunde von Anne und Baba kamen, um uns zu begrüßen, und alle brachten irgendwelche Geschenke mit. Es war fast so schön wie an Bayram.

Nachdem wir uns schon wieder ein bisschen eingelebt hatten, kam Helene aus den Ferien zurück, und ich rannte hinunter, um sie zu begrüßen. Wir standen uns gegenüber und lachten. Helene nahm meine Hand und drückte sie ganz fest. Ihre Mama begrüßte mich auch, aber Herr Schäufele schüttelte nur den Kopf und räumte die Koffer aus seinem Auto.

Manchmal saß ich am Fenster und hatte Angst, dass meine |128|Anne nicht mehr von der Arbeit zurückkommen würde, dass ihr vielleicht etwas passieren könnte.

Ich wachte auch oft nachts weinend auf, weil ich schlimme Träume hatte. Meine Anne brachte mich sogar mit Birsen Teyze zum Arzt. Tante Birsen konnte gut deutsch sprechen und übersetzte alles, was der Arzt sagte.

Ich hätte Verlustängste und müsste mich erst wieder an die neue Situation gewöhnen, erklärte er. Der Arzt war sehr nett und gab mir Traubenzucker. Aber Traubenzucker schmeckte wie süßes Mehl. Da war mir der braune Kandiszucker von Babaanne viel lieber.