Notarzt

Charline

»1/83/1. Frage: Standort?«

»Sankt-Martin-Straße. Direkt auf Höhe der Polizeiwache.«

Ich hätte kotzen können. Sollten die aus der Leitstelle doch endlich mal den zweiten Rettungswagen zu einem Einsatz schicken. Die hatten an diesem Tag noch gar nichts getan. Aber nein. Der Computer in der Leitstelle schlug unseren Rettungswagen vor, weil wir uns im sogenannten Status eins befanden und gerade auf dem Weg in die Wache waren. Das bedeutete: Wir waren über Funk einsatzklar. Ein ungeschriebenes Gesetz besagt, dass das rollende dem stehenden Fahrzeug vorgezogen werden muss. Also hatten wir diesen Einsatz bekommen – Lenny und ich. Jackpot. Das Mittagessen musste wohl noch ein wenig warten.

Der Einsatzort war ein 200 Meter langer Grünstreifen am Rande der Stadt. Angeblich sollte hier jemand in der Mittagshitze kollabiert sein. Lenny biss in sein platt gedrücktes Salamibrötchen, das er bis dahin in seiner Tasche mit sich herumgetragen hatte.

»Was meinst du, wer das wohl sein könnte?«, nuschelte Lenny.

Ich saß mit hochgezogener Augenbraue auf dem Beifahrersitz und hielt mich am Griff der Tür fest.

»Keine Ahnung«, antwortete ich, »klär mich auf.«

»Natürlich Charlinchen. Die hat sich sicher zum Frühstück wieder ’ne Pulle Korn ins Gesicht gestellt.«

»Es ist erst Mittag. Und zudem unter der Woche. Und heiß wie in der Hölle.«

»Wetten wir? Komm ... um ein Bier.«

»Die Wette gilt. Gib Gas.«

Dann kurbelte ich das Fenster ganz herunter. Das Einsatzhorn jagte einen Hund aus dem Weg.

Als wir am Einsatzort ankamen, stand eine Menschenmenge um ein auf dem Boden liegendes Häufchen Elend herum. Eine Dame Mitte 40 schüttelte den Kopf, nahm ihren winzigen Kläffer und marschierte in Richtung ihres goldenen Luxusschlittens – vermutlich um in den Tennisclub zu fahren. Ich hörte noch Wortfetzen wie »gesoffen«, »jung« und »unmöglich«.

»So, Herrschaften, jetzt is’ mal Schluss mit Kino«, rief ich und schob zwei Burschen auf die Seite, die nur glotzten. »Was ist hier passiert?«

Ein junger Typ mit Baskenmütze schob sich in die erste Reihe.

»Ich bin da langgegangen, und die Dame hat sich gerade das Zeug einverleibt, als wär es Limo. Dann hat sie die Augen verdreht und ist einfach umgefallen.«

»Bei dem Gesöff würden mir auch die Lichter ausgehen«, meinte Lenny, der die Flasche aufgehoben hatte, sie in die Sonne hielt und dann über die Qualität des Billigfusels an Tankstellen monologisierte.

»Hallo, Charline.«

»Hmm ...«

»Wach auf. Wir fahren wieder mal ins Krankenhaus.« Ich rüttelte an ihrer Schulter.

»Hm h-hm-hm blm prrrrz« war die wenig ergiebige Antwort. Sie bewegte sich keinen verdammten Millimeter, um auf unsere bereits neben ihr bereitgestellte Trage zu kommen. Spucke lief aus ihrem Mundwinkel bis in den Kragen ihres beigefarbenen Wollpullovers hinein, der eigentlich weiß sein sollte. Mir fiel auf, dass Charline diesen Pulli bereits bei unserer letzten Begegnung angehabt hatte. Das war nur drei Tage zuvor gewesen.

Ich habe bisher noch nicht erwähnt, dass Charline Stammkundin des Rettungsdienstes mit Platinkartenstatus bei den Krankenkassen war. Würde es beim Rettungsdienst für Betrunkene Kopfgeld geben, müssten wir uns nur in Charlines Nähe aufhalten. Unsere Existenz wäre damit gesichert.

Charline lebte in einer ländlichen Siedlung 15 Kilometer entfernt von dem Ort, in dem unsere Rettungswache steht. Ein von außen schnuckelig aussehendes Einfamilienhaus beherbergte sie und ihren charmanten Eheknochen, der mindestens ebenso kaputt war wie sie selbst.

In einem ihrer hellen Momente erzählte sie mir hinten im Rettungswagen von ihrer vermurksten Kindheit und dem frühen Griff zur Flasche. Ihre drei vorzeitig beendeten Schwangerschaften rissen sie noch weiter in den Abgrund, aus dem sie sich niemals wieder befreien konnte. Hätte sie damals nur nicht getan, was ihr Mann von ihr verlangt hatte: in die Niederlande fahren, weil Abtreibungen bei uns noch verboten waren.

Ihren Ehemann hatten Lenny und ich einige Wochen zuvor persönlich kennengelernt. Ein Sympathieträger, wie er im Buche steht. Er begrüßte sie mit den Worten: »Sieh zu, dass du deinen fetten Pöks ins Haus schiebst, sonst hast du’s erlebt.« Dann wischte er sich seine fettigen Haare aus dem Gesicht und schrubbte sich über die Rotzbremse.

»Hat sie euch schon wieder belästigt?«, schnaubte er und drehte seinen Kopf in meine Richtung.

»Aber Herr Bosum. Seien Sie mal etwas netter. Ich bin mir sicher, dass Ihnen das besser steht.«

»Komm rein, Sanitäter ... und schau dir das an. Los! Schau’s dir doch an«, blökte er, packte mich an der Jacke und zog mich ins Haus. Im Wohnzimmer empfingen mich Hakenkreuzflaggen. Eine Büste von Hitler stand unübersehbar mitten im Raum, und Mein Kampf hatte seinen Platz auf einer eigens dafür aufgestellten Säule gefunden.

»Ein überzeugter Nationalsozialist also«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Wir müssen jetzt gehen. Schönen Nachmittag noch.« Ich warf Lenny einen Blick zu und steuerte auf den Ausgang zu. Bis heute wissen wir nicht, was uns der gescheiterte Fascho ursprünglich zeigen wollte.

»Wiedersehen, Charline«, rief ich noch. Doch der Typ hatte die Tür bereits hinter sich ins Schloss fallen lassen. Ich war seitdem nie wieder dort gewesen.

Wir hatten Charline in Seitenlage auf unsere Trage gepackt und befanden uns mit ihr auf dem Weg ins Krankenhaus. Durch einen venösen Zugang bekam sie Natriumchloridlösung. Sie schlief ihren Rausch aus. Der Mediziner würde das »Komastufe IV« nennen.

Die Reaktionen im Krankenhaus waren zunächst nur Grimassen, Kopfschütteln und das Hochziehen diverser Augenbrauen in der Notaufnahme. Meine Übergabe an den Internisten war eher knapp.

»Weibliche dreiundfünfzigjährige C2-Intoxikation. Schmerz­reiz kann man völlig abhaken. Eine Reaktion wie ein Murmeltier im Winterschlaf.«

»Die kenn ich. Na super, wir sind voll bis unters Dach.«

»Ich kann nichts dafür. Wir haben Charline nicht gefunden. Man hat uns gerufen«, sagte ich und verließ eiligen Schrittes die Notaufnahme.

Charline landete schließlich auf der Intensivstation. Am nächsten Tag passierte – nichts. Sie wachte nicht auf. Nicht einmal kurz. Es vergingen zwei weitere Tage, bis sie endlich die Augen aufmachte. Beim Mittagessen in der Kantine habe ich erfahren, was der Grund dafür gewesen war. Charline hatte nach dem Konsum von Korn, Schnaps und Jägermeister 6,2 Promille Alkohol im Blut gehabt. Unglaublich. Für einige Wochen war Charline dadurch zum Dauerthema im ganzen Krankenhaus geworden. Ein Laborfehler war ausgeschlossen – die Messung war natürlich mehrmals durchgeführt worden, weil sie ursprünglich niemand glauben konnte. Dies war übrigens nicht der höchste je dokumentierte Messwert. Die polnische Nachrichtenagentur PAP meldete am 20. Dezember 2004, dass ein Fußgänger im zentralpolnischen Dorf Skierniewice von einem Auto erfasst worden war. Der Mann hatte 12,3 Promille Alkohol im Blut und befand sich nach einem Saufgelage auf dem Weg nach Hause. Aufrecht.

Und dann verschwand Charline einfach. Sang und klanglos wie ein Gewitterwölkchen am Saharahimmel. Nein, Sie denken jetzt sicher in die verkehrte Richtung. Charlinchen hat sich nicht totgesoffen. Sie ist auch nicht an einer Leberzirrhose krepiert oder in irgendeinem Gebüsch rückenlagig an ihrer eigenen Kotze erstickt.

Charline hat sich umgebracht, weil sie nicht mehr wollte. Sie sprang aus dem vierten Stock einer psychiatrischen Klinik und landete auf dem Betonabsatz einer Mauer. Knallharte Ironie des Schicksals. Kein noch so hoher Alkoholpegel hatte sie zur Strecke bringen können. Das musste sie schon selbst in der Klapsmühle erledigen, in die wir sie so oft zum Ausnüchtern gebracht hatten.

Einige Wochen nach Charlines Tod brachten wir ihren Ehemann ebenfalls in die Anstalt am anderen Ende unserer Stadt. Auch er hat dieses Krankenhaus danach nicht mehr verlassen. Vermutlich lebt der Typ noch heute dort, und vermutlich existiert Charline in seiner Welt weiter.

Meine verlorene Wette habe ich mit Lenny zusammen übrigens noch am selben Abend im Irish Pub eingelöst. Wettschulden sind schließlich Ehrenschulden.

Sie sehen aber gar nicht gut aus!
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