
Kein Schlaf
Zwischen zwei und sechs Uhr morgens sind die Einsätze am schlimmsten. Dann, wenn die Nacht tiefschwarz ist und die Zeit sich anfühlt, als wäre sie eine klebrige und zähflüssige Masse. Kein Mensch ist normalerweise um diese Uhrzeit in unserer Stadt auf der Straße – ein paar armselige Kreaturen ausgenommen, die als Nachtschwärmer umherziehen und etwas Glück suchen.
Unser Gegner ist milchig trüb und schwer wie Blei: Müdigkeit. Ein treuer Begleiter, der das Glitzern der Metropole wie einen LSD-Trip aussehen lässt.
Jeder Retter kommt an einem bestimmten Punkt an die Grenze seiner physischen Belastungsgrenze. Nachdem ich keine 18 Jahre mehr jung war, hatte sich meine Aufmerksamkeit längst ins Nirwana verabschiedet. Der Klang des Alarmempfängers traf mich daher mit der Wucht eines Cassius-Clay-Hiebes mitten ins Gesicht.
Es war drei Uhr morgens, und wir bogen schon bald in die Straße ein, die uns die Leitstelle über Funk mitgeteilt hatte.
»Frag noch mal nach. Da ist keine Hausnummer fünf«, schimpfte Lenny und kurbelte am Lenkrad. Ich nahm den Hörer und kontaktierte die Leitstelle.
»1/83/1, die Anruferin sagte, es muss sich um ein blaues Haus handeln, das auf dem ehemaligen Maisfeld steht.«
»Ob diesen Theoretikern da drüben klar ist, dass es hier draußen dunkel ist wie in einem Katzenpopo?« Lenny hielt seine Taschenlampe aus dem Fenster und suchte die Hausmauern ab. »Was für ein Maisfeld? Und wie zum Teufel sollen wir das sehen, wenn ein Haus draufsteht?«
Auch zum Thema »Navigation zu einem Notfallort« haben Murphys Ahnen Grundsätze aufgestellt, die sich wunderbar auf die Leitstelle übertragen lassen. Wenn nämlich ein Anrufer seine Anschrift bei der Notrufentgegennahme falsch übermittelt, wird der Disponent sie den Rettern auch so weitergeben. Aber selbst wenn der Disponent aufgrund des einzigartigen Namens einer Straße überhaupt nichts verkehrt verstehen könnte, würde er sie trotzdem fehlerhaft an den Rettungswagen durchgeben. Und die Beschreibung des Einsatzortes würde immer so umständlich wie möglich sein – wie in diesem Fall.
Das Haus war wirklich blau und befand sich entgegen der numerischen Logik einer Hausnummernvergabe versteckt im hintersten Bereich der Straße. Der tragische Einsatz zog sich leider wie Kaugummi. Eine alte Frau hatte ihren Mann verloren, der auf dem Weg zur Toilette einen Herzstillstand erlitten hatte. Die Frau war erst viel später aufgewacht, hatte sich auf die Suche gemacht und ihn leblos auf dem Parkett ihres Wohnzimmers gefunden. Außer dass wir den Hausarzt für die Leichenschau benachrichtigten, konnten wir nichts mehr ausrichten. Die Totenstarre war bereits vorangeschritten.
Wir organisierten noch jemanden vom Kriseninterventionsteam, damit die arme Frau wenigstens einen zuverlässigen Beistand für die kommenden Stunden hatte. Da auch der Kollege einige Zeit brauchte, bis er eintraf, kamen wir erst gegen sechs Uhr morgens wieder in die Wache zurück.
Um 6.15 Uhr wurde ich endlich abgelöst. Als ich die Wache verließ, roch es nach Morgen, und gleißend helles Licht schlug mir entgegen. Die Farben explodierten in meinem geplagten Neocortex, spielten verrückt und schmerzten in meinen Augen. Die Wirklichkeit sah für mich aus wie ein enger grauer Tunnel, der unendlich zu sein schien. Während der Tag begann, hoffte ich nur auf gütigen und erholsamen Schlaf. Diese Hoffnung bestand exakt so lange, bis ich meinen Wagen vor meiner Wohnung geparkt hatte.
»Ah ... der Nachbar. Guten Morgen, guten Morgen! So früh schon auf den Beinen?«, sang der Alte aus dem Nebenhaus und wackelte mit einem Arm winkend auf mich zu. Verdammt. Ich wusste, dass mir der Senior wieder eines seiner längeren Gespräche ans Knie nageln wollte, die mich ungefähr so brennend interessierten, wie wenn in Moskau eine Matroschka aus Plastik umfällt. Und überhaupt: Wenn ich nicht so früh auf meinen Beinen gewesen wäre, stünde ich in genau diesem Moment vermutlich nicht vor dieser Hackfresse, die vor lauter Tatendrang, blindem Aktionismus und rhetorischen Fragen nur so zu strotzen schien. Ich weiß, ich bin unausstehlich, wenn ich müde bin.
»Habe ich Ihnen schon von meinem neuen Hobby erzählt – dem Scolytinae? Dem Borkenkäfer, von dem es bei uns in Europa gut 150 Arten gibt?«
Manche Menschen merken einfach nicht, dass man sich für ihr Gesalbe nicht die Bohne interessiert. Vor meinem müden geistigen Auge erschienen seltsame Bilder: Wenn der Alte im Titicacasee von einem Krokodil zum Frühstück verspeist würde, dann könnte ich endlich die wohlverdiente, herrliche Ruhe in meinem Bett auskosten.
»Viel Spaß mit Ihren Freunden«, kürzte ich den Ausflug in die heimische Fauna schließlich ab, schritt zügig in Richtung Haustür und hörte den Alten dabei noch weiterfaseln, dass die Borkenkäfer heuer eine Invasion starten würden.
Die digitale Funkuhr zeigte sieben Uhr, als ich ins Bett fiel und noch nicht einmal mehr den Aufschlag auf meiner Matratze realisierte. Ich weiß nach manchen Nachtdiensten oft nicht mehr genau, wie ich nach Hause gekommen bin. Erinnern Sie sich an die unbesiegbare Müdigkeit aus Ihrer Jugendzeit, nachdem Sie eine Nacht in der Disco durchgefeiert hatten? Und Ihre werte Mutter Sie am Morgen darauf entweder in die Kirche oder zum Frühstücken mit Tante Leni gejagt hat? Sie waren absolut nicht begeistert von Ihrem Martyrium, machten gute Miene zum bösen Spiel und litten wie ein Hund.
Wau.
Was?
Wau, wau.
Mist. 7.45 Uhr. Der Köter der Nachbarn bellte. Aber nicht lange. Nur gerade lange genug, dass ich aus dem absoluten Tiefschlaf erwachte und wie ein Zombie im Bett saß.
Wau, wau, wau.
Dieser mistige Drecksköter hatte eine Stimme, die durch Mark und Bein ging. Erneut durchzuckten mich grauenhafte Gedanken: Ich stellte mir vor, wie ein Skalpell sanft durch die Stimmbänder des kleinen Kläffers glitt. Es hätte ja auch ein großer Hund sein können, der ein tiefes, sonores Bellen produzierte. Aber nein, es musste der Schichtarbeiter-inkompatible reinrassige und schwarz befellte Mittelspitz sein. Eine Fußhupe, die so winzig war, dass sie in eine Schuhschachtel passen würde. Möge ihn ein curaregetränkter Pfeil in den kleinen, schwarzen, fluffigen Hintern treffen, dachte ich noch, als ich wieder einschlief und von ebenjenem Pfeilgift der südamerikanischen Indios träumte.
8.30 Uhr.
Wauwauwauwauwauwauwauwau ... wau.
Die Töle drehte jetzt voll auf. Und ich drehte am Rad.
Sie müssen wissen, dass dieser Hund meiner Meinung nach eine angeborene Verhaltensstörung aufwies. Wenn die Terrassentür der im Erdgeschoss lebenden Nachbarn und Hundehalter aufging, rannte das Vieh in den Garten und kläffte alles an, was sich bewegte. Selbst der letzte sich im Wind wiegende Grashalm entging dem Hund nicht. Ich hatte meine Nachbarn schon öfter damit konfrontiert, aber es hieß nur, dass der Hund doch »kaum bellen« würde und dass »er ja taub sei und auf Zeichensprache einfach nicht reagiere«. Nolens volens akzeptierte ich diese Ignoranz und besorgte mir schließlich Ohrenstöpsel. Das Zottelvieh hatte gewonnen.
Und ich war wieder im Tiefschlaf angekommen. In meinem Traum saß ich in einem zweimotorigen Flugzeug aus dem Zweiten Weltkrieg, bei dem die Türen fehlten. Der Lärm der beiden Außenmotoren dröhnte unaufhaltsam und ließ mich auf meinem Sitz vibrieren.
Es war genau neun Uhr, als ich realisierte, dass dies überhaupt kein Traum war. Mein retardierter Nachbar aus einem der Häuser um mich herum hatte den Rasenmäher angeschmissen – so wie er es alle zwei Tage tat. Der Herr hatte ein ausgeprägtes und inniges Verhältnis zu seinem Garten, den er tagaus, tagein hegte und pflegte. Natürlich konnte der Affe nicht wissen, dass ich Rettungsassistent war und im Schichtdienst arbeitete. Da sich meine Wohnung im Dachgeschoss befand, kam im Sommer das Problem dazu, dass ich alle Fenster aufreißen musste. Gezwungenermaßen, denn bei 40 Grad Raumtemperatur war an Schlaf sowieso nicht zu denken – ob mit oder ohne Lärmschutz in den Ohren.
Der Nachbar besaß eines der pompösesten Grundstücke in unserem Viertel. Ein Grundstück von normaler Größe hatte circa 350 Quadratmeter Grundfläche. Wenn man dann die Fläche des Hauses abzog, blieben noch in etwa 200 Quadratmeter Fläche übrig, die als Rasenfläche zu gebrauchen waren. Aber nein, dieser Herr nannte mindestens 700 verdammte Quadratmeter sein Eigen, von denen zu meinem Unglück bestimmt an die 500 Quadratmeter eine nutz- und damit mähbare Rasenfläche darstellten.
Wenigstens schränkte das Lärmschutzemissionsgesetz den Betrieb eines benzinbetriebenen Rasenmähers empfindlich ein. Der Mistkerl hielt sich auch an die von der Gemeinde vorgeschriebene Zeit, die leider immer noch so umfangreich war, dass an ausreichenden Schlaf nicht annähernd zu denken war. Sie können sich nicht vorstellen, wie pedantisch man einen Rasen mähen kann. Der Typ war so lange nicht zufrieden, bis der letzte arme Grashalm exekutiert und das hinterste Blümchen enthauptet war.
Keine zwei Minuten später stolperte der Nachbar endlich vor seinen eigenen Rasenmäher. Ein unbarmherziges »Rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrh« und »Aaaaargh« erklangen, jemand schrie und rief nach einem Notarzt. Und dann: herrliche Stille. Eine Szene, die sich natürlich nur in meinem Kopf abspielte.
Sie können sich sicher vorstellen, dass so ein Rasenmäher ebenso wie eine Kettensäge in der Lage ist, großen Schaden an menschlichem Gewebe zu verursachen. Das denke ich mir auch jedes Mal, wenn mein Nachbar auf seinen Obstbäumen herumturnt und die Äste stutzen möchte. Die Leiter lässig an den Stamm gelehnt, ohne jeglichen Sicherungsposten, wie eigentlich von der Berufsgenossenschaft vorgeschrieben, hält er sich mit der linken Hand an einem dicken Ast fest und schwingt mit der rechten Hand lässig die Säge. Auch eine außer Rand und Band geratene Säge ist in der Lage, ein königliches Gemetzel anzurichten, aber dem heimwerkenden Nachbarn scheint das herzlich egal zu sein.
Ein wenig Schlaf später schellte es an der Tür. Ich hatte vergessen, die Klingel auszustellen. Die nette junge Postbotin hatte es eilig, kam schnellen Schrittes die Treppe hochgesprintet und hielt mir das Unterschriftenpad unter die Nase. Sie würde mir das nächste Päckchen einfach in mein Mülltonnenhäuschen legen, wenn ich diesen Ablagevertrag unterschreiben würde, sagte sie. Dann drückte sie mir neben meinem Päckchen auch den Wisch in die Hand und verschwand wieder. Der Ablagevertrag landete im Papiermüll, und mir fielen die Augen zu.
Meine Wohnung ist eigentlich schön. Überdimensionale Galeriefenster in der Küche, amerikanischer Schnitt und ein großer einladender Balkon sorgen für ein beinahe perfektes Wohlbefinden. Die Wände sind aber leider so dünn, dass ich jede Bewegung unter mir wahrnehmen kann. Auch wenn gegen Nachmittag mein Nachbar von unten nach Hause kommt und die Haustür so in den Türrahmen knallt, dass ich wieder im Bett sitze. Anschließend muss zuerst der Köter ausgiebig begrüßt werden, was in einer Lautstärke stattfindet, die jeglicher Beschreibung spottet. »Jajajajajajajaja … jajajajajajajajaja … ohhhhhh … Puschel … jajajajajajaja!« Und wenn ich nicht wüsste, dass da jemand einen Hund begrüßt, würde ich weiß Gott was denken. Zehn Minuten später führt der Nachbar den kleinen Misthund zum Gassigehen aus und lässt mich auch das durch ein lautes »RUMMS!« mit der Haustür wissen.
15 Uhr. Zeit zum Aufstehen. Mein Schlafdefizit brachte mir Augenringe und eine außerordentliche Stinkelaune ein. Das Wissen um drei weitere anstehende Nachtdienste trug auch nicht gerade zur Steigerung meiner Gemütslage bei. Ich war einfach todmüde.
Schichtdienst ist eine wirkliche Herausforderung, auch wenn dieser von Zeit zu Zeit Vorteile bringt. Nach vier Nächten habe ich zum Beispiel einige Tage frei und kann Sachen erledigen, für die sich andere Mitbürger einen Tag Urlaub aus den Rippen schnitzen müssen. Einkäufe lassen sich gemütlich tagsüber erledigen, wenn die Konsumtempel allesamt leer sind. Auch Behördengänge kann ich wesentlich stressfreier abarbeiten, wenn ich auf den Gängen nicht halbtotgetrampelt werde.
Mir ist natürlich klar, dass sich meine komplette Nachbarschaft nicht ausschließlich nach mir und meinem Dienstplan richten kann. Da es verboten und unmoralisch ist, Menschen zu verprügeln und Hunde einfach zu töten, werde ich mich mit den Gegebenheiten arrangieren und Abhilfe schaffen müssen. Der Umzug in ein Haus mit fundamental dickeren Wänden und Dreifachverglasung ist bereits beschlossene Sache.