|44|Straßen voller Sehnsucht

Die Sommerferien begannen, und Mine kam am letzten Schultag mit einem schlechten Zeugnis nach Hause. Mine sagte immer, dass ihre Lehrerin sie nicht leiden könne und sie deshalb so schlechte Noten hätte. Alle Türken hätten schlechte Zeugnisse, weil man die türkischen Kinder nicht auf der Schule haben wollte. Anne seufzte und schüttelte wortlos den Kopf. Baba sah sich das Zeugnis nie an, weil er immer der Meinung war, dass unsere Tage in Deutschland gezählt seien, und Mine bald in Istanbul in die Schule gehen würde.

Unsere Urlaubsvorbereitungen waren in vollem Gange. Anne und Baba kamen mit prall gefüllten Tüten nach Hause. Unsere Verwandten in der Heimat freuten sich jedes Jahr auf Schokolade, Kaffee und diverse Geschenke.

Ich hasste die Reise nach Istanbul mit unserem Ford Taunus. Wir saßen zwei Nächte und drei Tage lang im Auto. Meine Anne sagte immer, dass die Straßen voller Sehnsucht seien. Man würde die Sehnsucht der Menschen sogar riechen. Ich roch nur den Zigarettenrauch von Baba und die Abgase, wenn wir wieder mal im Stau standen.

Vor lauter Langeweile stritten wir uns die ganze Zeit. Aber ich hatte eine gute und wirkungsvolle Ausrede für kleine Pausen. Unser Baba wollte so wenig wie möglich anhalten, aber wenn ich „cisim geldi“, ich muss Pipi, schrie, hielt er sofort an.

Das tat ich aber nur, wenn ich kurz vorher einen Tankstellenhinweis gesehen hatte. Wir bekamen nach Pipi-Pausen nämlich immer ein Eis oder eine Tüte Chips.

Die Tankstellen und die Straßen waren voll von unseren |45|Landsleuten. Ihre Autos waren meist so beladen, dass man die Menschen darin kaum erkennen konnte. Alle schliefen in ihren Autos, und in den Pausen tauschten wir unser Essen.

Je näher man der Heimat kam, desto glücklicher wurden die Gesichter der Menschen. Es war zwar sehr anstrengend, aber trotzdem herrschte fast immer eine fröhliche Stimmung auf den Straßen. Natürlich gab es auch Schlägereien, wenn einer es wagte, im Stau rechts zu überholen. Schließlich wollten alle so schnell wie möglich nach Hause kommen. Aber Schlägereien waren wir gewohnt und natürlich waren sie eine aufregende Abwechslung für uns.

Bereits in München fing meine Schwester an zu fragen: „Anne, wie lange fahren wir noch? Wann sind wir endlich da?“

Diese Frage stellten wir in drei Tagen sicher tausendmal und bekamen immer die gleiche Antwort: „So Allah will, bald.“ Irgendwie schien Allah nicht zu wollen, denn die Reise dauerte eine Ewigkeit.

„Anne, ich muss Pipi!“, schrie ich also wieder unmittelbar nach einem Tankstellenhinweis, mein Baba runzelte die Stirn, fluchte wie immer sein „Eşoleşek“, aber das war nun mal die einzige Möglichkeit, die Fahrt zu unterbrechen und an ein Eis zu kommen.

Gleich nach der türkischen Grenze, in der Stadt Edirne, stürmten viele Menschen aus ihren Autos, knieten sich auf die Erde und berührten den Boden mit ihrer Stirn. Einige rollten ihre Gebetsteppiche aus und fingen an zu beten. Anne seufzte dann jedes Jahr: „Endlich ist die Sehnsucht der Menschen erfüllt!“

Es war wie Zauberei. Sobald wir in der Türkei waren, waren unsere Eltern ganz anders. Ausgelassene Fröhlichkeit herrschte im Auto, und alle waren lieb und lustig.

|46|Wir fuhren in das nächste Restaurant und Baba bestellte für uns alle Kebap und Ayran.

Wir verbrachten sechs Wochen in Istanbul mit unseren Verwandten. Jeden Tag wurden wir woanders eingeladen und hatten natürlich für jeden Gastgeber Geschenke dabei. Kaffee, Schokolade, Kleidung und für die Geschwister von Anne und Baba gab es sogar elektrische Geräte wie Bügeleisen, Mixer oder einen Eierkocher. Wir wurden begrüßt, und als Nächstes wurden die Geschenke begutachtet. Manchmal bekamen wir Sprüche zu hören wie: „Hasan, habt ihr in Alamanya keine gute Arbeit, hat es nicht zu einem größeren Geschenk gereicht?“

Dann lachten alle ganz laut, obwohl jeder im Raum wusste, dass es nichts zu lachen gab.

Um den Erwartungen der Verwandten nachzukommen, nahmen unsere Eltern sogar einen Kredit auf.

Anne war nach jedem Besuch immer sehr traurig und meinte: „Wenn wir keine Geschenke dabei hätten, würden sie uns nicht mal anschauen.“

Baba nickte dann und ihre gute Laune verwandelte sich in bedrücktes Schweigen.

Nach jedem Urlaub versprachen sich Anne und Baba, nie wieder so lange Urlaub zu machen und nie wieder so viel Geld für Geschenke auszugeben. Anne war nach den sechs Wochen ganz erschöpft und Baba hatte dunkle Augenringe, weil er jeden Tag Raki getrunken hatte.

Auf der Fahrt zurück nach Deutschland mussten wir beim Überqueren der Bosporus-Brücke trotzdem alle weinen. Jeder schaute noch mal zurück und die traurigen Blicke meines Babas im Rückspiegel werde ich nie vergessen. Baba gab nie zu, dass er weinte. Er sagte höchstens: „Ich habe etwas ins Auge bekommen.“ Und: „Männer weinen nicht!“ Dabei wussten |47|alle, dass auch mein Baba Tränen vergoss. Ich weinte eigentlich nur, weil meine Anne weinte.

Mine und ich fragten nun gar nicht mehr, wann wir endlich da sein würden, weil unser Baba dann immer sehr böse wurde. „Du kannst es wohl nicht erwarten, wieder in Deutschland zu sein?“, sagte er dann und hob seine schwarzen Augenbrauen bis hinauf zum Haaransatz.

Auf der Rückfahrt häuften sich die Schlägereien auf den Parkplätzen. Die Menschen waren nicht mehr so freundlich zueinander und man sah kaum noch ein glückliches Gesicht.

„Jetzt sieht man den Menschen die Sehnsucht wieder an“, sagte Anne.