|5|MEINE GROSSMUTTER KONNTE NICHT LESEN, aber sie nahm immer wieder eines ihrer Bücher in die Hand und blätterte es Seite für Seite durch. Es waren die Bücher meines Großvaters, die meine Babaanne in einer Holztruhe sorgfältig aufbewahrte.

„Kinder, in jedem Buch stecken nicht nur Geschichten, sondern auch Menschen. Menschen, die uns an der Hand nehmen und durch das Leben begleiten. Menschen, die wir ins Herz schließen, die wir lieben, hassen oder die wir uns zum Vorbild nehmen. Menschen, von denen wir viel lernen können.“

Meine Schwester fragte dann immer: „Babaanne, du kannst doch gar nicht lesen, warum blätterst du das Buch durch?“

„Allah sei gnädig, mein Kind, man hat mir das Lesen nie beigebracht. Aber ein Buch erinnert mich an die Geschichten, die mir unser Vater immer vorgelesen hat. Bücher werden von Menschen geschrieben, die viel Tinte geleckt haben. Wenn ich die Buchstaben berühre, dann habe ich das Gefühl, als würde ich auf Reisen gehen“, sagte sie und wiegte sich dabei hin und her wie eine Zypresse im Wind.

Babaanne hatte ihr Dorf in Anatolien noch nie verlassen und sie war auch nirgendwo gemeldet. Eigentlich gab es meine Babaanne gar nicht, bis mein Vater auf die Welt kam. Erst mit seiner Geburt wurde auch sie registriert.

„Wenn ihr groß seid und in einer großen Stadt lebt, müsst ihr dort unbedingt in die Schule gehen, damit ihr so klug werdet, wie es einst mein Vater war. Nur Menschen, die in ihrem Leben Tinte geleckt haben, sind kluge Menschen“, sagte Babaanne zu meiner Schwester und zu mir.

Mein Urgroßvater war ein belesener Mann, der leider sehr früh starb. Er hinterließ meiner Urgroßmutter und den |6|neun Kindern viel Land und das Haus. Meine Großmutter war mit nur neun Jahren die Älteste. Sie musste ihrer Mutter helfen und konnte keine Schule besuchen. Aber von meiner Babaanne erzähle ich Ihnen später mehr, wenn ich Ihnen von der Zeit berichten werde, die meine Schwester Mine und ich bei ihr in Anatolien verbrachten.

 

Ich hoffe, dass Sie die kleine Nilgün ein Stück auf ihrem Weg ins Leben begleiten werden. Zu Beginn ihrer Erzählungen ist sie fünf Jahre alt und wird Sie an den Erfahrungen und Erlebnissen ihrer Kindheit in einer schwäbischen Kleinstadt und bei der Großmutter in der Türkei teilhaben lassen.

Als ich über meine Kindheit zu schreiben begann, hatte ich das Gefühl, diese Zeit noch einmal zu erleben. So waren auch die Worte auf meiner Zunge die eines kleinen Mädchens. Doch am Ende der Erinnerungen wird Nilgün zu einer Erkenntnis kommen, die sie glücklich und erwachsen macht.