Eine Muselmanin im Kindergarten

Anne kam immer kurz nach Helenes Papa von der Arbeit nach Hause. An diesem einen Tag war es anders.

Mine und ich hatten ein Nutella-Brot gegessen und wollten gerade zum Spielen nach draußen gehen, da stand Anne plötzlich strahlend vor uns. Sie nahm mich auf den Arm und sagte: „So, Nilgün, ab morgen musst du nicht mehr alleine zu Hause bleiben. Wir haben endlich einen Kindergartenplatz für dich!“

Ich freute mich sehr darüber, dass Anne früher von der Arbeit nach Hause kam, aber die Nachricht von dem Kindergartenplatz fand ich nicht so schön. Ich wollte nie in einen Kindergarten, und ich war ja auch gar nicht allein. Mir gefiel es mit Tekir zu Hause sehr gut. Anne nahm uns an der Hand und wir gingen gemeinsam einkaufen. Ich bekam rote Hausschuhe, eine kleine Tasche mit einem Marienkäfer drauf und einen rosa Schlafanzug. Mine durfte sich ein neues Mäppchen und eine Regenjacke aussuchen. So langsam gefiel mir |51|die Geschichte mit dem Kindergarten und ich dachte, na, wer weiß, vielleicht ist es ja doch ganz schön, mit anderen Kindern zusammen zu sein.

Wir wohnten genau gegenüber vom Kindergarten, konnten aber wegen der hohen Mauer nicht hineinsehen. Diese schreckliche Holzfigur, der Mann mit den Nägeln in Händen und Füßen, machte mir immer noch große Angst. Aber vielleicht war es ja hinter der Mauer nicht ganz so schrecklich.

Am nächsten Morgen durfte ich nicht ausschlafen. Anne machte mir ein Nutella-Brot und wir gingen los. Obwohl ich noch nie in einem Kindergarten war, hatte ich Angst. Helene war auch in einen Kindergarten gegangen, aber nicht in diesen.

Wir traten durch die große Mauer, und ich versuchte, den Mann mit den Nägeln in der Hand gar nicht anzuschauen. Ich klammerte mich ganz fest an meine Anne.

Plötzlich standen wir in einem wunderschönen Garten mit einer Rutsche und einem Sandkasten. Meine Angst wurde weniger, bis ich die Frau im schwarzen Gewand sah, die mit großen Schritten auf uns zukam und nicht gerade freundlich dreinblickte.

„Du bist sicher die kleine Türkin, wie heißt du doch gleich? Mülgin oder so?“

„Nilgün heißen meine Tochter, bitte“, antwortete Anne sehr freundlich und hoffte wahrscheinlich auf ein Gegenlächeln. Die Frau schaute immer noch böse und zupfte ihr Gewand zurecht.

Wenn Anne aufgeregt war, sprach sie ein schlechtes Deutsch und ich konnte nicht mal schlucken, weil der Kloß in meinem Hals immer größer wurde. Die Frau nahm mich an der Hand und zerrte mich von Anne weg. Ich fing an zu schreien und klammerte mich noch fester an meine Anne. |52|Ich wollte da nicht bleiben, ich wollte wieder nach Hause. Meine Anne redete beruhigend auf mich ein und sagte immer wieder, dass sie mich in ein paar Stunden abholen würde, und versprach sogar, mir ein neues Kleid zu nähen. Aber ich wollte keine neuen Kleider, ich wollte nur ganz schnell weg von dieser Frau.

Als Anne weinend durch das Tor in der großen Mauer verschwand, wurde mir klar, dass ich dort bleiben musste. Ich wischte meine Tränen ab und versuchte, tapfer zu sein.

„Ich bin die Schwester Annemarie und eins sage ich dir gleich, wenn du hier nicht lieb bist, dann gnade dir Gott!“, schimpfte sie und zerrte mich in einen Raum, in dem ganz viele Kinder auf dem Boden saßen. Ich setzte mich dazu, starrte auf meine Füße und versuchte, meine Tränen zurückzuhalten.

Dann fingen alle an zu singen und klatschten in die Hände. Ich war immer noch ruhig und hoffte, bald wieder von Anne abgeholt zu werden. Meine Angst wurde aber einfach nicht weniger, und so fing ich wieder ganz leise zu weinen an. Die Kinder machten verschiedene Spiele, und ich wusste nicht, ob ich mitmachen sollte oder nicht. Also blieb ich lieber sitzen und verzog mich später in eine Ecke. Schwester Annemarie sah immer wieder einmal zu mir her, zog ihre Augenbrauen nach oben und schüttelte den Kopf.

Nach einer Weile gab es Mittagessen. Ich hatte großen Hunger, durfte jedoch nicht mitessen, denn es gab Würstchen mit Ketchup und Brot. Ich wusste, dass man auf jeden Fall in die Hölle kommt, wenn man Schweinefleisch isst. Mein Nutella-Brot durfte ich nicht auspacken, weil es verboten war, Essen mitzubringen. Man musste essen, was auf den Tisch kam. Alle Kinder und Schwester Annemarie beteten. Da konnte ich auch nicht mitmachen. Ich durfte doch nur zu |53|Allah beten und mit Gott sprach ich heimlich. Aber das durfte ja niemand wissen. Schwester Annemarie sah mich noch böser an und sagte: „Gott wird dich dafür strafen. Eines Tages wirst du nichts mehr zu essen haben.“ Alle Kinder starrten mich an und ich schämte mich sehr.

Ich hätte mir so gerne wenigstens etwas Ketchup auf mein Brot geschmiert, aber nicht mal das ging, da alle Kinder ihre Würstchen in die Schüssel mit dem Ketchup hineintunkten. Womöglich hätte ich dann auch etwas vom Schwein abbekommen.

Nach dem Essen mussten wir alle unsere Zähne putzen und ins Bett gehen. Ich wollte nicht schlafen und erst recht nicht in einem dunklen Zimmer. Ich klammerte mich an Schwester Annemarie und bat sie weinend, mich nicht in dieses Zimmer zu stecken. Da wurde sie plötzlich ganz furchtbar wütend, schrie mich an, schüttelte mich und versohlte mir so fest den Hintern, dass ich vor lauter Schmerz nur noch schrie. Schluchzend lag ich dann in diesem schrecklich dunklen Zimmer. Diesmal betete ich zu Allah. Ich hatte nicht gesündigt und ich wusste, wenn mir jemand helfen konnte, dann nur Allah. Gott hatte mich schwer enttäuscht. Gott und seine „Frauen“ waren böse. Ich wollte nie wieder was von ihm wissen!

Irgendwann schlief ich weinend ein.

 

Ich glaube, das Aufwachen an diesem Kindergartentag war eines der schlimmsten Erlebnisse meines Lebens. Schwester Annemarie schlug schon wieder auf mich ein und zerrte mich aus dem Bett. Unter lautem Gezeter riss sie mir die Kleider vom Leib. Und ich wusste immer noch nicht, was ich getan hatte. Nachdem sie mich ein paar Mal geohrfeigt und in die Wangen gekniffen hatte, stand ich ganz nackt vor allen |54|Kindern. An Schmerzen kann ich mich nicht erinnern, so sehr schämte ich mich, nackt vor den anderen Kindern zu stehen. Alle lachten mich aus und manche spuckten mich sogar an.

„Du bist eine Schlampe, nur Schlampen machen ins Bett!“, brüllte Schwester Annemarie.

„Wir hätten keine Muselmanin aufnehmen dürfen, aber auf mich hört ja keiner“, schrie sie weiter und warf mir meine nassen Kleider ins Gesicht.

Erst da wurde mir klar, was ich getan hatte. Ich war fünf Jahre alt und meine Anne erzählte immer ganz stolz, dass ich bereits mit elf Monaten keine Windeln mehr gebraucht hätte. So etwas Schlimmes war mir noch nie passiert! Jetzt schämte ich mich noch mehr. Ich weiß nicht, wie lange ich ohne Kleider dastand. Alle starrten mich an. Die meisten lachten mich aus, und einige zwickten mich in meinen nackten Po und rannten dann weg. Ich versuchte, meine Nacktheit hinter meinen Händen zu verstecken. Ich weiß noch, dass ich auf einmal nichts mehr fühlte. Ich spürte nicht mal Sehnsucht nach Anne, nach Tekir, nach Helene und all den Menschen, die ich doch so lieb hatte. Ich sah plötzlich den Bazar in Istanbul vor mir, meine Anne und Mine, und wie wir lachend mit einem Simit in der Hand von einem Stand zum nächsten liefen. Meine Anne lachte und kaufte uns alles, was wir uns wünschten.

Irgendwann drückte Schwester Annemarie mir die Kleider in die Hand, die vor mir auf dem Boden gelegen hatten. Ich musste mich anziehen, und sie nahm mich am Handgelenk und zog mich nach draußen. Ich musste an der Straße auf meine Anne warten. Schwester Annemarie schloss die Tür hinter mir zu. Ganz alleine saß ich auf der Steintreppe und hatte nicht mal Angst vor der Holzfigur, die über der Tür |55|hing. Ich schaute den Mann am Kreuz an und mir fiel auf, dass er auch Tränen im Gesicht hatte.

Er blutete auf der Stirn und sein Blick war sehr traurig. Vielleicht war das auch Schwester Annemarie gewesen. Vielleicht hatte sie den Propheten Isa an Händen und Füßen festgenagelt. Aber Propheten machten doch nicht in die Hose?

Später sah ich meine Anne auf mich zukommen. Mit großen Augen stand sie vor mir und wollte wissen, was passiert war. Sie umarmte mich und sah mich mit schmerzerfülltem Blick an.

Mir tat die Umarmung sehr weh. Alles schmerzte an meinem Körper und mit einem Auge konnte ich nur noch verschwommen sehen.

„Nilgün, sag mir bitte, was passiert ist. Welches Kind hat dich so geschlagen?“

Ich sah meine Anne nur an und brachte kein Wort heraus. Anne nahm mich an der Hand und schlug mit der Faust an die Tür, bis Schwester Annemarie öffnete. Ich zerrte an ihr, ich wollte weg, ich wollte nie mehr da rein, und ich hatte so schreckliche Angst.

Anne schrie laut auf Schwester Annemarie ein und sagte auf türkisch ganz schlimme Wörter. Schwester Annemarie sagte gar nichts. Sie schob uns raus und schloss sofort die Tür hinter uns zu.

Anne fing an zu weinen und wir setzten uns auf die Treppen vor dem Eingang. Ich wollte nur nach Hause, ich wollte weg von Gottes Frauen und all den bösen Kindern.

„Nilgün, sag jetzt bitte, was mit dir passiert ist. Wer hat dich geschlagen?“

Ich konnte kaum sprechen, weil wieder dieser Kloß in meinem Hals war, aber Anne war ganz außer sich und schüttelte mich.

|56|„Ich habe in die Hose gemacht und Schwester Annemarie hat mich geschlagen und alle Jungen haben mich nackt gesehen. Ich habe gesündigt, Anne, muss ich jetzt in die Hölle?“

Anne fing erneut an zu weinen, und wir gingen endlich nach Hause. Baba wollte zur Polizei, aber Anne war der Ansicht, dass uns niemand glauben würde. Schließlich seien wir nur Gastarbeiter, und an einer Nonne würde man in Deutschland nie zweifeln.

Nach diesem Vorfall verweigerte ich das Essen. Ich sprach nicht mehr und lag nur noch im Bett. Irgendwann machte ich die Augen im Krankenhaus auf. Ich bekam mehrere Tage lang Infusionen und musste viele Tabletten schlucken. Anne versprach mir immer wieder, dass ich nie mehr in einen Kindergarten gehen müsse. Es sei auch auf keinen Fall Günah gewesen, schließlich hätte ich mich ja nicht freiwillig ausgezogen. Allah sei bestimmt nicht böse mit mir, da war sich Anne ganz sicher.

Mit Gott war ich fertig! Er war nicht mehr mein Freund. Wie konnte er nur eine Frau wie Schwester Annemarie heiraten? Helene hatte erzählt, dass Gott mit allen Nonnen verheiratet sei. Mein „Dede“, der Baba von meinem Baba, hatte in Ostanatolien auch viele Frauen, aber keine davon hatte mich jemals geschlagen. Das hätte mein Dede auch nie zugelassen. Wie konnte Gott es nur dulden, dass mich seine Frau so schlug, und wie konnte er überhaupt eine so böse Frau heiraten?

Allah hatte eine Hölle, eine Schicksalsbrücke und viel Feuer, aber er war nicht verheiratet und hätte sich so eine Frau auch nie genommen!