Notarzt

Heiligabend

An Heiligabend 2011 lag wie so oft kein Schnee. Spröde Blätter starben als Überreste eines vergangenen Herbstes auf den trockenen Gehwegen vor sich hin und waren wieder einmal nicht von weißer Pracht bedeckt.

In den Rettungswachen gibt es alljährlich am 24. Dezember Raclette. Das entspricht zwar weder den Grundsätzen einer gesunden Ernährung, noch trägt es zur schlanken Linie bei, ist aber trotzdem eine feine Sache und sehr lecker.

2011 räumte Lenny also gerade den letzten schmutzigen Teller in die Spülmaschine, als der Alarmempfänger den weihnachtlichen Frohsinn unterbrach. Von wegen stille Nacht. Die Bürger dieser Stadt hatten eine Menge Fragen an die Disponenten der Rettungsleitstelle, zum Beispiel: »Ich habe einen Schnupfen – was mache ich jetzt?«

»Ich bin schwanger – und nun?«

»Ich benötige einen Arzt, um Drogen zu erhalten.«

»Mein Kumpel hat gesoffen, liegt grunzend in der Ecke, und ich weiß nicht, was ich machen soll.«

Fragen wie die ersten drei können normalerweise ohne Bedenken an den kassenärztlichen Bereitschaftsdienst weitervermittelt werden. Dafür gibt es eine zentrale Rufnummer, über welche der Anrufer die gewünschte Beratung bekommt. Oft jedoch schicken die Disponenten lieber einen Rettungswagen an den Ort des Geschehens, anstatt diese Anfragen zu beantworten. Der Grund hierfür erschließt sich mir auch nach 20 Jahren Mitarbeit im Rettungsdienst nicht. Schließlich ist von vornherein völlig klar, dass wir nichts anderes unternehmen können, als dem Patienten zum Gang in die Apotheke zu raten. Oder wir führen anstelle des Leitstellendisponenten den Anruf bei der kassenärztlichen Zentrale durch und bestellen einen Arzt.

Vor einigen Jahren las ich einen netten Spruch an der Wand einer psychiatrischen Klinik: »112 – wir sind für jeden Spaß zu haben.« Ein Retter muss ihn dorthin geschmiert haben, als er einen Patienten einlieferte. Damals hätte ich nicht gedacht, dass dieser Spruch so wegweisend für meine zukünftige Tätigkeit als Rettungsassistent sein würde.

An diesem Heiligabend bekamen wir die zuletzt aufgeführte Einsatzmeldung – eine mutmaßliche Alkoholvergiftung irgendwo am Bahnhof.

»Manche Menschen kapieren einfach nicht, wann der Spaß ein Loch hat«, meinte Lenny und schaltete einen Gang zurück. »Wann hattest du deine letzte Schnapsdrossel?«

»Vor zwei Wochen. Irgend so ein Besoffski, der sein Beziehungsende mit Mister Jim Beam gefeiert hat.«

»Und?«

»Das Ergebnis war ein vollgekotzter RTW und zweimal Umziehen für die Besatzung.«

Wenn ein wacher, ansprechbarer Betrunkener sich zu übergeben droht, gibt es im Rettungsdienstgeschäft grundsätzlich zwei Handgriffe, die schnell hintereinander durchgeführt werden müssen. Richtig angewendet, verhindern sie, dass sich die Kotze in der Umgebung, sprich dem Rettungswagen, verteilt, und sorgen so für eine wesentlich angenehmere Raumluft. Der erste Handgriff besteht darin, das Hemd des Trinkers schnellstmöglich rundum in dessen Hose zu stecken. Mit dem zweiten Handgriff wird das Hemd am Kragen über den Mund des Patienten gezogen, so wie im Winter, wenn es eiskalt ist und man versucht, sich vor dem schneidenden Wind zu schützen. Die Kotze bleibt so innerhalb des Hemdes und direkt am Patienten. Das Ergebnis ist toll: Denn die Besatzung des Rettungswagens muss im Anschluss an diesen Einsatz lediglich marginale Reinigungsarbeiten durchführen und den Rettungswagen nicht einer Komplettreinigung unterziehen. Der Nachteil: Dieses Spiel ist beim aufnehmenden Personal der Krankenhausnothilfe nicht besonders beliebt und lässt den Retter in deren Gunst sinken. Die Schwestern und Pfleger der Nothilfe sind nämlich leider für die Reinigung des Patienten verantwortlich.

Ein offensichtlich betrunkener Mann empfing uns mit beiden Armen wedelnd am Bahnhofsvorplatz. Er lallte etwas von einem Freund namens Horst, der im Anschluss an Jesu Geburtstagsfeier völlig dicht auf der anderen Seite der Bahnhofsunterführung liegen geblieben war und nicht mehr selbstständig aufstehen konnte. Er redete in Lichtgeschwindigkeit, die Situation schien ihm doch irgendwie peinlich zu sein. Während Lenny den RTW auf die andere Seite der Unterführung fuhr, nahm ich meinen Notfallrucksack und machte mich in Begleitung des Trinkers auf den Weg. Das Neonlicht flackerte, während der Klang unserer Schritte in der Bahnhofsunterführung von den Wänden schallte. Der Trinker redete immer noch: »Ich habe ihn in einer Bar kennengelernt. Auf einmal war er betrunken und kann jetzt nicht mehr aufstehen. Er liegt mit halb heruntergelassenen Hosen auf der Straße.«

Na toll. Vollgesoffen bis unters Dach und vollgeschissen bis zum Scheitel.

»Wie viel Alkohol hat Horst denn konsumiert?«, fragte ich.

»Nur zwei Bier. Und ein paar Klare«, war die Antwort.

»Und wie viele Biere hatte er zwischen dem ersten und dem letzten Bier?«

»Keine Ahnung, auf jeden Fall hat er sich in die Hosen gemacht«, nuschelte der Trinker, »alles is voll.«

Geruchstechnisch sehr reizvolle Aussichten für Heiligabend.

»Eigentlich wollte ich ihn mit nach Hause nehmen«, fuhr der Trinker fort, »aber ich habe ihn nicht hochgekriegt.«

»Wie bitte?!«, fragte ich nach.

»Ich konnte Horst nicht vom Boden aufheben. Ich wollte ihn zu mir nach Hause nehmen. Dann wollte ich ihn abduschen.«

»Was? Um dann was zu tun?«

»Abduschen. Ich bin, müssen Sie wissen, beinahe Aushilfspfleger.«

Ein Lachen konnte ich mir gerade noch verkneifen. Den Trinker hatte offenbar ein Helfersyndrom überkommen. Oder er hatte Zweifelhaftes im Schilde geführt, das er bei sich zu Hause hatte durchführen wollen.

Als wir den Platz erreichten, wo Horst eigentlich liegen sollte, war von ihm nichts mehr zu sehen. Nur ein paar vollgeschissene Taschentücher und Zeitungspapier flatterten im Wind. Eine Weihnachtsmütze mit auffällig braunen Spuren an der Krempe vervollständigte die skurrile Szene. »Die wollen dir doch nur helfen, Horst ...«, lallte der Trinker. »Er sagte vorhin noch, er wolle mit dem Bus nach Hause.«

Mit unseren Taschenlampen suchten wir die Umgebung ab. Der Trinker versuchte sich derweil an einer Beschreibung von Horst. 1,70 Meter groß, dick, grauer Vollbart und graues Haupthaar. Und etwa Mitte 50. Der Trinker war maximal 30 Jahre alt, untersetzt und hatte lichtes Haar. Ein obskures Bild entstand in meinem Rettungsdienst-Kopfkino …

Während nun Lenny mit dem Trinker die Büsche in der näheren Umgebung absuchte, blieb ich beim Rettungswagen und wünschte mich sehnlichst in die Wache zurück. Ich versuchte mir auch vorzustellen, wie die beiden wohl in diese Situation gekommen waren. Vermutlich hatte der Trinker Horst in der Bar angesprochen. Hatte etwas von einem Bier und noch einem gefaselt. Dann vielleicht noch von einem Klaren. Zwei Leidensgenossen hatten Weihnachten in dieser heruntergekommenen Kneipe am Abgrund der Gesellschaft begossen, bis der Abend eine entscheidende Wende genommen hatte. Horsts Schließmuskel hatte irgendwann seinen Dienst aufgegeben. Des Trinkers neu gewonnener Freund hatte somit ein Problem. Und der Trinker wollte wohl helfen. Da aber der Begriff »Rettung« auch in »Rettungsdienst« vorkam, rief er schließlich uns.

Lenny kam unverrichteter Dinge zurück. »Komm, wir fahren. Der Typ ist ausgeflogen«, meinte er.

»Alles klar. Ich hab eh keine große Lust, mir die Arbeit auch noch selbst zu suchen. Wer nicht will, der hat schon«, sagte ich.

Mittlerweile war es schon nach drei Uhr. Der Trinker faselte etwas davon, jetzt selbst noch durch die Gegend ziehen und nach Horst suchen zu wollen. Lenny und ich verabschiedeten uns also von ihm und versprachen ihm noch, auf unserer Rückfahrt die Augen offen zu halten.

Auf der Hauptstraße angekommen, sahen wir eine Bushaltestelle. Lenny verringerte die Geschwindigkeit, und wir ließen unsere Blicke über die Bushaltestelle schweifen. Im Bushäuschen stand tatsächlich jemand, auf dessen Statur die Beschreibung von Horst perfekt passte.

»Ich glaub, mein Horst pfeift ...«, meinte Lenny.

»Halt ja nicht an! Nicht anhalten, sonst fällt dem noch ein, doch ins Krankenhaus zu wollen«, sagte ich zu Lenny, besorgt um das Wohl meiner armen Nase.

Horst stand da, wie der Trinker ihn beschrieben hatte. In seinem knielangen grauen Mantel verbarg er vermutlich allerlei Köstlichkeiten. Seine Augen waren zu dünnen Schlitzen zusammengekniffen. Als er seinen Kopf etwas anhob, traf sein alkoholgetrübter Blick den meinen. Er wirkte so, als würde ihn irgendetwas blenden.

Beim Näherkommen sah ich braune, verschmierte Streifen an Horst. Im Gesicht an der Wange, am Mantel und an Horsts ehemals weißem Hemdkragen. Man hätte meinen können, Horst hätte eine Nutella-Orgie gefeiert und vergessen, sich danach zu waschen. Offenbar wartete Horst auf den Bus, der ihn zurück in sein Dorf bringen sollte. Er bedurfte keinerlei Rettung durch uns, da er sich bester Gesundheit erfreute. Lediglich seine Fähigkeit, rechtzeitig eine Toilette aufzusuchen, hatte an diesem Abend wohl etwas gelitten.

»Hast du mal auf die Uhr gesehen? Es ist erst Viertel nach drei«, bemerkte Lenny.

»Der wartet bestimmt noch eine Weile auf den nächsten Bus«, stimmte ich zu. »Da hat er noch Zeit, wieder nüchtern zu werden.«

Also drückte Lenny auf die Tube und fuhr davon.

Die nächste Zeit konnte ich auf jeden Fall kein Nutella mehr zum Frühstück essen.

Sie sehen aber gar nicht gut aus!
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