
Latent bekloppt
»Auf so was habe ich im Moment echt überhaupt keinen Bock«, sagte Lenny und zupfte verschlafen an seinem Hemd. Die Küchenuhr der Rettungswache zeigte 3.29 Uhr. Showtime im Nobelviertel unseres Ortes. Der Alarmton des Piepsers erstarb und ging in Rauschen über, Fragmente der Disponentenstimme quäkten etwas von »Suizidankündigung«, »Badewanne« und »männlich«. Der Patient hieß angeblich Thomas Gillessen.
Der junge Mittzwanziger mit Radiogesicht und ausgeprägtem Haarausfallgen war nur mit einem Morgenmantel bekleidet und öffnete uns triefend nass die Haustür. Die gerunzelte Stirn und die hochgezogene Augenbraue ließen darauf schließen, dass unser Timing nicht unbedingt das beste war. Aber dass wir Herrn Gillessen offenbar beim Baden gestört hatten, passte zur Einsatzmeldung.
»Ja?«
»Guten Morgen. Strasser vom Rettungsdienst. Dürfen wir hereinkommen?«
»Hier ist aber alles bestens«, meinte der Typ zu Lenny, »wie komme ich zu der Ehre?«
Er stieß die Tür ganz auf und wies uns mit einladender Handbewegung und leichter Verbeugung den Weg ins Wohnzimmer. Aus einem Radio klang Jazz.
»Mann oh Mann, ich seh ja wohl nicht richtig«, flüsterte Lenny unhörbar für Herrn Gillessen. Auch ich traute meinen Augen kaum. Die Wohnung bot über das 2,50 Meter breite Fenster einen Panoramablick auf unsere Stadt, die im sommerlichen Glitzern der Nacht erstrahlte. Sie lag auf zwei Etagen, die über eine Wendeltreppe miteinander verbunden waren. Der Boden des Eingangsbereichs war mit Marmor ausgelegt. Und der Kamerad hatte seine Innenausstattung ganz sicher nicht in einem Billigmöbelhaus gekauft. Das Sofa im Wohnzimmer hätte mehrere meiner Monatsgehälter verschlungen.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Die Frage ist eher, was wir für Sie tun können. Angeblich soll hier jemand in dieser Wohnung einen Selbstmordversuch angekündigt haben«, ergriff ich das Wort.
»... und Sie sollen derjenige sein.« Lenny blickte zunächst zu mir, dann zu Herrn Gillessen, der wiederum zuerst mich, dann Lenny ansah.
»Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden«, sagte Herr Gillessen, winkte ab und setzte sich auf einen seiner futuristischen, mintgrünen Plexiglasbarhocker. Wasser sammelte sich am Boden unter dem Hocker.
»Der Selbstmord sollte in einer Badewanne stattfinden«, fuhr ich fort, »und da Sie gerade aus der Badewanne zu kommen scheinen, würde es ja passen. Haben Sie eine Wanne?«
»Habe ich. Aber so ein Quatsch. Glauben Sie mir: Ich wollte mich auf keinen Fall umbringen.«
»Also war das ein Fehlalarm?«, fragte ich nach.
»... und irgend so ein Aushilfs-Harlekin hat sich zu einem Scherz berufen gefühlt«, ergänzte Lenny, »oder wie?«
Thomas Gillessen war einverstanden, dass wir das Bad auf verdächtige Spuren inspizierten.
Er hatte es sich offenbar richtig gemütlich gemacht. Kerzen standen am Wannenrand und auf dem Fußboden und brannten. Eine Flasche Champagner stand halb geleert auf dem weiß gefliesten Boden neben einem Glas. Die frei stehende Badewanne aus geschwungenem, durchsichtigem roten Acryl wirkte sehr futuristisch und hatte bestimmt einen Designerpreis gewonnen. Das bodentiefe Fenster bot einen weiten Blick in das in Dunkelheit getauchte Naturschutzgebiet.
»Das war sicher meine bescheuerte Clique«, riss Herr Gillessen uns aus unserem Staunen heraus.
»Wie kommen Sie darauf?« Ich lehnte mich an die Wandkonsole.
»Wissen Sie, ich heirate nächste Woche. Ich bin mir absolut sicher, dass mir diese benebelten Armleuchter zu der Gelegenheit einen Streich spielen wollten.«
»... und haben nix Besseres zu tun, als uns um diese Uhrzeit aus der Wache zu läuten – für nix und wieder nix?« Lennys Stimmung fuhr einige Etagen tiefer.
»Es tut mir wirklich leid. Ein paar dieser Helden besitzen den Intelligenzquotienten von Blauschimmelkäse. Sie sind sich über die Folgen sicher nicht im Klaren gewesen.«
Alles klang irgendwie schlüssig. Auch die Theorie von den minderbemittelten Kumpels, die Thomas Gillessen einen Streich hatten spielen wollen. Und jetzt standen sie wahrscheinlich mit einer Kamera irgendwo in der Dunkelheit und zeichneten das ganze Event auf, um es später auf Facebook zu veröffentlichen.
Wir packten also unseren Kram, bewegten uns in Richtung Ausgang und waren im Geist schon wieder in unseren Betten angekommen. Lenny hatte die Klinke heruntergedrückt und die Haustür bereits einen Spalt geöffnet. Thomas Gillessen war auf halbem Weg über die Wendeltreppe nach oben. Er sah uns noch nach, dann drehte er sich wieder um.
»Also, Herr Gillessen, dann noch eine schöne Nacht«, sagte ich. Herr Gillessen verharrte reglos auf der Treppe und sagte nichts. Währenddessen klang Wolfgang Haffners Shapes aus den Boxen.
»Herr Gillessen?« Lenny stellte den Notfallrucksack wieder ab. »Ist wirklich alles in Ordnung?«
Thomas Gillessen wirkte plötzlich angespannt, ballte seine ganze Kraft zusammen und drehte sich explosionsartig um. Der Bademantel flog wie Supermans Cape.
»Und überhaupt ... komme ich nur mit, wenn IHR mir beweisen könnt, dass ich GOTT bin!«
Lenny entgleisten die Gesichtszüge wie bei einer Karikatur, die man mal schnell auf dem Volksfest von sich zeichnen lässt. Beide Augenbrauen waren hochgezogen. Ich sah mich in einem Spiegel am Ende des Ganges und stand Lenny mit meinem Gesichtsausdruck in nichts nach. Dieser ließ die Haustür wieder ins Schloss fallen und blieb mit verschränkten Armen neben mir stehen, während Herr Gillessen jetzt so richtig in Fahrt kam.
»Nein. Hört Ihr? NEIN! Die Hölle ist höllisch. Meine wunderbare Entfernung verriegelter Obsession spiegelt sich im warmen Brei wider.« Thomas Gillessens Gesichtsausdruck driftete in den Wahnsinn ab.
»Der Typ könnte beim Poetry-Slam mitmachen und würde den ersten Preis kassieren«, bemerkte Lenny trocken, packte das Diensthandy aus und rief nach Unterstützung. Herr Gillessen musste in eine psychiatrische Anstalt, und zwar dringend.
»Herr Gillessen, geht es Ihnen schlecht?«, fragte ich.
»Ja, die Milch ist schlecht gegangen. Schlecht sind die Schlechtarbeitenden, und tot ist die Schlacht. Das Schlachthaus im Schlachtertal ist gesunken und ertrunken.« Im Fachjargon bezeichnet man so etwas als Rekurrenzen mit assoziativen Entgleisungen und Wortkontamination. Thomas Gillessen hatte eine schizophrene Störung, die erst wieder genau in dem Moment an die Oberfläche gekommen war, als wir die Wohnung hatten verlassen wollen.
Kennen Sie das? Sie werden frühmorgens aus dem Tiefschlaf aus einem surrealen Traum aufgeweckt. Sie versuchen, alle Gedanken, die Ihnen in diesem Moment durch den Kopf fliegen, in Worte zu fassen. Für Sie klingt das alles schlüssig – ebenso wie Ihr Traum für Sie in diesem Moment absolut logisch ist. Ihr Partner, der neben Ihnen liegt und Sie hört, sagt jedoch: »Was redest du da für einen Quatsch?« Und je differenzierter Sie über Ihren vergangenen Traum nachdenken, desto mehr wird er zu wirrem Unsinn. Thomas Gillessen war in dieser formalen Denkstörung gefangen. Ohne die Möglichkeit, je von selbst wieder aufzuwachen, verliert sich der schizophrene Patient rettungslos im Strom seiner Einfälle. Er ist nicht in der Lage, seine widersprüchlichen und in alle Richtungen gleichzeitig fließenden Gedanken zu bündeln.
Einige Zeit später trafen der Notarzt und die Polizei ein. Die Übergabe ging kurz und sachlich vonstatten. Ich teilte dem Arzt mit, dass es Herrn Gillessen den Sicherungsschalter herausgeschlagen hatte, als wir den Einsatz nach kurzem Kontakt hatten beenden wollen. Und dass das mit der Suizidandrohung vermutlich gestimmt hatte. Thomas Gillessen war psychisch krank und hatte Glück, dass die Psychose während unserer Anwesenheit zum Vorschein gekommen war. Er hätte sich ansonsten tatsächlich etwas antun können.
»Ich bin Gott!«, schrie Herr Gillessen wieder und streckte Lenny den Arm zur Verabschiedung mit leichter Verbeugung entgegen.
»Gott? Aha. Dann haben wir wohl gestern Ihren Sohn gefahren. Der Typ hat nämlich gemeint, er sei Jesus.«