
Morbus Kobold
Gelegentlich werden wir dazu überredet, Praktikanten mitzunehmen. Das will eigentlich keiner so wirklich, da dies für uns überwiegend mit Arbeit verbunden ist. Trotzdem versuchen wir in solchen Fällen, die Praktikanten durch die Vermittlung unseres mal mehr, mal weniger breit gefächerten Wissens auf den knallharten Ernst des Rettungsdienstlebens vorzubereiten. Und das Ganze nach Möglichkeit so, dass sie während ihrer späteren Tätigkeit weder sich selbst noch jemand anderen umbringen werden. Den Job eines Rettungsassistenten muss sich jeder Anwärter schließlich in Kleinstarbeit unter völliger Aufgabe des Privatlebens aneignen. Mit diesen Schülern verhält es sich so wie mit allen Menschen in einer Kennenlernphase. Es gibt Menschen, die wie das blühende Leben in die Wache schneien und einem auf Anhieb sympathisch sind. Wenn dann noch Transferleistung, Sozialkompetenz und Wissbegier stimmen, ist die Person perfekt. Wenn besagte »Praktikanten« über blondes Haar und blaue Augen sowie die Körpermaße 90-60-90 verfügen, sind sie für die Männerdomäne Rettungsdienst nahezu ideal. In diesem Fall sah die Sachlage jedoch anders aus.
»Wer fährt denn heute die Tagschicht?«, fragte eine Stimme, während sich ein Kopf durch die Tür schob. Dieser gehörte zu einem 20-jährigen Bürschlein mit Topffrisur, einer viel zu großen Dienstjacke und einer Menge Streusel im Gesicht.
»Ich bin Lenny, das hier ist mein Kollege Christian. Du hast heute wohl mit uns beiden das Vergnügen.«
»Ja, ich soll mich bei Ihnen melden. Ich mache hier meine Abschlusswoche zum Rettungssanitäter.«
»Bist du überhaupt schon 18?«, fragte ich.
Die Begeisterung stand Lenny und mir ganz sicher in unsere Visagen geschrieben. Das würde keine ruhige Schicht werden, in der man sich auch einmal abseilen konnte. Nichts war es mit Schlafen auf der Couch oder Rumhängen am Krankenhaus. Einen Praktikanten dabeizuhaben bedeutete vielmehr, den ganzen Tag irgendwelche für das tägliche Rettungsdienstleben meist sinnlose Erklärungen abzugeben. Nach 20 Minuten ging auch schon der Piepser.
»Paul, wir müssen fahren«, informierte ich den Praktikanten.
Der Einsatz an sich war unspektakulär. Ein junger Mann war zu Hause über einen Umzugskarton gestürzt und hatte sich die Hüfte geprellt. Wir brachten ihn ohne weitere Zwischenfälle ins Krankenhaus, wo er humpelnd und jammernd vor den Augen des Chirurgen in ein Bett wechselte. Lenny beauftragte Paul damit, die Übergabe an den Chirurgen zu erledigen.
»Was soll ich denn da sagen?«, holte er sich Anweisung von Lenny.
»Ganz einfach. Zuerst schilderst du ihm, was vorgefallen ist. Dann erwähnst du Vorerkrankungen und Medikamente, die der Typ einnimmt.«
»Die Prellung, die der Typ hat, nennt man übrigens Morbus Kobold. Den Chirurgen kenn ich, der steht auf wenig Gequatsche und Fachbegriffe ...«, warf ich ein.
»Danke für den Tipp«, antwortete Paul und machte sich auf den Weg, um die Trage mit dem jungen Patienten in die Nothilfe zu schieben.
Der Chirurg staunte nicht schlecht, als Paul ihm die Verdachtsdiagnose mitteilte.
»Morbus Kobold. Nicht so tragisch.«
»Kobold? Du bist auch so ein Kobold.«
Der Patient war etwas irritiert, drehte sich zum Chirurgen und blickte diesen mit verwunderten Glubschaugen an, die ihn tatsächlich fast aussehen ließen wie einen Kobold. Auch Paul stand ein Fragezeichen deutlich sichtbar auf die Stirn geschrieben. Der Chirurg ließ sich nicht erst lange bitten und wandte sich dem Patienten zu: »Ich übersetze mal: Der Sanitäter meinte gerade, Sie hätten Ihren Staubsauger gevögelt. Dabei hatte Ihr Glied eine vernichtende Begegnung mit dem Häcksler im Endrohr des Saugers der Marke Kobold.« Stille. »Und wie geht’s ihm jetzt?«
»Wem?«
»Na, Ihrem Piepel«, antwortete der Chirurg mit spitzen Lippen und hochgezogenen Augenbrauen.
»Ich bin doch nur über diese blöden Umzugskartons geflogen und habe mir die Hüfte geprellt«, war die Patienten-antwort, die der Chirurg nach dem Blick auf Lennys Notfallprotokoll natürlich schon kannte.
Der Chirurg feierte seinen Scherz später im Aufenthaltsraum der Schwestern, die Pauls medizinische Kapriole in der Folge im gesamten Haus zum Tagesthema machten. Dass uns keine Schwester für diese praktikantenverachtende Schandtat rügte, zeigte uns, dass Paul auch hier zu diesem Zeitpunkt noch kein wirklicher Sympathieträger war.
Paul war zu Recht verärgert und verzog sich mit einem Chirurgiebuch in der Hand murrend in den Rettungswagen.
Auch später in der Wache ließen wir nicht von unserem armen Praktikanten ab. So merkte er beispielsweise erst nach einer Stunde, dass es die Extrasystolen nicht als Päckchen im medizinischen Materiallager gab. Zur Information: Eine Extrasystole ist ein medizinischer Begriff für einen Herzschlag außerhalb des normalen Herzrhythmus. Nichts also, das man verbrauchen oder gar wieder auffüllen könnte.
Den Witz mit der Blaulichtfarbe kannte Paul leider schon. Dabei schickt man einen unwissenden Praktikanten zu einem Apotheker und trägt ihm auf, Farbe für die Blaulichter eines Rettungswagens zu kaufen, da diese alle Jahre einen neuen Anstrich benötigten. Der Apotheker ist natürlich Insider und schockiert den Praktikanten mit allerlei unmöglichen Fragen, bis dieser entnervt aufgibt. Stellen Sie sich das Gesicht des Praktikanten vor, wenn er dann vor dem Rettungsdienstleiter steht und diesem mitteilen muss, dass die Blaulichtfarbe nicht zu bekommen war. Und dazu erst das Gesicht des Rettungsdienstleiters ...
Als das Schichtende nahte, setzten sich Lenny und ich an den Küchentisch, tranken Kaffee und resümierten den Tag. Paul gesellte sich dazu und fragte uns: »Warum verarscht ihr mich eigentlich andauernd?«
»Paul, schau mal: Jeder Praktikant wird so einer Art Probe unterzogen. Das ist wirklich alles nur Spaß und nicht böse gemeint.«
»Wieso nennt ihr mich eigentlich ständig Paul? Ich heiße eigentlich Bernhard ...«
»Wir hätten dich natürlich nach deinem Namen fragen können, das stimmt. Aber eigentlich wäre es deine Sache gewesen, dich vorzustellen. Das hast du zu Beginn irgendwie vergessen.«
»Tut mir leid.«
»Kein Problem, aber achte darauf, dass das nicht wieder vorkommt. Du machst dir dein Leben hier in der Wache sonst nur unnötig schwer.«
Vor einigen Jahren hatte sich das bei uns so eingebürgert. Da sich immer mehr Neulinge mangels guter Erziehung einfach nicht vorstellten, kam irgendwann jemand auf die Idee, Praktikanten einfach »Paul« zu nennen. Nein, es ist nicht so, wie Sie jetzt vielleicht denken. Weder Lenny noch ich hätten je auf eine so böse Idee kommen können. Das erledigte jemand anderes für uns.
Bernhard blieb nach Abschluss seines Lehrgangs für Rettungssanitäter übrigens bei uns, machte seine Ausbildung zum Rettungsassistenten und wurde einer unserer beliebtesten Kollegen. Manchmal kommt es einfach anders, als man erst denkt.