
Perspektivenwechsel
An jenem Sommertag im Reitstall ritt Helena auf dem prächtigen schwarzen Friesen einer Freundin. Alles lief gut, das Pferd war brav und tat alles, was sie von ihm verlangte. Als die Stunde fast vorbei war und niemand mehr damit rechnete, passierte es: Die Stute stolperte, knickte mit einem Bein ein und stürzte. Ein Pferd hat vier Beine – und damit zwei mehr als der Mensch. Dadurch gelingt es ihm im Normalfall, einen Sturz abzufangen und sich wieder aufzurappeln. Doch diesmal nicht. Es stürzte auf seine linke Seite und begrub Helena unter sich. Einfach so. 850 Kilo rollten auf ihren Beckenknochen. Etwas knackte – mehrfach. Dann liefen die Leute zusammen, und irgendjemand rief, sie solle sich nicht bewegen und liegen bleiben. Die Leute zückten ihre Handys. Der Notruf war aber nicht die einzige Nummer, die gewählt wurde.
»Komm schnell her, deine Frau hatte einen schweren Unfall«, rief der Besitzer des Reitstalls dem Ehemann am Telefon zu.
Das ist ein Satz, den jeder Angehöriger nicht so bald wieder vergisst und der sich einbrennt wie Napalm. Den Ehemann traf die Nachricht wie eine Pistolenkugel. Er schmiss den Hörer in die Ecke, spürte noch während des Gesprächs seinen schnellen Puls bis in den Hals schlagen. Er ließ alles stehen und liegen, stürzte aus seiner Wohnung und rannte zu seinem Auto.
Und jetzt erwarten Sie, dass ich zusammen mit Lenny ins Spiel komme und der Alarmempfänger unserer Pause ein jähes Ende bereitet. Dass wir uns in den RTW begeben, uns den Einsatzort durchgeben lassen und uns auf den Weg machen, um einer schwer verletzten Reiterin zu helfen. Mit dabei das Gemaule im Straßenverkehr über Autofahrer, die nichts kapieren, und auch das Einsatzhorn, das auf Dauerbetrieb geschaltet ist. Aber nein. Diese Geschichte beinhaltet leider eine kleine, unfreundliche Abweichung.
Der angerufene Ehemann war ich. Und die Retter waren diesmal die anderen.
Auf dem Weg zum Unfallort rief ich Lenny an. Auf meine Bitte hin wollte er versuchen, sich in der zuständigen Leitstelle über Helenas Zustand zu erkundigen. Es klappte nicht rechtzeitig – ich fuhr viel zu schnell und schaffte es noch vor seinem Rückruf an die Unfallstelle. Er hatte mich noch gebeten, vorsichtig zu fahren, aber es war vergebens gewesen. Die Landschaft raste an mir vorbei, und 15 Minuten später traf ich ein – kurz nachdem der Hubschrauber gelandet und das ganze Dorf zusammengelaufen war. Ich hielt direkt neben dem Rettungswagen, der einige Minuten vor dem Hubschrauber eingetroffen war.
»Mir geht es gut, ich habe keine Schmerzen«, sagte Helena und lächelte mich vom Boden aus an, während das Team des Hubschraubers sich beeilte. Die Verdachtsdiagnose des Notarztes: Polytrauma. Das bedeutet, dass mehrere Verletzungen an verschiedenen Körperstellen vorliegen und mindestens eine davon lebensbedrohlich ist. Vermutlich war es das Adrenalin, das Helenas Schmerzen zunächst verschwinden ließ. Mir blitzten berufstypische Gedanken eines Retters auf: Bauchtrauma, zertrümmertes Becken, hoher Blutverlust, Querschnittslähmung, Schock. Ich trat zurück, als mich ein Rettungsassistent des RTW einfach zur Seite schob. Er wusste nicht, dass ich ein Kollege einer benachbarten Rettungsdienstorganisation war, aber er tat natürlich das Richtige.
Trotz meiner zweifelhaften Begabung, als Angehöriger ständig im Weg zu stehen, waren die Rettungsassistenten außerordentlich professionell und freundlich. Ich ließ die Situation auf mich wirken und hätte niemals gedacht, dass sich deren Verhalten so in meine Erinnerung einbrennen würde. Mir fiel in diesem Moment ein, wie ich selbst Angehörige im Rahmen eines Einsatzes erlebe und wie ich darauf reagiere. Der plötzliche Kontrollverlust im intimsten Lebensbereich erzeugt bei ihnen Angst und Unsicherheit, manchmal Panik. Mit unserem Verhalten hinterlassen wir sowohl beim Patienten als auch bei dessen Angehörigen einen sehr einschneidenden Eindruck. Eine außergewöhnlich mehrdimensionale Erkenntnis meines eigenen beruflichen Wirkens drang in mein Bewusstsein vor, denn als Retter haben wir die Fäden in der Hand. Wir stellen die Fragen und weisen Angehörige an, auf die Seite zu gehen oder die Versicherungskarte zu suchen. Wir sagen dem Patienten, was er haben könnte und dass er ins Krankenhaus muss. Auch wissen wir natürlich, dass wir eine Art von Macht und Kontrolle ausüben, wenn wir dem Patienten und Angehörigen freundliche, aber bestimmte Befehle inmitten ihres privatesten Lebensbereiches erteilen. Aber wie es ist, selbst Angehöriger in einer Notfallsituation zu sein, wissen wir in der Regel nicht – zumindest wusste ich das bisher nicht.
20 Minuten später hob der Helikopter ab und ließ mich am Boden zurück.
In der Notaufnahme angekommen, schob mich ein langhaariger Pfleger mit Dreitagebart zur Seite. Ich dürfe hier nicht stehen, sagte er, und ob ich die Bodenmarkierung nicht gesehen hätte. Dass meine Frau schwer verletzt mit einem Hubschrauber hergebracht worden war, ließ ihn kalt. Fernab jeglicher Empathie verschwand er und ließ mich alleine stehen. Im Vorbeigehen sagte ein anderer, ich solle es im Schockraum versuchen. »Da hinten, immer dem roten Strich entlang«, antwortete er, obwohl ich die Frage dazu noch gar nicht gestellt hatte. Anschließend ging auch er.
Im Schockraum war niemand mehr. Das grüne Laken hing zur Hälfte von der Liege hinunter. Das Kopfteil war verschoben, überall hingen Schläuche. Instrumente lagen herum, alles war ein einziges Chaos. Das Schockraumteam hatte es scheinbar eilig gehabt. Auf den riesigen TFT-Monitoren war das Innere eines Menschen zu sehen. Auf einem der CT-Bilder las ich meinen eigenen Nachnamen.
Irgendwo ertönte ein Alarmgong. Die Stimme einer Frau überschlug sich und befahl einen Doktor Schmid dringend in die Notaufnahme. Grelle Neonlichter wiesen mir meinen Weg, während meine Schritte den sterilen leeren Korridor entlanghallten.
»Zu wem möchten Sie?« Eine aufmerksame junge Krankenschwester nahm sich meiner an.
»Ich suche meine Frau. Sie kam per Hubschrauber über den Schockraum«, antwortete ich dankbar, nannte meinen Nachnamen und folgte der Schwester, die etwas in einen Computer tippte.
»Ihre Frau liegt auf der chirurgischen Station. Am Ende des Ganges nehmen Sie den Aufzug in den dritten Stock.« So habe ich sie endlich gefunden. Helena konnte trotz der Tatsache, jetzt einige Wochen im Fixateur liegen zu müssen, schon wieder Witze reißen und schien ganz die Alte. Genau wie ich war sie sehr froh, dass sie ohne Operation davonkam. Ob wir denn am nächsten Tag ausreiten wollten, da es so ein schöner Tag werden solle, und dann am Abend Essen gehen, fragte sie mich. Ich grinste nur, denn ich kapierte zunächst gar nichts. Außer dass der Unfall glimpflicher abgelaufen sein musste, als ich zunächst angenommen hatte.
Vorweggenommen: Meine Frau hat den Reitunfall annähernd ohne Folgeschäden überstanden. Die gebrochenen Hüftknochen sind wieder zusammengewachsen. Sie hatte noch nicht einmal Angst, danach wieder aufs Pferd zu steigen. Das Glück war an diesem Tag auf ihrer Seite gewesen – ich habe Menschen schon mit deutlich weniger Verletzungen sterben sehen.
Mir wurden durch diesen Vorfall einige Lektionen zuteil, die ich seitdem sowohl für mein Wirken als Rettungsassistent als auch für mein persönliches Leben einsetze.
Die wichtigste war, dass es vollkommen unmöglich ist, sich als Angehöriger am Unfallort professionell zu verhalten. Man stört den Ablauf – ob man will oder nicht. Und man mutiert zum hilflosen kleinen Kind, wenn eine nahestehende Person verletzt ist. Eine weitere Lektion war, dass es für alle Beteiligten am hilfreichsten ist, in einer solchen Situation nicht auszurasten, obwohl das unglaublich schwierig ist. Aber man kann die Lage durch eigene Kopflosigkeit nicht verbessern, sondern nur verschlimmern.
Und natürlich die Lektion, dass die eigene Gesundheit und die Gesundheit nahestehender Menschen das höchste Gut überhaupt sind und man selbst nicht unbesiegbar ist.
Ach ja: Auch das Pferd hat den Sturz unbeschadet überstanden. Obwohl meine Frau sehr zierlich ist, hat sie den Aufprall der Stute erfolgreich gedämpft. Nur die Reithose erlitt ein irreparables Polytrauma. Diagnose: »Tod durch Zerschneiden mit einer Rettungsschere«.