

Weg von hier
An einem heißen Julitag saß ich mit Lenny in einer Cafeteria eines von unserer Stadt etwa 25 Kilometer entfernt liegenden Altenheimes. Weder Lenny noch ich haben eine so hohe Affinität zu Leuten fortgeschrittenen Alters, dass wir auch noch unsere Pausen in ihrer unmittelbaren Nähe verbringen müssen. Aber 38 Grad im Schatten waren durchaus ein Grund, sich nicht gleich wieder einsatzklar zu melden.
»Ein Vanilleeis und eine Cola, bitte. Und einen Kaffee für meinen Kollegen«, bestellte ich.
»Kaffee? Bei der Hitze? Ihr Sanitäter ...«
Die Bedienung drehte sich um und schüttelte den Kopf. Kaffee ist übrigens das am meisten konsumierte Getränk im Rettungsdienst und besitzt einen hohen Stellenwert bei der Befriedigung des Suchtpotenzials eines Rettungsassistenten. Im Fachjargon »schwarzes Gold« genannt, wird es zu jeder Tages- und Nachtzeit in Mengen konsumiert, die einen normalen Menschen in einen aufgedrehten Duracell-Hasen verwandeln würden.
Während Lenny bereits seit einiger Zeit einen hässlichen und auffälligen Kaffeefleck an seinem Jackenkragen mit einem Taschentuch bearbeitete, streifte mein Blick die breite gepflasterte Einfahrt durch die große Glasfensterscheibe des Heim-Cafés und blieb dann an unserem Rettungswagen hängen, der unmittelbar davor geparkt war. Die Heckklappe war leicht geöffnet. Ein Fuß verschwand hinten im Auto, und die Tür schlug wie von selbst zu.
»Ich glaube, da ist gerade jemand in unseren RTW eingestiegen ...«
»Du willst mich wohl verkohlen. Wer steigt denn freiwillig in einen Rettungswagen ein«, meinte Lenny ungläubig und nippte an seinem Kaffee.
»Das weiß ich doch nicht. Vielleicht will da einer ein paar Medikamente abgreifen.«
Ab und an kommt es tatsächlich vor, dass Retter bestohlen werden. Meist von irgendwelchen Drogenabhängigen, die die Vergesslichkeit mancher Sanitäter, wenn es um das Abschließen des Fahrzeugs geht, ausnutzen. Während der Rettungswagen vor einem Krankenhaus steht und die Retter den Patienten hineinbringen, ergreifen die Junkies ihre Chance. Sie versuchen, Valium, Ketamin und andere drollige Partydrogen zu ergattern, um sich mit diesem Gratiseinkauf den Abend zu versüßen. Einmal hatte Lenny einen Junkie auf frischer Tat ertappt. Allerdings hatte sich schnell herausgestellt, dass der betäubungsmittelabhängige Mitbürger nicht nur süchtig, sondern auch noch dämlich war. Denn er hatte versucht, sich mit Lasix einzudecken. Lasix bewirkt aber keinen Drogenrausch, sondern eine forcierte Diurese. Mit anderen Worten: Der Junkie hätte sich die Seele aus dem Leib gepinkelt. Lenny erwies sich jedoch als Spielverderber und rief lediglich die Polizei. Diese hat den Junkie festgenommen und abgeführt.
Diesmal hatten wir vielleicht wieder einen Junkie, Drogendealer oder einfach nur einen Spaßvogel am Hals.
»Wir sollten die Polizei rufen.«
»Bis die hier sind, ist der doch futsch.«
»Vielleicht will uns einer kidnappen und Lösegeld erpressen.«
»Dann ist der bei uns absolut falsch. Wir sind Firmeneigentum und deshalb jederzeit ersetzbar. Schon vergessen, dass du einen Sklavenvertrag unterschrieben hast?«
Lenny, der den Fleck an seiner Jacke bereits vergessen hatte, kippte den letzten Schluck Kaffee hinunter, und ich ließ mein zur Vanillesoße gewordenes Softeis stehen.
Wir traten durch die Glasschiebetür und schlichen auf den Rettungswagen zu, der seitlich zu uns stand. Mittlerweile hatten auch die Bewohner des Altenheimes bemerkt, dass da draußen irgendetwas vor sich ging. Und da diese Aktion offenbar eine willkommene Abwechslung zum tristen Altenheimalltag darstellte, wurde das Café als Zuschauertribüne von den Bewohnern belagert. Die Flüsterpost funktionierte bestens: Alles, was sich mit oder ohne Gehhilfe fortbewegen konnte, fand sich in Sekundenschnelle dort ein.
Geduckt und in bester James-Bond-Manier standen wir vor der seitlichen Schiebetür des Rettungswagens und waren auf das Schlimmste gefasst. Die Schweißperlen standen auf Lennys Stirn, sein grau meliertes Haar glitzerte in der Sonne. Ich legte meine Hand an den Griff der Schiebetür und deutete Lenny mit der anderen Hand den finalen Countdown von drei abwärts an.
Dann flog die Schiebetür auf und knallte gegen den Türstopper. Lenny wollte in den Rettungswagen springen, trat allerdings daneben und geriet ins Stolpern. Drüben im Café brachen einige Alte in schallendes Gelächter aus, das für uns jedoch unhörbar war. Das Wippen ihrer Oberkörper hinter der Scheibe war aber eindeutig.
Die Operation RTW-Sturm endete für Lenny, der sich gerade noch mit beiden Armen abstützen konnte, am Boden vor dem Medikamentenschrank. Ich dagegen stand mit geballten Fäusten kampfbereit auf der Trittstufe im Innenraum. Die Haut an meinen Knöcheln schimmerte weiß und war zum Zerreißen gespannt.
Im Patientenstuhl saß ein Opa in seiner dunkelblauen Sommerjacke und einer kunstvoll verzierten Prinz-Heinrich-Mütze, wie alte Menschen sie nun mal gerne tragen. Den Gurt hatte er vorschriftsmäßig angelegt. Augenscheinlich hatte er keine Waffe und gehörte in das Altenheim hinter uns. Die Szene erstarb in einem kurzen Verharren, als hätte jemand die Pause-Taste eines Videorekorders gedrückt. Ich blickte den Opa an, dessen Augen so weit aufgerissen waren, dass sie einen unnatürlich großen Anteil des Gesichts auszumachen schienen. Lenny sah mich an. Der Opa fixierte Lenny. Einige Sekunden später brach ich das Schweigen: »Was machen Sie denn hier?«
»Nehmen Sie mich mit!«
»Was?« Lenny hatte sich mittlerweile aufgerappelt. Zum Kaffeefleck kamen nun noch schwarze Schmutzstreifen auf beiden Oberschenkeln.
»Mein Name ist Adolf Otto, und ich will mit Ihnen mitkommen.«
»Was soll das heißen, Sie wollen mit?«
»Ich will nicht mehr zurück in dieses Heim. Ich will mit Ihnen mitfahren!«
Lenny blickte mich an. Er musste nichts sagen: In seinem Gesicht las ich die Frage, die auch ich mir stellte: Was wollte der Opa von uns?
»Sie können aber nicht mitfahren, Herr Otto.«
»Warum nicht? Ich muss hier weg.«
Der alte Mann begann fast zu weinen. Er schien absolut verzweifelt und hatte seinen einzigen Ausweg offenbar darin gesehen, sich von einem Rettungswagen »entführen« zu lassen, aber der Plan war gescheitert. Zwei Pflegerinnen des Heims betraten kurz darauf den Rettungswagen und nahmen Herrn Otto, der mir den Eindruck machte, bei klarem Verstand zu sein, wieder in Empfang. Das war das für Adolf Otto traurige Ende seines Fluchtversuches.
Eine Viertelstunde später befanden wir uns auf dem Rückweg in Richtung Rettungswache.
»Stell dir vor, wir hätten den nicht in dem Moment gesehen, wären in die Wache gefahren und hätten die Karre da abgestellt ... « Ich krempelte mir die Ärmel hoch.
»... dann wären wir in der Zeitung gelandet.«
»Rettungsdienstmitarbeiter entführen Heimbewohner ...«
»Oder der Typ wäre ausgestiegen, und wir hätten noch nicht mal gemerkt, dass wir überhaupt jemanden mitgenommen haben.«
»Oder wir wären im Anschluss zu einem anderen Einsatz gerufen worden. Und dort wäre dann Herr Otto zum Vorschein gekommen.«
»Als Überraschungsgast ...«
Einige Tage später hatten wir einen erneuten Einsatz in besagtem Altenheim. Als wir im Anschluss draußen vor der Tür standen, kam Herr Otto in seiner blauen Jacke herausgelaufen, strahlte uns an und lief auf Lenny zu, die Prinz-Heinrich-Mütze in der Hand.
»Danke, Herr Sanitäter. Danke.«
»Danke? Wofür?« Lenny war sichtlich irritiert.
»Danke fürs Vorbeikommen.« Herr Otto schüttelte Lennys Hand, drehte sich um und begann nahtlos mit einer anderen Heimbewohnerin ein überschwängliches Gespräch über das schöne Wetter. Er wirkte jetzt ganz anders als einige Tage zuvor, als wir ihn das letzte Mal gesehen hatten.
»Herr Otto hat eine sehr fortgeschrittene Demenz«, erklärte uns die Altenpflegerin, die sich mittlerweile zu uns gesellt hatte. »Tut mir leid, aber er weiß in einer Minute sicher nicht mehr, was er vorhin zu Ihnen gesagt hat.«
»Das erklärt einiges«, meinte Lenny und zündete sich seinen Zigarillo an.
Aber auch wenn Herr Otto an Demenz litt und sich kurze Zeit später nicht mehr an etwas oder jemanden erinnern konnte, hatte ich trotzdem das Gefühl, dass sich etwas verändert hatte. Ich war der Meinung, Herr Otto würde uns seitdem immer besonders herzlich begrüßen. Manchmal schien es mir sogar so, als würde er extra herauskommen, nur um uns die Hand zu schütteln und etwas zu uns zu sagen. Aber möglicherweise habe ich mich auch einfach getäuscht.