
Strokealarm
An manchen Tagen gibt es eine seltsame und unerklärliche Häufung gleichartiger Einsätze. Aber mir war bisher nicht gelungen, die Frequenz bestimmter Leiden anhand von Statistiken vorherzusagen. Weder gibt es eine Kumulation von Herzinfarkten zu einer prägnanten Uhrzeit, noch passieren Herz-Kreislauf-Stillstände zu einer speziellen Tages- oder Nachtzeit. Die einzige Klarheit herrscht bislang über Einsätze in Bezug auf Motorradunfälle. Die sind im Winter natürlich seltener als im Sommer.
»Heute ist wieder so ein Kreislaufwetter«, sagte Lenny und biss in seinen Burger.
»Was ist denn bitte Kreislaufwetter? Hast du heute schon mal jemanden im Kreis laufen sehen?«
»Unsinn. Hast du es eben nicht gehört? Drei RTW haben in Folge ’nen Kreislaufkollaps gefahren.«
»Das heißt noch gar nichts. Du stehst wohl auch auf Bauernregeln, oder?«, frotzelte ich.
»Du wirst schon sehen.«
»Kräht der Lenny aufm Mist, ändert sich das Wetter – oder es bleibt, wie es ist«, meinte ich lachend, während Lenny ausstieg, um einen Zigarillo zu rauchen. Er hatte die Tür noch nicht ganz zugeschlagen, da alarmierte uns die Leitstelle über einen Kreislaufkollaps in einem benachbarten Ort.
Das Treppenhaus war mit Hieroglyphen irgendwelcher Analphabeten vollgeschmiert, die damit wohl ihren Gangstatus markieren wollten. Unsere Latexhandschuhe blieben am Geländer kleben. In dem Siffladen hatte scheinbar schon lange niemand mehr einen Putzlappen in die Hand genommen. Irgendwo briet jemand Schweineschnitzel.
Die Schwester der 70-jährigen Patientin hatte dieser eigentlich nur ein gutes und friedliches Osterfest wünschen wollen. Als die Patientin aber nur »ja ... ja ... hmmm« gestammelt und nicht wie erwartet reagiert hatte, hatte die Schwester in der Rettungsleitstelle angerufen und um Hilfe gebeten.
Auf dem Klingelschild stand »Habermann«. Die Frau hatte die Tür bereits geöffnet. Sie wirkte verwirrt, blickte in der Diele herum und sagte nichts.
»Was ist passiert?«, fragte ich Frau Habermann, die nur dastand und nichts machte.
»Lassen Sie uns ins Wohnzimmer gehen. Dort würden wir Sie gerne untersuchen. Sie sind doch Frau Habermann, oder?« Frau Habermann nickte und lief ins Wohnzimmer, wo sie sich auf einen Stuhl setzte. Sie schien uns zu verstehen.
Ich blickte zu Lenny, der mir zunickte. Wir befürchteten eine Gehirnschädigung. Möglicherweise lag ein Schlaganfall vor. Frau Habermann war offenbar nicht in der Lage, Worte zu formen. Sie wollte es, doch je mehr sie sich bemühte, desto weniger gelang es ihr. Und sie schien zu realisieren, dass etwas nicht stimmte. Ich vermutete daher einen Schlaganfall im Broca-Areal des Gehirns. Das Broca-Areal ist eine Region der Großhirnrinde und beinhaltet eine der Hauptkomponenten des Sprachzentrums. Wenn dort ein Schlaganfall vorliegt, geht die Fähigkeit verloren, Worte zu formen und auszusprechen. Das Sprachverständnis bleibt dabei in der Regel relativ gut erhalten, sodass die Patienten ihren eigenen Zustand realisieren und als bedrohlich empfinden.
Wir starteten unseren Stroke-Algorithmus. Dazu gehören der venöse Zugang, eine Blutentnahme und der möglichst zügige Transport in die Klinik, in der eine notfallmäßige Computertomografie durchgeführt wird. Wenn dort ein Schlaganfall erkannt wird, erfolgt das medikamentöse Auflösen des Gefäßverschlusses mittels eines hochpotenten Lysemittels. Der Einsatz dieses Medikamentes ist an enge Vorgaben gebunden. Hatte der Patient zum Beispiel erst kürzlich eine Operation, darf das Medikament nicht eingesetzt werden. Auch die Zeit spielt eine herausragende Rolle. Das Zeitfenster, innerhalb dessen eine Lyse erfolgen muss, umfasst nach Eintritt der Symptome für einen Schlaganfall nur wenige Stunden. Wenn dieser Zeitraum überschritten wird, treten bei Anwendung der Lyse erhebliche bis sogar lebensgefährliche Nebenwirkungen auf.
Ich las die Versichertenkarte in unser Datengerät ein, während Lenny die Infusion anschloss.
»Fertig. Wir können«, sagte er. Ich betätigte den »Versenden«-Schalter im Programm des Datengerätes und jagte die Informationen via Internet in die Klinik.
Eine Sekunde später ertönte an der Anmeldung der Nothilfe unseres Krankenhauses der Schlaganfallalarm. Die mit unserem Datengerät erfassten Angaben werden über das Internet ans Krankenhaus übermittelt. Die ebenfalls alarmierte Neurologin wertet die Daten aus und trifft die Entscheidung, den Computertomografen hochfahren zu lassen. Außer den Patientendaten sind auch noch Blutdruck- und Blutzuckerwert, Herzfrequenz, Vigilanz und Lähmungserscheinungen vermerkt. Sollten noch Fragen vorliegen, kann uns die Neurologin direkt auf unserem Diensthandy erreichen.
Lenny jagte die Nothilfe hoch. Wir sprinteten an der Anmeldung vorbei und informierten die Neurologin auf dem Weg zum Computertomografen über den Vorfall.
»Wann hat man die Patientin zuletzt ohne die Symptome gesehen?«, fragte die Ärztin.
Ich schluckte. Diese Frage konnten wir nicht beantworten. Die Lyse durfte daher nicht mehr durchgeführt werden. Wäre der noch zulässige Zeitpunkt nur knapp überschritten, könnte der Neurologe das Risiko noch abwägen und die Lyse trotzdem anwenden. Aber ohne einen Anhaltspunkt für einen Symptombeginn gab es keine Möglichkeit. Der Rettungsdienst war zu spät gekommen.
Während ich mein Notfallprotokoll komplettierte, klingelte mein Diensthandy. Ich ging ran.
»Hier spricht die Leitstelle. Wie lange braucht ihr noch?«, fragte eine forsche Stimme.
»Keine Ahnung. Einige Minuten.«
»Geht das etwas genauer?« Der Ton war aggressiv.
»Ich weiß es nicht. Warum?«
»Ich hätte einen Folgeeinsatz für euch. Also?«
»Also was?«
»Na ... wie lange braucht ihr jetzt noch? Sonst muss ich jemand anderen schicken.« Die Stimme fing an, mir auf die Nerven zu gehen.
»Einfache Regel: Je länger du mich hier von meiner Arbeit abhältst, desto länger wird es dauern.«
Ich legte auf, schimpfte den Disponenten einen Affen und ging in Richtung meines Rettungswagens.
»Die Leitstelle hat gefragt, wie lange wir noch brauchen«, informierte mich Lenny und kam auf mich zu. »Verdacht auf Schlaganfall.«
Schon wieder. Schien also wirklich dringend zu sein. Und wir waren wieder einmal der einzige noch verfügbare Rettungswagen für insgesamt 100 000 Menschen.
Diesmal berichtete der 69-jährige Viktor Matos, dass ihn plötzlich ein akuter Schwindel und Übelkeit überkommen hätten, während er gerade an seinem Computer arbeitete. Nur wenn er sich hinlegte, ging es ihm etwas besser. Die Frage, ob er denn in der Vergangenheit schon mal Schwierigkeiten mit dem Innenohr gehabt habe, verneinte der Mann. Aufgrund fehlender rhythmischer Augenbewegungen, auch Nystagmus genannt, schied auch ein ungefährlicher Lagerungsschwindel aus. Der Mann wirkte auffallend krank und kollabierte fast, wenn er sich an den Rand seiner Couch setzte. Puls, Blutdruck, Blutzucker und Sauerstoffsättigung befanden sich im Normalbereich. Auch hier war meine Verdachtsdiagnose aufgrund des plötzlichen Eintrittes ein akuter Schlaganfall. Daher dasselbe Spiel wie zuvor: venöser Zugang, Blutentnahme und ein zügiger Transport in die Notaufnahme unseres Klinikums, wo wir von der Neurologin bereits erwartet wurden. Das Zeitfenster war sehr gut. Herr Matos lag nach nicht einmal einer Stunde nach Eintritt der Symptomatik auf dem Tisch des Computertomografen. Es stellte sich heraus, dass der Mann einen Schlaganfall im Bereich des Hirnstammes erlitten hatte, der erfolgreich lysiert werden konnte. Ihm würden zumindest von diesem Apoplex, wie der Schlaganfall in der fachlichen Kurzform bezeichnet wird, keine Folgeschäden bleiben.
Noch während Lenny und ich unseren Rettungswagen klarmachten, rief uns die Leitstelle erneut.
»1/83/1, fahren Sie: Warenberg, Kipfelstraße 13, Notfallpatient Hahnel hat Sprachstörungen.«
Wieder ein möglicher Schlaganfall. Das war doch unglaublich.
Herr Hahnels Frau bat uns in die Villa im Hinterland unserer Stadt. Der Helfer vor Ort war bereits zugange und berichtete Lenny und mir, dass Herr Hahnel nach seinem einstündigen Mittagschlaf plötzlich nicht mehr in der Lage gewesen sei zu sprechen. Zum Verhängnis könnte Herrn Hahnel in diesem Fall werden, dass nicht unverzüglich ein Notruf erfolgt war. »Wir wollten nicht unnötig stören«, meinte die Ehefrau dazu.
Immer wieder das gleiche perfide Spiel. Während der Stadtmensch den Rettungswagen schon bei einem quer sitzenden Pups herbeizitiert, rufen Bewohner der ländlichen Gegend häufig erst an, wenn die Kacke richtig am Dampfen und es fast zu spät ist.
Wie vorhin bereits erwähnt, geht es bei einem akuten Schlaganfall aber vorwiegend um Zeit. Es darf so wenig wie möglich davon vergeudet werden. Jede verschenkte Minute bedeutet für den Patienten das Absterben von Hirngewebe. Was würden Sie unternehmen, wenn Sie oder ein Angehöriger plötzlich nicht mehr sprechen könnten? Ich hoffe nicht, dass Sie so lange warten würden, bis der Schlaganfall von selbst ausheilt ...
Meine Armbanduhr zeigte in diesem Moment 16.07 Uhr. Wenn Herr Hahnel bis halb zwei geschlafen und anschließend noch eine Zeit lang gewartet hatte, blieben ihm noch 20 Minuten bis zum Ablauf der Lysegrenze. Wir mussten uns also sputen.
Der Helfer vor Ort nahm uns einiges an Arbeit ab. Diesmal klappte es noch zügiger als bei den ersten zwei Schlaganfällen. Nach zehn Minuten befanden wir uns mit Sondersignal auf dem direkten Weg in die Klinik. Die Neurologin meinte auf dem Weg zum Computertomografen, dass es wirklich schön wäre, wenn sie uns an diesem Tag nicht mehr sehen müsste. Gut, dass sie mir dabei zuzwinkerte und lachte.
Herr Hahnel war seiner unendlich langen Krankheitsgeschichte nach ein internistisches Polytrauma. Die Akte las sich wie eine mehrseitige Aneinanderreihung medizinischer Fachausdrücke, von denen sich jeder einzelne ziemlich ungemütlich anhörte. Unter anderem war hier von einer hochgradigen linksseitigen Verengung der Halsschlagader, einer koronaren Herzerkrankung mit zwei implantierten Stents, Bluthochdruck und dem bei so einer Geschichte obligatorischen tablettenbehandelten Diabetes mellitus die Rede. Und jetzt stellte sich auch noch ein Infarkt des Broca-Areals heraus, der Herrn Hahnel die Sprache raubte.
Wie so oft spielt im Rettungsdienst das Glück ab und an auch eine Rolle. Die Neurologin überlegte, traf schließlich eine sehr knappe Entscheidung und zog die Lyse durch – Herr Hahnel hatte Glück: Nach kurzer Zeit gingen die Sprachstörungen bei ihm zurück. Die ärztliche Therapiefreiheit hatte ihn vor Schlimmerem bewahrt. Aber Herr Hahnel würde den Rest seines Lebens wesentlich besser auf sich aufpassen müssen, als er es bislang getan hatte.