
Vom Netz
Der Helfer vor Ort war müde, als er die adrette Zweizimmerwohnung gegen Viertel nach ein Uhr morgens betrat. Die Frau in der Tür weinte. Sie sagte »hoffnungslos« und »zu spät«, schüttelte den Kopf und winkte den Helfer durch, der nur dazu da war, die Zeit bis zum Eintreffen des Rettungswagens mit lebensrettenden Handgriffen zu überbrücken.
Der etwa 50-jährige Mann lag auf seinem Rücken im Bett, das linke Bein hing herunter. Die Augen waren leicht geöffnet wie auf einem schlecht getimten Foto. Der Mann wirkte seltsam statisch, die Lage war offenbar ernst. Denn ein Kreislaufstillstand führt unbehandelt nach kurzer Zeit zu einem irreversiblen Gehirnschaden und damit zum biologischen Tod.
Der Retter packte den Mann, zog ihn auf den Schlafzimmerboden vor das eheliche Bett und riss das Schlafanzugoberteil auf. Knöpfe flogen durch das Zimmer und verloren sich klackernd in den Zimmerecken. Keine Atmung, kein Puls. Der Helfer öffnete seinen Notfallrucksack. Er nahm den Defibrillator, klebte die Elektroden auf den Brustkorb des Mannes und drückte die »Ein«-Taste am Gerät. Die Anweisung der freundlichen Stimme aus dem Lautsprecher war deutlich: »Wenn kein Puls vorhanden, Reanimation starten ...«
Also begann er die Reanimation. Das dumpfe Knacken brechender Rippen erklang aus dem Brustkorb des Mannes. Die Frau schrie auf und verließ das Zimmer. Der Helfer erschauderte.
Eine Stunde zuvor hatten Lenny und ich den witzigen Alkoholiker vom Bahnhof bereits in der Ambulanz abgegeben. Das Vokabular eines Betrunkenen ist gelegentlich irreführend.
Aus seinem gelallten Gefasel verstand ich nur den Begriff »Eishockey«, den der Alki die ganze Zeit von sich gab. Er meinte damit »Alles okay«. Er wirkte auch nicht so, als würde er eine andere Sportart beherrschen als Komasaufen. Dann kam noch »Schmierwurst« für »Ist mir Wurst« – den kannte ich noch nicht. Ich nahm mir vor, mir das zu merken.
Ich betätigte den Status 5 auf der Funktastatur: Sprechwunsch ohne Priorität. Damit wollte ich unseren Rettungswagen nach Ablieferung des Schnapskönigs wieder einsatzklar melden. Meine Uhr zeigte null Uhr irgendwas.
Ich funkte die Leitstelle an. Keine Antwort. Minutenlange Stille. Nicht einmal ein Hintergrundrauschen war zu hören.
»Hey, die Herrschaften da drüben haben wohl mittlerweile die Rollos runtergelassen und das Licht gelöscht«, bemerkte Lenny.
Also fuhren wir erst mal in die Wache zurück.
Es war jetzt ein Uhr durch. Und noch immer schwieg der Funk gnadenlos wie eine beleidigte Ehefrau. Allmählich wurde meine Freude über die unerwartete Ruhepause von einem Gefühl der Unsicherheit abgelöst. Während wir in der Garage der Rettungswache einparkten, schaltete sich ein Einsatzleitfahrzeug (ELW) ein. Irgendein ELW, dessen Fahrzeugführer sich offenbar in seiner eigenen Haut nicht wohlfühlte. Er unterbrach das Schweigen des Äthers und meldete die vorübergehende Übernahme des Leitstellenbetriebes. Und obwohl es die Aufgabe eines ELW ist, taktische Einheiten verschiedener Organisationen zu führen und zu koordinieren, schien die Kompensation des Leitstellenausfalles eine Nummer zu groß für ihn zu sein. Es machte den Anschein, dass keiner der Mitarbeiter dieses Fahrzeugs auch nur den Hauch eines Überblicks über Fahrzeugstandorte und Einsatzgeschehen hatte. Der Mann am Funk schien verzweifelt und desorientiert, informierte Fahrzeuge ins Blaue hinein über einen angeblichen Ausfall der Rettungsleitstelle und wies an, die Wachen zu besetzen, falls ein Bürger Hilfe suchen sollte. Welche Wachen auch immer.
Ein Stromausfall hatte zum Totalkollaps aller Kommunikations- und Verbindungsmöglichkeiten mit unserer Leitstelle geführt, und die Rückfallebenen versagten. Als eine mögliche Rückfallebene wäre das Einsatzleitfahrzeug gedacht gewesen. Beim Totalausfall der Leitstelle wird das Einsatzleitfahrzeug über in der Leitstelle bereitgehaltene Mobiltelefone benachrichtigt. Binnen eines Zeitraumes X hat das Fahrzeug an einem im Rahmen eines Alarmplanes festgelegten Treffpunkt zu sein. Mitarbeiter der Leitstelle nehmen das in Metallboxen bereitgestellte und schon gepackte Notfallmaterial und wechseln in den ELW. Dort übernimmt ein Leitstellenmitarbeiter den Funkbetrieb, nachdem die Geräte aus den Metallboxen aufgebaut und in Betrieb genommen worden sind. Normalerweise dürfte so eine Aktion nicht länger als 20 Minuten in Anspruch nehmen. Aber irgendetwas klappte nicht.
Ich wählte die 112. Lenny und ich wollten wissen, was los war. Die 112 sollte nicht erreichbar sein? Das wollte ich nicht glauben. Nicht bei uns. Nicht hier. Ich wartete also auf ein Freizeichen, wartete auf die Ansage, dass nur alle Leitungen belegt seien. Aber ich hörte nichts außer dem Trägerrauschen der Telefonleitung. Das konnte doch nicht wahr sein.
Die Fahrzeuge konnten nur noch provisorisch alarmiert werden. Das funktionierte aber meistens nicht. Das zum Einsatz gerufene Fahrzeug meldete sich einfach nicht. Zwischen den einzelnen Sequenzen verging eine Ewigkeit, und alles schien absolut improvisiert vonstattenzugehen.
Halb zwei vorbei. Der Helfer vor Ort schwitzte in der überhitzten und schlafmuffligen Wohnung. Noch immer war kein Rettungswagen eingetroffen. Mit einer Frequenz von 100 Stößen pro Minute lehnte er sich rhythmisch auf den Brustkorb des Patienten und drückte ihn fünf Zentimeter tief ein. Nach zwei Minuten folgte der Druck auf die Analysetaste des Defibrillators: »Kein Schock empfohlen«, sagte die Stimme aus dem Kasten, »bei Pulslosigkeit Wiederbelebung starten.«
»Holen Sie Ihr Telefon«, wies er die Frau an, »wählen Sie die 112, und geben Sie mir den Hörer!«
Der Helfer wollte wissen, weshalb noch immer keine Hilfe eingetroffen war. Die Leitstelle musste ihm jetzt endlich einen Notarzt und den Rettungswagen schicken, der den Patienten in ein Krankenhaus bringen konnte. Der Helfer nahm den Hörer an sein Ohr. Doch er hörte nichts außer einem Rauschen in der Leitung. Er wählte erneut und erreichte wieder niemanden.
Kurz nach dem Jahrtausendwechsel kam es schon einmal zum sukzessiven Ausfall relevanter Computersysteme aufgrund eines nicht verifizierten Software-Updates und eines in der Folge aufgetretenen Speicherfehlers in einer der größten Leitstellen Deutschlands. Der Computerabsturz brachte einigen Menschen den Tod und verursachte eine Angstneurose nach der anderen bei den Bürgern.
Der US-amerikanische Ingenieur Edward A. Murphy stellte über das menschliche Versagen und über Fehlerquellen in komplexen Systemen einige spannende Lebensweisheiten auf, die auch auf Mitarbeiter in Rettungsleitstellen zutreffen. Wenn es mehrere Möglichkeiten gibt, eine Aufgabe zu erledigen, und eine davon in einer Katastrophe endet, dann wird jemand genau diese Variante ausführen. Kurz gesagt: Was schiefgehen kann, wird schiefgehen. Und es wird in der denkbar schlechtesten Reihenfolge passieren.
Murphys Gesetz für die Leitstelle besagt: Wenn ein Rechner abstürzt, werden andere folgen. Und ein Axiom ergänzt, dass es zunächst den wichtigsten aller Rechner im Leitstellennetzwerk erwischen wird, der alle anderen mit in den elektronischen Tod zieht.
Viertel vor zwei. Der Helfer wurde vom Team des Rettungswagens erlöst. Diese Nacht würde er mit Sicherheit nicht vergessen. Ob der Patient das IT-Desaster überlebt hat, konnten wir leider nie herausfinden. Erst gegen vier Uhr konnte das Computersystem der Rettungsleitstelle endlich neu gestartet werden. Danach strömten wieder die gewohnten Funksprüche über den Äther.
»Ab jetzt bleibt die Nacht bestimmt ruhig«, meinte Lenny und stapfte in Richtung des Schlafraumes unserer Rettungswache. Er sollte recht behalten. Murphy hatte sein Soll wohl bereits erfüllt.