
Der Aussteiger
Thomas hatte viele dieser leuchtend gelben Zettel geschrieben und sie anschließend in der ganzen Wohnung verteilt. Außer ihm war derzeit niemand zu Hause. Er hatte nicht aufgeräumt und sich auch sonst keinerlei Gedanken über seine Mutter gemacht. Auch nicht darüber, wie sie sich wohl danach fühlen würde. Und schon gar nicht über seinen Vater, der schon längst abgehauen war. Thomas war sich sicher, dass seine Mutter erst am späten Abend heimkommen würde. Als die hässliche grüne Uhr mit dem roten Kuckuck im Wohnzimmer an diesem sonnigen Nachmittag 16 Uhr schlug, schritt er zur Tat.
Thomas hatte einige Wochen zuvor seine Lehrstelle verloren, weil in der Lackiererei Personal abgebaut werden musste. Der Job wäre perfekt für Thomas gewesen, der nach seiner Entlassung schlimme Zeiten auf sich zukommen sah. Zwar war er erst 19 Jahre alt, aber er wähnte sich vor dem Nichts und ohne Chance, jemals wieder mehr erreichen zu können. Einer seiner Hausärzte hatte vor Monaten eine latente Depression diagnostiziert, aber Thomas glaubte, es besser zu wissen. Er meinte, sich nur überarbeitet zu haben. Seine Medikamente gegen die Depression hatte er daher nie genommen.
Er war ein begeisterter Grillfan. Beim Grillen konnte er so schön entspannen und abschalten. Konnte sich fallen lassen und dem Alltagstrott und den ganzen Problemen entkommen, die das Leben mit sich brachte. An diesem Tag hatte er seinen nagelneuen Grill ausgepackt, den ihm seine Mutter erst einige Wochen zuvor zum 19. Geburtstag geschenkt hatte. An diesem Tag war eine gute Gelegenheit, um das Ding einzuweihen.
Sein fensterloses Zimmer lag im Souterrain der Erdgeschosswohnung, in deren Wohnzimmer eine schmale Wendeltreppe mit gusseisernem Geländer nach unten führte. Er hatte den Grill in seinem Zimmer aufgebaut und die Kohle angezündet. Das entstehende Kohlenmonoxid würde langsam anfangen zu wirken und ihm das Bewusstsein rauben, bis dann schließlich der Tod durch Ersticken eintreten würde. Der Grill kokelte vor sich hin, und das CO zeigte allmählich Wirkung, es machte Thomas gleichgültig, ja sogar etwas euphorisch. Dann nahm die Müdigkeit überhand, und er dämmerte langsam ein.
Thomas hatte jedoch nicht mit seiner Mutter gerechnet. Sie kam bereits um kurz nach 17 Uhr aus der Arbeit, da sie sich außerplanmäßig noch mit einer Freundin treffen wollte. Als sie über den hinteren Teil der Wohnung durch den Garten an die Terrassentür kam, entdeckte sie den gelben Zettel, der genau auf Augenhöhe klebte: »Vorsicht: Kohlenmonoxid! Lebensgefahr!«.
Wegen des sommerlichen Wetters war Fußball in der Wache angesagt. Das fröhliche Gekicke im Hof sorgte immer für einige Lacher im Kollegenkreis, da hier auch die Kollegen mitspielten, deren unglückliche Bewegungsmuster in Kombination mit ihrem eher massigen Äußeren an abstrakte Tanzfiguren aus dem Technobereich erinnerten. Stellen Sie sich Rainer Calmund beim Tanzen vor und wie dessen lässig-barocke Hüfte einen Tango schaukelt.
Mein Wachleiter, dessen Fensterfront in den Hof mündete, fand das Gekicke meist weniger lustig. Als ich am anderen Ende des Hofs die Lederkugel mit all meiner Kraft trat, flog der Fußball einen Bogen und verfehlte Lenny deutlich. Begleitet vom Dröhnen einer vibrierenden Fensterscheibe, knallte die Kugel wie eine Granate gegen das Fenster, hinter dem mein Wachleiter saß und dem Geschoss den Rücken zudrehte. Oh, oh.
Seine Reaktion erinnerte mich an schockierte Fußgänger im Straßenverkehr. Manchmal standen Passanten an der Ampel, drehten uns den Rücken zu und bemerkten uns erst, wenn wir kurz vor Erreichen der Ampel das Martinshorn anschalten. 120 Dezibel aus kurzer Distanz – da bleibt kein Höschen trocken. Das Höschen des Wachleiters in diesem Fall vermutlich auch nicht.
Die Kaffeetasse des Wachleiters ploppte ihm aus der Hand und knallte auf den Laminatboden. Die schwarze Brühe spritzte aus der Tasse und lief in jede Fuge. Das Wachleiterhemd war natürlich ruiniert. Die vor Zornesröte leuchtende Birne hätte bei Dunkelheit das Müngersdorfer Fußballstadion erhellen können. Blutdruck: vermutlich 290 zu 150. Die Stimmung wurde leider auch nicht besser, als Lenny ihm einen »Valiumleckstein« zur Beruhigung anbot. Wenn man in dieses Gesicht sah, hatte man nur einen Gedanken: schnell weg!
Der Einsatz hätte also nicht passender kommen können. Nachdem wir von der Leitstelle alarmiert worden waren, verließen wir schnellstmöglich die Garage, dabei drangen noch Wortfetzen wie »unmöglich«, »Sauerei« und »sollen bloß verschwinden« an mein Ohr.
»Suizidversuch durch Kohlenmonoxid« war die Einsatzmeldung. Auch für uns Retter bedeutete dies eine große gesundheitliche Gefahr. Kohlenmonoxid entsteht, wenn Materialien ungenügend verbrennen. Das farb- und geruchlose Atemgift verdrängt die Sauerstoffmoleküle von den roten Blutkörperchen und führt bei entsprechend hoher Konzentration zum Tod durch Ersticken, da der Körper nicht mehr mit Sauerstoff versorgt werden kann. Vorher wird das Opfer bewusstlos. Die Methode, durch Kohlenmonoxid zu sterben, hat in den letzten Jahren an Popularität gewonnen, da es sich hierbei um eine relativ sanfte Sterbemethode handelt. Der Lebensmüde schläft nämlich schmerzfrei ein.
Doch für uns bedeutet das ein großes Problem: Wenn ein Raum nämlich mit Kohlenmonoxid geflutet ist, bildet das Atemgift dort einen Kohlenmonoxidsee, und es genügen bereits wenige Atemzüge, um ebenfalls bewusstlos zu werden. Das bedeutet also akute Lebensgefahr für Helfer und Rettungskräfte, die mit so einer Szenerie konfrontiert werden.
Lenny und ich eilten durch den Garten in das Wohnzimmer und sahen überall gelbe Zettel mit immer derselben Aufschrift. Die Mutter rang vergeblich um Fassung und schrie, dass wir ihren Thomas aus seinem Zimmer herausholen sollten, da er sonst sterben würde. Damit hatte sie natürlich völlig recht.
Weinkrämpfe schüttelten die Mutter, die sich am Geländer festhielt und nach unten sah. In der Ferne ertönten die Martinshörner der Feuerwehr.
»Scheiße. Da unten liegt einer«, sagte ich zu Lenny, der an der geöffneten Terrassentür stehen geblieben war, »ist das CO-Messgerät unterwegs?«
»Ja. Wir kriegen ihn so nicht hoch. Feuerwehr mit Atemschutz ist auch unterwegs.«
»Ich hoffe, die Zeit reicht.«
»Holt ihn doch da raus! Er stirbt«, schrie die Mutter.
»Ihr könnt doch kurz runter. Nur ganz kurz und dabei die Luft anhalten. Das muss gehen!«, mischte sich ein Nachbar ein.
»Niemand betritt den Keller«, hielt ich dagegen und stellte mich in den Treppenabgang.
»Aber er stirbt«, kreischte die Mutter.
»Wer hier runtergeht, ist in Lebensgefahr!«, fuhr ich fort. Der Nachbar schüttelte den Kopf. Thomas lag auf dem Bauch am Fuß der Wendeltreppe. So, als ob er es sich im letzten Moment doch noch anders überlegt hätte. Ich stand oben am Geländer und blickte immer wieder hinunter, ohne irgendwelche Lebenszeichen bei Thomas erkennen zu können. Der Weg war so kurz, und doch konnte ich nichts tun. Ganz kurz erwog ich, einfach nach unten zu gehen, Thomas zu schultern und ihn nach oben zu bringen. Dämlich. Selbstgefährdende Gedanken. Doch mein Verstand siegte – ich ließ es bleiben. Eigentlich hätten wir die Wohnung überhaupt nicht betreten dürfen. Kohlenmonoxid steigt in der Luft zwar äußerst langsam nach oben, doch wussten wir nicht, wie lange Thomas schon unten lag. Die geöffneten Türen und Fenster sorgten jedoch für ausreichenden Durchzug.
Wir hatten bereits alles vorbereitet. Das Tragetuch aus Plastik lag im Wohnzimmer. Der Absauger und ein Beatmungsbeutel standen parat, und die Voranmeldung in der Druckkammer war von der Leitstelle erledigt worden. Die sogenannte Überdruckbeatmung mit hundertprozentigem Sauerstoff hilft dabei, das Kohlenmonoxid wieder vom Hämoglobin zu verdrängen. Auch hier kam es entscheidend auf den Faktor Zeit an.
Jetzt betraten mehrere Feuerwehrleute das Zimmer, sie hatten die Atemschutzmontur angelegt und waren bereit für weitere Instruktionen. Ich teilte dem ersten Feuerwehrmann mit, dass der Typ da unten schnellstens nach oben gebracht werden musste. Der Feuerwehrmann zögerte nicht lange, schnappte sich seinen Kollegen und stürmte die Wendeltreppe nach unten. Der Raumluftdetektor der Feuerwehr zeigte eine lebensgefährliche Konzentration des Giftes im Souterrain an.
Zu den geschätzten 50 Kilogramm Einsatzkleidung, Sauerstoffflaschen und diversen Geräten kam jetzt für die Feuerwehrmänner noch das Gewicht von Thomas dazu. Ich allein hätte es nicht geschafft, ihn hochzuschleppen. Denn mit knappen zwei Metern wies der gut durchtrainierte junge Mann immerhin fast 100 Kilogramm Körpergewicht auf. Die Feuerwehrmänner atmeten schwer und schnell. Mit den Sauerstoffflaschen stießen beide Männer immer wieder gegen das Geländer.
»Okay, hier aufs Tragetuch«, wies ich die beiden Männer an, denen der Schweiß aus allen Poren trat und die hochroten Köpfe hinabperlte. Thomas atmete flach und hatte eine schweinchenrosafarbene Gesichtsfarbe. So wie alle Menschen, die sich mit Kohlenmonoxid vergiftet haben.
Ich half ihm beim Atmen und beatmete ihn unterstützend mit reinem Sauerstoff. Das Pulsoximeter zeigte den trügerischen Sättigungswert von 98 Prozent an. Klar – das Messgerät konnte nicht zwischen mit Sauerstoff oder mit Kohlenmonoxid beladenen roten Blutkörperchen unterscheiden. Wir benötigten daher zusätzlich zur Raumluftmessung das Messgerät für Kohlenmonoxid im Blut. Kaum war dieser Gedanke ausgesprochen, betrat auch schon der zuständige Kollege das Wohnzimmer. In der Hand hielt er das kleine rote Kästchen mit der schwarzen Randgummierung. »CO«, stand in großen Lettern darauf. Das Display zeigte den unglaublichen Wert von 33 Prozent an. Normal ist nur ein sehr geringer Anteil an Kohlenmonoxid im Blut. Bei Rauchern kann die Konzentration schon mal auf sieben bis acht Prozent ansteigen. Ab zehn Prozent treten Symptome wie Kopfschmerzen und Übelkeit auf. Wenn der Wert im Display des CO-Messgerätes stimmte, war Thomas tatsächlich in akuter Lebensgefahr. Die mittlerweile eingetroffene Notärztin stimmte mir zu – der Mann musste intubiert werden.
»Ich mach die Intubation klar«, rief Lenny und eilte in Richtung Rettungswagen.
»Alles klar. Wir sind gleich so weit. Wollen schließlich pünktlich zum Feierabend wieder in der Wache sein«, sagte ich und drückte den Beatmungsbeutel aus. Die Mutter hatte mich zum Glück nicht gehört.
»Gib ihm das Eto und Midazolam«, meinte die junge Ärztin. Ich spritzte 30 und zehn Milligramm der beiden Stoffe in die Vene. Nach kurzer Zeit sollte der Mann eigentlich das Atmen komplett eingestellt haben, sodass wir es für ihn übernehmen konnten. Im Rettungsdienst kommt es aber leider ab und an einfach anders, als man denkt. Statt eines erwünschten Atemstillstands bekam der junge Mann einen Krampfanfall. Der ganze Körper fing an zu beben. Speichel ran das Gesicht hinab. Das Etomidat sollte Thomas eigentlich in einen narkoseähnlichen Zustand bringen. Es sollte Bewusstsein, Atmung und Reflexe ausschalten, aber offenbar wirkte es nicht.
»Gib ihm mehr«, befahl die Notärztin. Lenny gab nochmals zehn Milligramm und zusätzlich dieselbe Menge an Midazolam, das die durch das Etomidat entstehenden Zuckungen am ganzen Körper unterdrücken sollte. Wir warteten ab, aber der hässliche Zustand ließ einfach nicht nach. Vielleicht funktionierte eine Narkose mit dem milchigen Etomidat im Fall einer Vergiftung mit Kohlenmonoxid ja nicht? Thomas bekam insgesamt drei komplette Ampullen Etomidat – eine Menge, mit der man im Normalfall ein Rhinozeros schlafen legen könnte. Nun mussten noch Succinylcholin und Thiopental her. Die beiden Medikamente werden zusätzlich zum Kaliumchlorid für die amerikanische Giftspritze verwendet. Das Thiopental lässt den Menschen einschlafen. Succinyl lähmt die Muskulatur, sodass der Todgeweihte nicht mehr atmen kann. Das Kaliumchlorid erzeugt lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen und stoppt schließlich das Herz – Ende.
Unser Patient wurde jedoch nicht exekutiert, sondern intubiert und beatmet. Und es klappte.
»Der Helikopter steht am Sportplatz bereit«, meinte Lenny, nachdem er durch das Fenster geblickt hatte.
Das war unser Stichwort. Ich gab das Zeichen, und Lenny setzte den Rettungswagen in Bewegung. Der Rest war Routine. Übergabe an den Notarzt des Rettungshubschraubers, Umlagern auf deren Trage. Hineinschieben in den Rumpf und das Gemaule des Piloten, weil ich gegen die Antenne am Heckrotor gestoßen war.
Dann war der Einsatz beendet, doch den pünktlichen Feierabend hatten wir nicht geschafft. Aber was soll’s. Immerhin hatte der junge Mann den Selbstmordversuch überlebt. Knapp zwar, aber ohne Folgeschäden.
Jedes Mal, wenn in Zukunft wieder das fröhliche Gekicke in der Wache angesagt war, musste ich an diesen Einsatz denken. Auch daran, dass sich die Zeiten geändert haben, dass sich Menschen nicht mehr einfach erhängen oder die Pulsadern aufschneiden. Mittlerweile wird zu anderen Methoden gegriffen. Ersticken durch Kohlenmonoxid und Schwefelwasserstoff oder Vergiftungen mit Zyaniden sind »in«, schmerzfrei und schonend. Der Nachteil ist: Diese Methoden gefährden andere.
Mein Wachleiter drehte uns übrigens nie wieder den Rücken zu, wenn wir im Hof der Rettungswache auf die Lederkugel eindroschen. Auch seinen Kaffee trank er nur noch, wenn er uns und die Fensterfront im Blick hatte.