
Nur fünf Minuten
Sommerzeit – Volksfestzeit. Zumindest bei uns findet das alljährliche Volksfestspektakel in der Regel im August statt. Unsere Rettungsdienstorganisation stellte dafür immer einige Kollegen ab, die in der dortigen Sanitätswache Dienst taten, um das Wohl und die Gesundheit der Volksfestbesucher zu sichern. In der Volksfestwache gab es zum Beispiel einige Liegen zum Ausnüchtern, Verbandsmaterial, Infusionen, einen Defibrillator, Sauerstoff und noch allerlei anderes Zeug, mit dem man sich gebührend um die Wehwehchen der Kirmesbesucher kümmern konnte. Die üblichen Einsätze dort beinhalteten Suffnasen, die ihre Grenzen nicht kannten, oder Raufbolde, die ihre Meinungsverschiedenheiten mit Vorliebe im Rahmen des großen Rummels austrugen. Zwischendurch gab es auch mal einen Kreislaufkollaps, weil jemand es bei großer Hitze versäumt hatte, ausreichend Wasser zu trinken.
Das Gelände lag genau auf unserem Weg vom Krankenhaus zur Wache. Was lag also näher, als uns eine figurschädigende Schokobanane einzuverleiben und dem kollegialen Small Talk vor der Sanitätswache zu frönen?
Auf einmal kam ein Junge auf uns zugerannt.
»Schnell. Kommen Sie mit! Er kann nicht mehr atmen ...«
»Wer kann nicht mehr atmen?«, fragte ich.
»Der Mann. Er ist da vorne beim Getränkestand.«
Ich blickte Lenny an, anschließend den Wachleiter der Sanitätswache. Eine dienstliche Anweisung besagte blöderweise, dass wir mit unserem Rettungswagen auf keinen Fall den Kirmesplatz befahren durften. Die Gefahr, Betrunkene oder Kinder anzufahren, war einfach zu groß. Dazu waren die Kollegen der Sanitätswache da. Sie schnappten sich also den Notfallrucksack nebst fahrbarer Trage und machten sich auf den Weg. Der Patient sollte zunächst vor Ort vorversorgt und dann zu unserem RTW gebracht werden.
Lenny steckte sich derweil ein Zigarillo an und lehnte sich an den Wagen. Eine Zigarillolänge später gab es die erste Meldung der Kollegen über Funk.
»Wachleitung? Wir brauchen sofort einen Notarzt. Akute allergische Reaktion auf einen Wespenstich.«
»Notarzt wird verständigt. Es ist nicht viel los auf dem Platz. Soll ich euch doch den RTW aufs Gelände schicken?«
»Ja.«
Der Wachleiter winkte, doch wir hatten die Lagemeldung mitgehört und setzten uns entgegen der Dienstanweisung bereits in Bewegung. Ich verfrachtete den Rest meiner halb aufgegessenen Schokobanane ins Seitenfach. Später sollte ich dort einen unappetitlichen, in Papier eingewickelten, gelbschwarzen, nach Banane müffelnden Klumpen vorfinden.
Im Schritttempo schob sich der RTW in Richtung des mittlerweile stattlichen Menschenauflaufs. Lenny sagte nichts. Während der Fahrt zogen Bilder eines erstickenden und vor sich hin röchelnden Menschen, den eine verschluckte Wespe gerade in den Rachen gestochen hatte, durch meinen Kopf. Und was konnte nicht alles während der Behandlung schieflaufen. Der venöse Zugang könnte nicht klappen, die Intubation fehlschlagen oder der Patient inmitten der vielen Menschen kollabieren, die uns während unserer Arbeit auf die Finger sahen. Ich musste an einen meiner Träume während meiner Ausbildung denken, in der ein Praktikant sich ja grundsätzlich immer ziemlich unsicher fühlt. Inmitten eines Wiederbelebungsszenarios ging ich in diesem wirren Traum in den Keller, um den Defibrillator zu holen. Als ich den Raum betrat, sah ich an jeder Wand Regale mit je 50 unterschiedlichen Geräten. Das Problem war, dass mir jedes dieser Geräte völlig unbekannt war und ich daher unverrichteter Dinge wieder hinauflaufen musste. Sigmund Freud hätte seine wahre Freude an mir gehabt. Aber als routinierte Rettungsassistenten hatten wir keinen Grund zur Beunruhigung. Ich schüttelte daher das beklemmende Gefühl des Traumes schnell ab.
»Guten Tag, mein Name ist Strasser. Was ist passiert?«
Der junge Mann, den ich auf Anfang 30 schätzte, hatte ein allergierotes Gesicht und großflächige Quaddeln im Bereich seines Halses. Glücklicherweise schien die Situation nicht so schlimm, wie uns der Junge anfangs glauben gemacht hatte. Einen Notarzt brauchten wir aber trotzdem, da der Mann Medikamente gegen den Wespenstich erhalten musste.
»Eine Wespe hat mich in die Schulter gestochen. Ich wusste bisher nicht, dass ich allergisch gegen Wespen bin.«
»Haben Sie sonst irgendwelche Vorerkrankungen oder bekannte Allergien, Herr ...«
»... Adamski. Ich habe eine Gräserallergie und nehme regelmäßig Fenistil.«
»Haben Sie Atemnot?«
»Anfangs war es schlimmer. Jetzt spüre ich nichts mehr davon.«
Alles bestens. Die Atemnot war verschwunden, der Ausschlag zwar ärgerlich und nicht besonders hübsch, aber ungefährlich. Herr Adamski stieg in unseren Rettungswagen ein, und während Lenny einen venösen Zugang legte, schickte ich die Helfer der Sanitätswache fort. Sie hatten ihren Job gut gemacht.
Eine allergische Reaktion wird in vier Stadien eingeteilt. Zunächst kommt es zu Juckreiz und Quaddeln. Dann folgen Atembeschwerden, Schwellungen und ein Absinken des Blutdrucks. Ab dem dritten Stadium wird es gefährlich. Beim Patienten setzen bedrohliche Atemnot und Bewusstseinsstörungen ein, zu denen sich im weiteren Verlauf ein anaphylaktischer Schock gesellt. Dabei erweitern sich die Blutgefäße. Wasser lagert sich im Gewebe ein, der Blutdruck fällt ab, der Puls wird flach. Richtig unangenehm wird es im vierten Stadium – es kommt zum Herz-Kreislauf-Stillstand.
Ich übergab die medizinische Lage an den Notarzt. Dessen Anweisung an uns war eindeutig: Herr Adamski sollte eine Ampulle des für ihn nicht unbekannten Fenistils und eine Ampulle Kortison gegen seine Allergie erhalten.
»Herr Adamski, es wird Ihnen gleich besser gehen. Die Medikamente sind hervorragend und wirken wie der Teufel«, scherzte ich. Doch Herr Adamski verlor plötzlich jegliche Gesichtsfarbe.
»Herr Adamski?« Lenny schmiss das Blutzuckermessgerät aus der Hand. »Herr Adamski!«
»Was ist los?« Der Notarzt war sichtlich verwirrt.
»Ich ... krieg ... keine ... Luft!« Herr Adamski griff sich an den Hals. »Helft mir. Luft ...« Sein Gesicht schwoll in Sekundenschnelle an, und er begann zu röcheln.
»Das Kortison ...« Der Notarzt stockte und sah die leere Ampulle an.
»Luft ...« Herr Adamski sank in sich zusammen und lief blau an. Wir packten ihn und zogen seine rund 90 Kilogramm Gewicht auf unsere Trage. Jetzt sagte er nichts mehr und schnappte nur noch nach Luft.
»Herr Adamski? Verdammt, er reagiert nicht! Was zum Teufel passiert hier gerade?«, fragte ich, griff den Beatmungsbeutel und schloss den Sauerstoff an.
»Ich fürchte, er reagiert hochallergisch auf das Kortison«, antwortete der Notarzt.
Kortison ist eigentlich ein sehr wirksames Medikament, das unter anderem oft und gerne bei allergischen Reaktionen eingesetzt wird. Wie alle Medikamente kann aber auch dieses mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit eine allergische Reaktion auslösen. Und bei einem Mittel, das eigentlich gegen eine allergische Reaktion eingesetzt wird, ist das besonders blöd.
Herr Adamskis Blutdruck lag bei 90 zu 60, der Puls bei 140 Schlägen pro Minute. Er rutschte in einen massiven allergischen Schock. Wir gaben ihm Adrenalin und weitere Medikamente, die der Misere entgegenwirken sollten, aber nichts wirkte. Der Blutdruck sank weiter, die Herzfrequenz stieg. Eine bislang völlig harmlose Situation drohte völlig zu entgleisen.
Seit der Injektion des Kortisons waren gerade einmal vier Minuten vergangen. Der Blutdruck war nicht mehr messbar, das Adrenalin versagte seine Wirkung.
»Und jetzt?«
»Der Druck. Wie ist der Druck?«, fragte der Notarzt.
»Nicht messbar.« Lenny begann mit der Herzdruckmassage.
»Was sagt das EKG?«
»Nichts mehr. Nulllinie.« Ich starrte ungläubig auf das EKG und drückte den Beatmungsbeutel. Der Brustkorb des Mannes hob und senkte sich wieder. Lenny meldete der Leitstelle eine Reanimationssituation. Das konnte einfach nicht wahr sein.
Nach nur fünf Minuten schien die Situation gänzlich aussichtslos. Keine unserer Maßnahmen wirkte, kein Medikament führte zu irgendeinem Effekt, das EKG zeigte keinerlei Regung. Und wir waren es auch noch gewesen, die Herrn Adamski das Gift in die Vene gespritzt hatten. Aber diesen Verlauf hatte niemand von uns ahnen können. Ich hätte selbst bis zu diesem Zeitpunkt eine derartige Reaktion niemals für möglich gehalten.
Herr Adamski starb knapp eine Stunde nach Gabe des Kortisons absolut unerwartet im Krankenhaus an einer völlig profanen Kortisoninjektion. Bis dahin hatten wir alle unser Bestes gegeben. Wir hatten ihn nach allen Regeln der Kunst reanimiert, ihm Adrenalin und noch einige andere Spezialitäten aus unserem Medikamentenampullarium verabreicht – nichts hatte geholfen. Nachdem wir dann wiederbelebend in die Notaufnahme gerast waren und noch immer eine Nulllinie auf dem EKG zu sehen gewesen war, hatte der internistische Aufnahmearzt das Ganze beendet.
Schweigend standen wir schließlich vor der Ambulanz. Jeder starrte in eine andere Richtung. Wir waren einfach fassungslos. Lenny zog an seinem Zigarillo und pustete den Rauch in die Luft. Es gibt Dinge, gegen die man einfach nicht gefeit ist. Obwohl wir bestens auf alle Situationen vorbereitet sind, sagt der Körper eben manchmal Nein. Und wir müssen das dann so akzeptieren. Ob wir wollen oder nicht.