Notarzt

Sonderrechte

Wenn Sie einen Rettungswagen steuern, sehen Sie die Welt mit anderen Augen. Sie haben es in der Regel eilig. Ihnen geht es nicht nur darum, eine Pizza auszuliefern oder ein Paket zum Empfänger zu bringen, wobei ich diese Berufsgruppen damit keineswegs abqualifizieren möchte. Aber Sie haben es in einer Notfallsituation nun einmal etwas eiliger. Für Sie dreht es sich in dieser Situation um einen Menschen, der sich unter Umständen in genau diesem Moment in Lebensgefahr befindet. Dafür steht Ihnen auch ein spezielles Werkzeug zur Verfügung – der Rettungswagen. Dessen sinnvolle Benutzung erfordert nicht mal eben einen eintägigen Erste-Hilfe-Kurs, sondern eine umfassende medizinische Ausbildung.

Der Rettungswagen, auch RTW oder Sanka genannt, ist ein großes, mächtiges und lautes Fahrzeug mit einer ausgefallenen Lackierung – wir möchten schließlich auffallen. Kein bloßes Blassgrün oder Hellbraun, sondern auffälliges Weiß mit Streifen in rotem Sonderlack, für dessen Verwendung man eine spezielle Zulassung benötigt. Die vier in den Ecken angeordneten Blaulichter sollen mit Rundum-Leuchtkraft und großer Reichweite noch mehr der geschätzten Aufmerksamkeit des Autofahrers auf deutschen Straßen auf sich ziehen. Das Martinshorn bekräftigt mit einem in dreieinhalb Meter Entfernung gemessenen Schalldruck von 120 Dezibel den Wunsch des Retters, möglichst schnell an seinen Einsatzort zu gelangen. Paragraf 38 der Straßenverkehrsordnung beschreibt den Vorrang von Blaulicht und Martinshorn und stellt das Missachten des Wegerechts unter Strafe. Übersetzt aus dem Juristendeutsch heißt der Text: »Mach jetzt unverzüglich den Weg frei«, was bedeutet, dass der Bürger sein eigenes Fahrzeug sofort an die Seite zu fahren hat, damit der Rettungswagen durchkommt.

Was er meistens aber nicht tut. Über die Gründe kann man nur spekulieren. Wir Retter diskutieren dies auch häufig, besonders und gerne im Straßenverkehr. Eine Diskussion darüber artet gelegentlich in wüstes Geschimpfe und Gefuchtel in Richtung des Autofahrers aus, der gar nichts versteht. Auch nicht, dass er einfach nur auf die Seite fahren soll.

Auch die alljährliche Winterproblematik stellt viele Autofahrer vor eine unüberwindbare Hürde aus Schnee und Eisglätte. Mit jeder Flocke schwindet die ohnehin bescheidene Übersicht im Straßenverkehr dramatisch, und die Fahrt endet oft mit einem Rums gegen den Bordstein. Für uns Retter wäre es besser, wenn überhaupt kein Schnee fiele. Stellen Sie sich den durchschnittlichen deutschen Wagenlenker vor, der auf das erste Flöckchen eines Jahres trifft. Zuerst verringert der Fahrzeugbesitzer die Geschwindigkeit, um dann durch unvorhersehbare Bremsmanöver auszuloten, wie glatt die Straße denn wirklich ist. Das Rumgegurke endet für den dahinter Fahrenden nicht immer positiv. Die Scheibenwischer werden gleich auf höchstes Wischintervall gestellt, um ja keiner einzigen Flocke eine Chance auf das Trüben der fahrerischen Weitsicht einzuräumen. Der Abstand zwischen Gesicht und Lenkrad wird so weit verringert, dass die Scheibe zusätzlich durch den Hauch des Atems beschlägt. Der Fahrer ignoriert sämtliche Mittellinien und Verkehrszeichen, die er im nebulösen Fahrzeuginneren ja auch nicht mehr sieht.

Aus meiner Sicht existieren vier unterschiedliche Typen von Autofahrern, die uns Rettern das Leben so schwer wie möglich machen: Typ Nummer eins ist einer der gefährlichsten aller Autofahrer. Sobald ein Rettungswagen das Einsatzhorn einschaltet, steigt er unverzüglich auf die Bremse, um einen neuen Rekord in Sachen kurzer Bremsweg aufzustellen. Und da steht er dann. Wenn dieser Autofahrer wenigstens noch ein bisschen auf die Seite fahren würde, hätten wir zumindest den Hauch einer Chance, an ihm vorbeizukommen.

Typ Nummer zwei reagiert überhaupt nicht. Entweder hat er den Lautstärkeregler seines MP3-Radios so eingestellt, dass er das Einsatzhorn für einen Bestandteil seines Hip-Hop-Gerülpses hält, oder er ist gehörlos.

Typ Nummer drei ist Dogmatiker. Der Typ »Oberlehrer« will nichts hören und ignoriert den Rettungsdienst grundsätzlich. Wenn wir mehrere Kilometer hinter so einem skrupellosen Querulanten hergefahren sind, wünschen wir uns eine Axt oder einen Revolver oder ihm vier geplatzte Reifen auf einen Schlag. Und dass der Arsch getrost in die Hölle fahren möge. Dort muss er dann wenigstens keinerlei Verkehrsregeln beachten.

Typ Nummer vier wartet strategisch ab. Eine günstige Gelegenheit muss her, um sein Fahrzeug zum Ausweichen an den Straßenrand fahren zu können. Mehrere Auswahlmöglichkeiten stehen dem Taktiker zur Verfügung. Der Punkt vor einer Bergkuppe erscheint ihm perfekt, hier ist allerdings die Gegenspur für uns nicht einsehbar. Alternativ hält Nummer vier in einer steilen Rechtskurve, in der das gleiche Problem besteht. Ein weiterer beliebter Haltepunkt ist auf einer Geraden parallel zu einem anderen Autofahrer, der sich auf der Gegenspur befindet. Als ob sie sich beide »Guten Tag« sagen wollten. Und wir passen hier wieder nicht durch und müssen dabei zusehen, wie zwei Autofahrer völlig an der Realität vorbei reagieren. Sofern man dies als Reaktion bezeichnen kann.

Auch an Sonntagen ist das Gefahre besonders ärgerlich. Der Begriff »Gefahre« kommt übrigens nicht von »Gefahr«, sondern von »Fahren«, hat aber durchaus mit beiden etwas zu tun. Es ist auf jeden Fall die Handlung, die ein Autofahrer hierzulande am schlechtesten beherrscht, wenn wir mit unserem Rettungswagen vorbeimüssen. Da es auf allen Kontinenten Rettungswagen gibt, stellt sich dieses Problem wahrscheinlich nicht ausschließlich in Deutschland.

Eines Tages fuhr ich zusammen mit Lenny hinter einem silberfarbenen, blank polierten Wagen her. Das Kennzeichen wies kein EU-Symbol auf. Lenny mutmaßte, dass der Fahrer seine Karre schon lange besaß und eine bestimmte Altersgrenze überschritten haben musste. Der Fahrer stammte – ausgehend von seinem Kennzeichen – wohl aus der nahe gelegenennen Großstadt. Klar – es war Sonntag, an dem die Großstädter ihr Fahrzeug Gassi fahren oder mal eine andere Landschaft sehen wollen. Durch die Heckscheibe erspähte ich das berühmte gehäkelte Klorollenhütchen nebst Wackeldackel. Der Kopf des dunkelbraunen Filzköters schwabbelte hin und her, als hätte man ihm einen Nagel ins Kleinhirn gerammt. Völlig grundlos nahm der Fahrer des Wagens stakkatoartig Bremsmanöver vor und brachte Lenny und mich damit zur Weißglut.

Dann waren sie da: der Einsatz und die Gelegenheit, sich würdig von dem Methusalem zu verabschieden. Fernlicht, die blauen Strobo-Blitzer und das Einsatzhorn gleichzeitig aktiviert. Erst nach links, dann nach rechts und dann wieder nach links – der Alte konnte sich einfach nicht entscheiden, wohin er ausweichen sollte und welches Lenkmanöver zu diesem Anlass angemessen erschien. Warum fuhr er nicht einfach zur Seite? Keine Ahnung, aber nach einem weiteren Kilometer Verfolgungsjagd erledigte sich das Problem von selbst. Dort kam ihm nämlich die rettende Idee, eine zielgenaue Vollbremsung frontal in Richtung der einzigen Verkehrsinsel dieser Straße durchzuführen, was dem armen Kerl sicherlich eine verbogene Spurstange und eine Inanspruchnahme des ADAC eingebracht haben dürfte. Sehr ärgerlich dürfte für den Opa zudem gewesen sein, dass wir kurz vor Erreichen dieser Verkehrsinsel ohnehin links abbiegen mussten. Aber wenigstens hatte er versucht, auf die Seite zu fahren und uns Platz zu machen. Das ist mehr, als man von so manch anderem behaupten kann.

Und irgendwann war er da, der Tag, an dem es knallte, weil ein Autofahrer einfach gar nichts überriss. Zusammen mit einem Klinikarzt führten wir einen Notfalltransport in eine städtische Klinik der Maximalversorgung durch. Der bereits intubierte und maschinell beatmete Patient hatte eine ausgedehnte Blutung im Gehirn, es bestand akute Lebensgefahr. Die große Kreuzung war in Sichtweite, das Martinshorn angeschaltet. Kurz vor Erreichen der Stelle zeigte unsere Ampel rot. Lenny bremste stark ab und vergewisserte sich, dass uns der Querverkehr wahrgenommen hatte und stehen geblieben war. Dann fuhr Lenny in die Kreuzung ein und beschleunigte wieder – wir hatten es ja eilig, den Patienten ins Krankenhaus zu bringen.

Nur einem einzigen Verkehrsteilnehmer war der Sinn des Ganzen offenbar verborgen geblieben. Zeugen berichteten später, der Fahrer des hellblauen Wagens habe die Schlange, in der er sich ganz hinten befunden hatte und die sich gebildet hatte, weil die Autos extra für uns stehen geblieben waren, auf der Gegenspur überholt. Dann war er in die Kreuzung eingefahren und uns in die Flanke gedonnert. Lenny erschrak durch den Aufprall und riss am Lenkrad. Der Rettungswagen kippte, knallte auf die Seite und rutschte noch einige Meter auf dem Asphalt entlang. Plastikteile und ein Außenspiegel flogen durch die Gegend. Auch die Frontscheibe des hellblauen Wagens war geborsten und die Motorhaube einen halben Meter kürzer. Rauch trat aus, vermutlich war irgendwo ein Kühlerschlauch geplatzt. Dann herrschte einige Sekunden lang Stille, bis Menschen herbeiliefen, um uns zu helfen und die Leitstelle zu benachrichtigen.

Der Arzt lag verletzt hinter dem Begleiterstuhl in der Ecke und blutete am Kopf. Der Beatmungsschlauch hatte sich vom Tubus des Patienten gelöst. Ich kam in der anderen Ecke zu mir. Nichts schien mehr an seinem Platz zu sein. Das EKG und das Beatmungsgerät waren aus der Wandhalterung gerissen, Schubladen standen offen, alles war verstreut. Der Patient hing in seinen Gurten und war durch die fehlende Beatmung blau angelaufen. Lenny stieg durch die Hecktür ein, da der RTW auf der seitlichen Schiebetür lag.

»Seid ihr verletzt?«, fragte er besorgt. »Ich hab den Typen nicht kommen sehen!«

»Ich bin okay. Doc? Alles klar?«

»Ja, alles gut«, antwortete dieser und schnappte sich den Beatmungsbeutel. Durch das ärztliche Eingreifen gewann der Patient wieder etwas an Farbe. Dann kamen von überall her Rettungsfahrzeuge angefahren. Eine Besatzung half uns zusammen mit Kollegen von der Feuerwehr, den Patienten in einen anderen RTW zu bringen.

Während wir von den anderen Rettern versorgt wurden, sah ich den Unfallverursacher an einem Streifenwagen stehen und sich um Kopf und Kragen reden. Der Polizist schien zornig. Die Zeugenaussagen sprachen eindeutig gegen den Unfallverursacher. Auch das einige Monate später gefällte Urteil bestätigte seine Schuld und war ein teurer Spaß für den Typen. Er musste mehrere tausend Euro Strafe zahlen.

Der Patient hat das Unglück leider nicht überlebt. Er verstarb kurz darauf in der Klinik. Man konnte allerdings nicht feststellen, ob die nicht beherrschbare Gehirnblutung letztlich seinen Tod verursacht hatte oder eher die Tatsache, dass uns der Irre unseren Rettungswagen umgefahren hatte.

Sie sehen aber gar nicht gut aus!
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