Notarzt

Todgeweiht

Ausgerechnet an diesem Tag lieferten diese Idioten die Obstpaletten stapelweise an. Ludwig, der Besitzer eines kleinen Ladens für Früchte und Spezialitäten aus dem Morgenland, hing am Telefon und rief nach seinem Schwiegersohn Paul.

»Hier ist Ludwig. Kannst du mir helfen? Die Lieferanten meinen, sie müssten mich heute mit Ware überschütten.« Irgendetwas war bei der Bestellung wohl schiefgelaufen. Keine drei Minuten später saß Paul am Lenkrad seines schneeweißen Lieferwagens und startete den Dieselmotor. Die Ware sollte auch an Ludwigs zweites Geschäft verteilt werden.

Ludwig passte das alles gar nicht. Denn an diesem Tag hatte er den 19. Hochzeitstag mit seiner Frau Lena, und aus diesem Anlass wollte er sie fein zum Mittagessen ausführen. 19 Rosen hatte er besorgt und einen Tisch beim Edel-Italiener um die Ecke bestellt. Mittags war eine gute Gelegenheit zum Feiern, denn da saßen die Kinder noch in der Schule.

Trotz der Unannehmlichkeiten war die Laune der beiden Männer gut und passte zum wolkenfreien Sommertag. Der Lieferwagen war bis unter das Dach mit Obst und Gemüse beladen. How many roads – Bob Dylan näselte im Radio. Keiner der beiden Männer dachte in diesem Moment wohl an etwas Böses.

Das Unglück geschah erst, als sie sich schon eine Weile auf der Hauptstraße befanden. Paul trat auf das Gaspedal, wich einem Schlagloch aus und zog das Lenkrad mit einem Schlenker nach rechts. Ein Poltern kam von hinten aus dem Laderaum. Eine Gemüsekiste war wohl umgekippt. Ludwig fluchte, Paul drehte sich um und ließ die Straße aus den Augen. Zeugen sagten später aus, dass der Lieferwagen nach links abgedriftet war. Ludwig bemerkte es als Erster, aber es war zu spät. Niemand konnte mehr eingreifen. Plötzlich war der Schulbus da. Reifen schlitterten über Teer. Dann ein Knall.

Eine – zwei – drei – vier Sekunden lang Stille. Dann schrien Kinder. Die Fahrgastzelle des Busses war zum Glück so gut wie unbeschädigt. Nur durch den Ruck des Aufpralls waren einige Schüler und der Busfahrer leicht verletzt, der hilflos am Steuer saß und sich am Lenkrad festhielt. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf den weißen Transporter, der in das gelb lackierte Metall des Linienbusses getaucht und wie von einer unsichtbaren Wand abgeprallt war. Wasserdampf stieg aus dem Motorraum auf und verdeckte die Sicht auf Paul und Ludwig. Autos hielten an der Unfallstelle, die sowieso nicht passierbar war. Irgendwann wählte jemand den Rettungsdienstnotruf.

Lenny und ich standen zu diesem Zeitpunkt vor einer italienischen Eisdiele und freuten uns wie kleine Kinder auf eine kühle Vanilleeiscreme. Keiner der 15 Wartenden kam auf die Idee, dass wir es vielleicht eilig haben könnten. Solange uns die Leitstelle in Frieden ließ, war das ja auch richtig. Niemand ließ uns vor, und so kam es, wie es kommen musste: Wir bekamen kein Eis, sondern stattdessen einen Einsatz.

Wir waren nicht weit entfernt. Einen Kilometer Luftlinie, Anfahrtszeit: eine Minute. Theoretisch hätten wir den Unfall sogar hören können. Die Feuerwehr hatte den Transporter bereits abgeschottet und einen Sichtschutz angebracht. Lenny lief zum Schulbus und zählte die Verletzten, ich stand vor Pauls weißem Lkw. Mein Blick fiel zuerst auf Paul. So wichtig die A-Säule für die Stabilität eines Autos ist, so gefährlich ist sie bei einem seitlichen Frontalaufprall. Paul hatte ihr nichts entgegenzusetzen gehabt. Die Säule hatte sich wie nichts in seinen Schädel hineingeschoben und das Gesicht geteilt. Überall nur Blut und Hirnmasse. Dennoch fühlte ich einen Puls an Pauls Handgelenk.

»Ist er tot?« Ich erschrak. Ludwig hatte mir den Kopf zugedreht. »Diese verdammte Gemüsekiste.«

»Nein, aber er ist schwer verletzt. Wie heißen Sie?«

»Ludwig.«

Während ich Ludwig unser weiteres Vorgehen erklärte, legten Lenny und ich venöse Zugänge zum Ausgleich des Blutverlustes. Die beiden Männer waren so schwer eingeklemmt, dass wir ansonsten keine weiteren Versuche zur Rettung unternehmen konnten. Zwei Rettungshubschrauber waren auf dem Weg zu uns.

Der Feuerwehrkommandant wollte zuerst Paul rausholen. Seine Männer setzten Schere und Spreizer ein. Die A-Säule brach, Scheiben zerplatzten. Dieselgeneratoren stanken und übertönten jeden Versuch, Ludwig auf dem Laufenden zu halten. Seine Augen glänzten in Panik, als wir Paul auf die Trage des zweiten Rettungswagens legten und sich ein Blutsee gebildet hatte. Paul lebte, aber alle Reaktionen waren erloschen. Einer der Helikopter brachte ihn in ein Krankenhaus der maximalen Versorgungsstufe, aber es nützte nichts mehr. Kurz vor Erreichen der Klinik starb Paul.

Nachdem Paul in den Hubschrauber gebracht worden war, kauerte ich am Beifahrersitz des zerstörten Transporters. Ludwig tat mir leid. Sehr leid. Er sah auf seine Beine, während ihm Tränen die alten Wangen hinunterliefen.

»Ich kann sie nicht spüren.«

Die Konsole hatte sich einen zerstörerischen Weg gebahnt. Plastik- und Eisenteile hatten Ludwigs Bauch knapp oberhalb des Beckens durchstoßen und schienen ihn von seinem Unterleib zu trennen. Das hieß, dass die Baucharterie ebenfalls beschädigt sein musste. Und mit ihr alle großen Gefäße in diesem Bereich. Es war aber wenig Blut zu sehen. Der drohende Blutverlust wurde vermutlich durch den Druck der Fahrzeugteile auf die Verletzung unterbunden.

Dies bedeutete im Klartext: In dem Moment, in dem wir Ludwig befreiten, würde er augenblicklich verbluten. Eine Alternative dazu existierte nicht. Kein Chirurg dieser Erde wäre in der Lage gewesen, das zu verhindern.

»Hast du einen Plan?«, fragte Lenny und sah mich an. Ich schüttelte den Kopf und fühlte mich so mies wie schon lange nicht mehr.

»Was ist? Holt mich endlich hier raus«, meinte Ludwig, »oder könnt ihr nicht?« Niemand bewegte sich. Keiner reagierte. »Ihr könnt es nicht ...«

»Nein.« Ich hielt seinen Arm, während ich den übrigen Männern bedeutete zu gehen. Auch Lenny, der sich jedoch in der Nähe bereithielt. Auf der Straße herrschte Stillstand.

»Wir wollten das Gemüse in meinen anderen Laden bringen. Später wollte ich mich mit Lena treffen.«

»Ihrer Frau?«

»Ja. Wir haben heute Hochzeitstag.«

Ein Brechreiz stieg in mir hoch, den ich aber unterdrücken konnte. »Das kann nicht wahr sein«, dachte ich. Ich sprach es nicht aus. Lenny hatte mitgehört und versuchte, Lena mithilfe der Polizei zu finden und herzubringen. Ich sagte es Ludwig.

»Quatsch. Sie soll lieber ins Krankenhaus kommen. Da kann ich sie besser gebrauchen.«

»Ludwig …«, begann ich vorsichtig.

»Ja?«

»Wir werden es nicht schaffen.« Pause. Das Rauschen der Straße hallte an uns vorbei. »Es tut mir so leid.«

»Ich muss sterben?«

»Sie sind sehr schwer verletzt. Wenn wir Sie hier rausholen, werden Sie verbluten.«

Ludwigs Gesicht war eingefallen. Ausgemergelt und blass, als ob er eben aus dem Vietnamkrieg nach Hause gekommen wäre. Dabei waren seit dem Unfall nur 50 Minuten vergangen.

»Und Lena? Und die Kinder?«, fragte Ludwig.

»Ich weiß es nicht. Ich hoffe, dass Lena es hierherschafft, bevor es so weit ist.«

Der Blutdruck fiel weiter in Richtung Keller. 70 zu 40, Puls 120. Durch den Blutverlust driftete er in den Schock. Wir konnten ihn nicht mehr lange stabilisieren, denn Ludwig verlor einfach zu viel davon.

»Wie ist Sterben?«, fragte er mich schließlich.

»Ich glaube, dass es Erlösung und Freiheit bedeutet.«

»Keine Schmerzen?«

»Nein. Nur einen kurzen Moment Atemnot.«

»Aber Lena ... sie schafft es nicht mehr rechtzeitig zu mir.« Ludwig weinte.

Weit und breit war nichts von ihr zu sehen. Kein Polizeifahrzeug, das Lena mit Blaulicht an die Einsatzstelle gebracht hätte. Ich bot Ludwig an, ihm Morphium verabreichen zu lassen, damit er die Schmerzen besser ertragen könne. Aber er lehnte es ab. Systolischer Blutdruck: 40. Puls: kaum tastbar. Ludwigs Stimme war jetzt fast nicht mehr zu hören. Ich drehte die Infusionen weiter auf. Doch es war nutzlos, und jeder von uns wusste es.

»Ich liebe sie«, sagte er noch und schloss die Augen, während seine Seele dorthin verschwand, wo ihr Ursprung gewesen war.

Lenny und ich haben Lena später am Krankenhaus getroffen. Sie hatte Ludwigs Sachen in Empfang genommen und darüber entschieden, was mit seiner sterblichen Hülle geschehen sollte. Als ich ihr Ludwigs letzten Satz mitteilte, brach sie zusammen. Ich wollte ihr das trotzdem nicht ersparen, denn sie hatte ein Recht darauf, von den letzten Minuten ihres Mannes zu erfahren. Und seinen letzten Satz, der ihr allein gegolten hatte.

Ludwig hatte ich erzählt, was er meiner Meinung nach am ehesten über das Sterben hatte hören wollen – unerheblich, ob ich daran glaubte oder nicht. Er hatte es mir abgenommen.

Sie sehen aber gar nicht gut aus!
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