Notarzt

Geiselnahme

Frank stammte aus einfachen Verhältnissen, ohne je eine großartige Chance auf Erfolg gehabt zu haben. Ohne Schulabschluss hangelte er sich von Job zu Job und hatte seit Jahren immer nur kleine Brötchen gebacken. Mal arbeitete er als Regalauffüller in einer Drogerie, dann wieder als Hilfskraft in einer Gärtnerei oder als Ausfahrer bei einem Lieferservice für Pizza und asiatisches Junkfood. Immer unsichtbar. Immer untergeordnet. Immer ganz unten. Als er vor zwei Wochen seinen Traumjob als Lagerist bei der Telekom verloren hatte, war das Fass für Frank endgültig randvoll. Er hatte seinen Abgang beschlossen und wollte diese hässliche und ungerechte Welt für immer hinter sich lassen. Aber nicht einfach so. Ein Paukenschlag sollte Franks Ende verkünden und ihm ein Denkmal setzen. Ganz Deutschland sollte sich für immer an ihn erinnern. Für ein paar Kröten hatte er sich von einem seiner heruntergekommenen Freunde daher eine Handgranate besorgt. Dann suchte er noch ein Waffengeschäft nahe der Altstadt auf, dessen Verkäufer ihm schließlich »Auf Wiedersehen und vielen Dank für Ihren Einkauf!« hinterherrief. Jetzt noch schnell mit dem Fahrrad zu dem Supermarkt, bei dem gerade Sturmhauben im Angebot waren, die nur die Augen des Trägers frei ließen. Das Komplettpaket für den Gelegenheitsverbrecher war damit geschnürt. Frank war zufrieden mit seinen Einkäufen und seinem Plan, den er am darauffolgenden Morgen in die Tat umsetzen wollte.

SBC – »Suicide by Cop«. So nennen Psychologen die perverse Selbstmordvariante, sich durch Kugeln aus einer Polizeiwaffe hinrichten zu lassen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Grenzenloser Hass auf die Staatsmacht lässt die Täter sich selbst als Opfer der Exekutive hinstellen und sich in den Abendnachrichten feiern. Manche glauben auch daran, dass Selbstmord eine Sünde sei, oder sind einfach nur zu feige, um im stillen Kämmerlein ein paar Schlaftabletten mit Wodka hinunterzuspülen. Daher benutzen sie lieber Polizisten, um sie die Drecksarbeit für sich erledigen zu lassen. So wie Frank.

6. Februar, 10.30 Uhr. Der Tag X. Frank betrat die Praxis eines niedergelassenen Zahnarztes in der Hauptstraße und verschwand mit seinem eingerissenen, verdreckten Beutel aus Baumwolle auf der Toilette. Es waren an diesem Tag nicht so viele Patienten anwesend, wie er gehofft hatte. Über 20 Geiseln hätten es schon werden sollen. Kurzes Innehalten. Was, wenn eine Geisel aufmüpfig wurde? Was, wenn nicht alles nach Plan lief? Oder der Zahnarzt ihn nicht ernst nahm? Was, wenn ihn überhaupt niemand ernst nahm? Frank schwitzte. Der Schweiß perlte ihm die Stirn hinab, am Hals entlang, um sich anschließend im blassgrünen T-Shirt zu verlieren. Er trocknete sich die feuchten Hände mit einem Stück Klopapier ab. Dann zog Frank die Sturmhaube über und packte die Waffe samt Handgranate.

»Überfall! Das ist ein Ü-ber-fall!« Köpfe drehten sich zu Frank, der die Tür so fest gegen den Stopper gestoßen hatte, dass die Fenster vibrierten. Starre Blicke, eine Helferin ließ ihre Unterlagen fallen. Blätter flogen durch die Gegend. »Keiner bewegt sich. Verstanden?« Stille. »VERSTANDEN?« Das Nicken aus allen Richtungen erinnerte an das eines sechsjährigen Kindes, das soeben eine Ohrfeige bekommen hatte. Nur das Gluckern der Kaffeemaschine war noch zu hören, als das Telefon der Zahnarztpraxis klingelte. Franks Drohung in Richtung der Helferin wirkte. Das Klingeln verhallte unbeantwortet. Keiner wagte es, auch nur hörbar zu atmen. Plötzlich kam der Zahnarzt kauend aus der Praxisküche und bog um die Ecke. Die Apfeltasche schien ihm förmlich im Hals stecken zu bleiben. Mit weit aufgerissenen Augen blickte er direkt in die Mündung der automatischen Handfeuerwaffe. Dann sprudelte es aus ihm heraus: »Was wollen Sie? Spinnen Sie?«

»Halt’s Maul, schluck runter, und schwing deinen Kadaver in die Ecke dort drüben!«

»Was?«

»Ich knall dich ab! Los jetzt!« Die Mündung der Waffe zeigte in Richtung Zahnarztstirn.

Die Gesichtsfarbe des Zahnarztes schlug von Rot nach Weiß um, als dieser den Ernst der Lage begriff. Wie befohlen, schlich er dann zu einem Stuhl in der Ecke. Frank deutete mit der Waffe auf eine Helferin. »Zusperren. Die Eingangstür, verstanden?« Klack-klack. Schon geschehen.

»So, und jetzt will ich keinen Furz mehr hören!«

Auf die Idee, jetzt noch irgendetwas zu sagen, wäre ohnehin niemand gekommen. Franks Anspannung ließ etwas nach, nachdem alle Geiseln gehorcht hatten. Er stellte sich ans Fenster, sah auf die Hauptstraße und wartete.

Am selben Morgen, 5.30 Uhr. Zum Kotzen. Mein Außenthermometer zeigte stattliche 21 Grad unter null an. Ich stellte fest, dass der Atem auch in diesem Februar wieder von innen an der Scheibe festfror. Mein violettfarbenes 97er Ford Escort Cabrio mit einer Menge Rost und einem defekten Kühlmittelthermostat hatte leider keine Standheizung. Es war ein reines Sommerauto. Für mich bedeutete das, dass ich auf meinem drei Kilometer langen Weg zur Wache ungefähr 15-mal anhalten musste, um ein neues Guckloch von außen und innen in die Scheibe zu schmirgeln. Alternativ fuhr ich an manchen Tagen mit offenem Seitenfenster und streckte meinen Kopf hinaus – natürlich nur, sofern die Scheibe nicht festgefroren war und sich öffnen ließ. Wenn mir dann die Gesichtszüge einfroren, was meist nicht lange dauerte, hielt ich doch wieder an und kratzte lieber. Gefrorene Finger sind angenehmer als eine gefrorene Visage. Scheißwinter. Ich mochte ihn noch nie.

Während es langsam hell wurde, saß ich schon lange auf dem Beifahrersitz des Rettungswagens. Das Radio verkündete einen ungemütlichen Vormittag auf den Straßen. Der Verkehr stand still, und die Autobahn war wegen eines Verkehrsunfalles in beiden Richtungen ge… – klack. Mit einer knappen Handbewegung unterbrach ich den Sprecher. Nach drei Krankentransporten hatten Lenny und ich Hunger auf Frühstück. Auf dem Weg zum Bäcker kämpfte ich mich durch dichten qualmenden Stadtverkehr und beobachtete Menschen, die hinter dem Steuer in ihren Autos saßen. Sie waren geblendet vom Hellweiß der Sonne, das ihre Gesichter morgengrau und müde aussehen ließ. Aufgetürmte Schneehaufen am Rande der Straße explodierten in der Sonne zu grellen Lichtkegeln und verschwammen im Vorbeifahren.

Beim Bäcker traf ich zufällig auf Sarah, eine der Krankenschwestern aus der Notaufnahme.

»Hallo, Christian. Hab’s leider etwas eilig. In ’ner halben Stunde muss ich in der Notaufnahme stehen. Heute ist Mittwoch, wir haben Praxisvertretung. Da rennen sie uns ab ein Uhr die Bude ein.«

»Du hast es gut, bist um sechs wenigstens wieder zu Hause«, dachte ich und packte mein Salamibrötchen ein. Sarah blickte an mir vorbei und deutete auf unseren Rettungswagen. Lenny zeigte mir von dort mit erhobenem und sich drehendem Zeigefinger einen Notfalleinsatz an, den wir übernehmen sollten.

»Ich hatte eh noch keinen Hunger. Verdammt. Bis später dann in der Notaufnahme.«

Die Einsatzmeldung war komisch. Keinerlei Informationen. Nur die Aufforderung, wir sollten mal »über Draht« kommen, wenn es gehe. Was bedeutete, dass wir anrufen sollten. Ich zückte also mein Telefon und wählte den internen Helpdesk der Rettungsleitstelle an.

»Leitstelle, Michael am Apparat.«

»Christian, RTW 1/83/1. Wie gewünscht über Telefon. Was gibt’s denn so Geheimes?«

»Fahrt in die Hauptstraße 44. Da hat einer in einer Zahnarztpraxis circa 20 Geiseln genommen. Mehr weiß ich leider auch noch nicht. Die Polizei organisiert die Sperrung der Hauptstraße in diesem Moment. Es rückt übrigens eine ganzes Heer an Fahrzeugen von uns an.« Klack.

Mittlerweile war Sarah bei uns und wollte wissen, weshalb wir noch nicht losgefahren waren. »Geiselnahme – Zahnarztpraxis. Stellt euch in der Nothilfe heute mal lieber auf etwas mehr Trubel ein.«

»Passt ja auf euch auf!«

»Natürlich passen wir auf uns auf«, erwiderte ich. Bei dem mickrigen Gehalt konnte niemand ernsthaft von uns verlangen, dass wir auch noch unser Leben aufs Spiel setzten.

In gebührender Entfernung, aber mit Sicht auf die Praxis stellten wir uns direkt hinter einen Streifenwagen. Der Polizist nuschelte, aber es fielen die Worte »Geiselnahme« und »Großeinsatz«.

Der Geiselnehmer Frank hatte nach wie vor ein klares Ziel vor Augen: Er wollte sterben. Seine erste Forderung lautete daher, einen Scharfschützen auf einem der Hausdächer gegenüber zu postieren. Ein Wunsch, den ihm die Polizei ganz sicher nicht abschlagen wollte.

Es war nun 13.30 Uhr vorbei. Lenny und ich standen noch immer an derselben Stelle, nur jetzt ohne Essen, denn das Frühstück hatten wir bereits vertilgt. Mittlerweile war auch das Spezialeinsatzkommando eingetroffen. Der Unterschied zwischen der Streifenpolizei und dem SEK ist in etwa vergleichbar mit dem zwischen bodengebundenem Rettungsdienstpersonal und dem Personal eines Rettungshubschraubers. Dazu müssen Sie wissen, dass Besatzungen von Rettungshelikoptern bei Leitstellendisponenten teilweise Helden- bis Götterstatus genießen. Über den Grund hierfür kann man nur spekulieren. Auf jeden Fall ist der Hubschrauber das etwas teurere, schnellere und schonendere Transportmittel – nicht mehr und nicht weniger. Es ist auch nicht so, dass Gott höchstpersönlich aus einem Helikopter aussteigen würde oder ein Patient ohne diese Hubschrauberbesatzung rettungslos verloren wäre. Im Gegenteil. In der Regel ist die gröbste Arbeit bereits erledigt, wenn der Drehflügler landet. Dessen Besatzung erhält im Normalfall einen komplett vorversorgten Patienten zum Transport. Kein Heiligenschein über den Köpfen von Luftrettungsassistenten und Hubschraubernotärzten. Man kann die Welt von oben sehen, und der Patient hat zudem einen Geschwindigkeitsvorteil. Sonst nichts.

Drei hellblaue VW-Busse mit getönten Scheiben und Magnetblaulicht, dem sogenannten Kojak-Light, auf dem Dach fuhren vor. Aus jedem der Busse stiegen sechs bis an die Zähne bewaffnete Männer mit kugelsicheren Westen und warteten auf die Befehle der Führungsebene. Auf dem Dach gegenüber postierten sich zwei vermummte Scharfschützen, luden ihre todbringenden Waffen, positionierten sich und rührten sich nicht mehr von der Stelle.

Mittlerweile hatte sich ein stattlicher Auflauf an Menschen auf der gegenüberliegenden Straßenseite zusammengerottet. Amüsante Szenen spielten sich dort ab. Eine ältere Frau etwa war stinksauer. »Ich muss da rein«, schimpfte sie und deutete auf das Geschäft im Erdgeschoss des abgeriegelten Hauses, »ich habe einen Massagetermin.« Ein Polizist schüttelte den Kopf. »Das geht jetzt aber nicht.« »Und warum?« »Weil es nicht geht.«

Auch eine Anwohnerin aus dem Nachbarhaus, die kurz beim Einkaufen gewesen war, kam nicht mehr zu ihrer Wohnung. »Aber wieso denn?« Die Polizisten hatten mittlerweile Routine. »Weil es nun mal nicht geht.« Punkt.

»50 Geiseln hat er in seiner Gewalt«, wusste einer.

»Ein Selbstmordkandidat wie in Amerika«, analysierte ein älterer Herr im Lodenmantel.

Und ein anderer Schaulustiger korrigierte auf 70 Geiseln.

Das Spezialeinsatzkommando hatte mit den normalen Einheiten der Polizei augenscheinlich nichts zu tun. Ich hatte den Eindruck, dass sogar die Polizisten der örtlichen Polizeiwache nichts über den SEK-Einsatz wussten. Der Rettungsdienst war ebenfalls nicht informiert worden, ob und wann ein Zugriff stattfinden würde. Auch nicht, welche Zusatzgefahren bestanden. Wäre bekannt gewesen, dass Frank eine Handgranate bei sich trug, hätte die Einsatzleitung sicher keine Einsatzzentrale in der Wohnung direkt unterhalb der Zahnarztpraxis eingerichtet. Ich habe mich später mit dem leitenden Notarzt über unsere rudimentäre interne Kommunikation unterhalten. Keiner wusste irgendwas. Immerhin hatte man dem leitenden Notarzt zugestanden, mit im Kreis der Polizeiführungsebene zu agieren. Allerdings ohne irgendein Mitspracherecht in Bezug auf Aktionen.

Auch die rettungsdienstliche Organisation war interessant. Und zwar in dem Sinn, in dem jemand sagt, das Essen schmecke »interessant«, womit er nur seine ausgeprägten diplomatischen Fähigkeiten unter Beweis stellt. Denn eigentlich gab es nur Chaos. Wir hatten keinen Vergleich zu anderen Einsätzen. Niemand wusste, was passieren würde, folglich gab es auch keinen Masterplan. Alles war improvisiert. Wir hatten zwar einen »Einsatzleiter Rettungsdienst«, doch dieser leitete nichts. Ein Lacher war zum Beispiel der Funkspruch: »Der Einsatz in der Hauptstraße heißt ab sofort ›Einsatz Hauptstraße‹«. Diese Meldung hatte genauso viel Wert wie die Lagemeldung »Verdacht auf schwere Kopfplatzwunde«. Entweder hatte ein Patient eine Platzwunde am Kopf, oder er hatte keine. Lenny meinte, nachdem er den Spruch gehört hatte, absolut richtig: »Wenn du glaubst, dieser Einsatzleiter würde einen Einsatz leiten, glaubst du auch, dass ein Zitronenfalter Zitronen faltet.«

Es gibt übrigens noch viele andere lustige Zitate von diesem »leitenden« Herrn. Eines Winters war es spiegelglatt in unserem Landkreis. Niemand war in der Lage, schneller als Schritttempo zu fahren. Das wussten alle, die unterwegs waren. Nur unser Einsatzleiter nicht. Seine über Funk abgesetzte Dienstanweisung, kein Rettungsdienstfahrzeug dürfe mehr als 50 Kilometer pro Stunde fahren, wurde prompt mit der Antwort »Dann fahr doch mal 50« quittiert. Alles lachte.

Journalisten hatten inzwischen ihre Übertragungswagen aufgebaut und damit ausschließlich Probleme generiert. Mal ganz abgesehen vom Fehlergehalt der Meldungen, die zwischenzeitlich produziert worden waren, sorgten diese vor allem für Chaos beim behördlichen Funkverkehr. Die Gigasat-Anlagen der Übertragungswagen hatten scheinbar eine so hohe Sendeleistung, dass unser Rettungsdienstfunk nicht mehr durchdrang. Die Polizei machte daher kurzen Prozess und begrenzte die journalistische Pressefreiheit. So eine Entscheidungsfreudigkeit hatte ich bei Polizisten schon lange nicht mehr gesehen. In diesem Fall war es jedoch nicht weiter verwunderlich, denn die Polizei funkte mit gleicher Technik wie wir in unseren Rettungswagen. Das hieß, wenn die journalistischen Gigasat-Anlagen in Betrieb waren, gab es keinen Funkverkehr zwischen Polizei, Rettungsdiensten und Feuerwehr.

15.45 Uhr. Wir hatten noch immer nichts zu essen gehabt. Doch endlich tat sich etwas – die erste Geisel verließ gerade das Haus.

»RTW 1/83/1? Fahren Sie vor, und kümmern Sie sich um den Patienten«, knisterte es aus unserem Lautsprecher.

Der Patient stieg ein. Neugierig fragten wir nach dem Täter. »Der Gangster ist irgendwie komisch. Er scheint kein rechtes Ziel vor Augen zu haben«, meinte der Mann, der Diabetiker war und kurz zuvor in der Praxis gelogen hatte, dass ihm schwindlig sei und er Insulin brauche.

»Und was hat er gesagt?«

»Nur dass ich gehen darf. Er scheint kein schlechter Mensch zu sein, denn er hatte Mitleid mit mir. Keine Ahnung, was er vorhat. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er da lebend rauskommt. Ich bete für ihn.«

In der Ambulanz begrüßte mich Sarah.

»Wie sieht es aus?«, fragte sie.

»Laut Aussage des Patienten von gerade eben hat er noch 14 Menschen in seiner Gewalt. Sein Ziel ist unklar.«

»Unklar?«

»Ja. Bislang hat er nur gefordert, auf dem Dach gegenüber Scharfschützen zu postieren.«

»Dann will er wohl ’nen theatralischen Abgang, oder?«

»Genauso ist es.«

Lenny und ich fuhren zurück zur Praxis. Mittlerweile wurde es dunkel. Erste Schneeflocken landeten sanft vor unserem Rettungswagen und bedeckten die Straße.

Nacheinander wurden nun 13 weitere Geiseln entlassen und durften die Praxis verlassen. Einige von ihnen brachen noch auf der Straße zusammen und entwickelten in der Folge eine posttraumatische Belastungsstörung. Das war sicher der teuerste Zahnarztbesuch ihres Lebens.

19 Uhr 50. In der Praxis war es still. Durch das Fenster war zu beobachten, wie Frank rastlos hin und her lief. Ab und zu zupfte er den Vorhang beiseite und spähte hinunter auf die Straße. Nur noch die Zahnarzthelferin befand sich in seiner Gewalt. Kalkulierbares Risiko für die Exekutive. Der Polizeichef sagte später auf der Pressekonferenz, dass Frank die letzte Geisel nicht habe gehen lassen.

20 Uhr 02. Ein Knall und dichter Rauch. Die Eingangstür flog auf. Das Schloss war zerstört. Drei vermummte SEK-Beamte stürmten mit vorgehaltenen Waffen in die Praxis und überraschten Frank. Noch kehrte er ihnen den Rücken zu, drehte sich aber schnell herum. Seine Augen trafen die des ersten Polizisten. Die nachfolgenden Szenen spielten sich im Zeitraum weniger Sekunden ab.

»Waffe weg!« Erste Warnung.

Frank hatte nicht damit gerechnet.

»Waffe weg!« Letzte Warnung.

Frank bewegte sich keinen Millimeter. Ich glaube nicht, dass Frank eine realistische Möglichkeit hatte, zu reagieren und die Waffe aus der Hand zu legen, da einer der Beamten keinen Bruchteil einer Sekunde zögerte.

Die erste Kugel schlug mit der Härte einer Dampframme durch Franks Brust. Während er zurücktaumelte, bahnte sich eine zweite Kugel ihren Weg durch seinen rechten Lungenflügel wie ein heißes Messer durch Butter. Vielleicht hatte Frank noch Zeit, Reue oder Schuldgefühle zu empfinden. Vielleicht aber auch nicht.

Eine dritte Kugel traf Franks Stirn. Der Schädelknochen zersprang, das Projektil biss sich durch den Frontallappen und weitere Teile des Gehirns. Beim Durchschneiden des zweiten Hirnnervs explodiert das Sehen in bunten Blitzen. Das Projektil verschmolz mit dem Gewebe des Großhirns und ließ Franks Bewusstsein für immer erlöschen. Während eine der großen Hirnarterien eine Blutfontäne aus der Nase schießen ließ, durchschlug die Kugel den Hirnstamm. Um 20.03 Uhr war Franks Leben zu Ende. Sein Plan war aufgegangen.

Nach dem Einsatz verließen die Leute des Sondereinsatzkommandos die Szenerie genau so, wie sie eingetroffen waren. Ungefähr 30 Sekunden nach den Schüssen eilten die vermummten Beamten aus dem Hauseingang, sprangen in die VW-Busse und fuhren von der Einsatzstelle weg. Uniformierte Polizisten führten nun die letzte Geisel hinaus, die junge Zahnarzthelferin, die ihre Beherrschung bis dahin bewahrt hatte. Sie stolperte in der Eingangstür über die Schwelle und brach erst dann in Tränen aus, weil nun der ganze Stress von ihr abfiel wie das letzte Herbstblatt von einem Baum. Das Mädchen war bis dahin nach außen ruhig geblieben und hatte sogar noch während der Geiselnahme ein Interview gegeben, als ein großer Radiosender in der Praxis angerufen hatte, um die Geisel zu befragen. Dieser Anruf hatte nicht gerade zur Entspannung der Lage beigetragen, da Frank dem Mädchen in diesem Moment seine Waffe an den Kopf gehalten hatte.

Wir packten unsere Sachen zusammen und machten uns auf den Heimweg. Im Radio spielten sie das Interview ab, das bereits kontrovers diskutiert wurde. Lenny kam zu der Erkenntnis, dass es auch unter Radiosprechern völlig skrupellose Menschen gibt, die kein bisschen über eventuelle Folgen nachdenken und wohl alles für ihre beschissenen Einschaltquoten tun würden. Der Moderator des Radiosenders hätte schließlich eine nicht ungefährliche Situation auslösen können, wenn die Geisel bei einer Frage das Falsche gesagt hätte.

Perfekt geformte Schneeflocken fielen wie Wattebällchen vom Himmel und bedeckten die Straßen mit weißem Flaum. Die letzten Journalisten packten ihre Kameras und Mikrofone ein, stiegen in die Autos und räumten endlich die Hauptstraße. Menschen liefen an der Zahnarztpraxis vorbei, als ob nichts passiert wäre. Sie ahnten auch nichts von der Tragödie, die sich noch vor Kurzem hier in diesem Gebäude abgespielt hatte.

Später stellte sich heraus, dass Franks Waffe nur eine Gaspistole gewesen war, die niemanden hätte töten können. Auch die Handgranate war nicht scharf gewesen, sondern ein täuschend echt aussehendes Feuerzeug. Den Polizisten war trotzdem keine andere Wahl geblieben. Denn niemand war in der Lage, innerhalb weniger Augenblicke den Unterschied zwischen einer scharfen Pistole und einer Spielzeugwaffe zu erkennen. Sie hatten die tödlichen Schüsse auf Frank abfeuern müssen. Und das war ja auch genau das gewesen, was Frank gewollt hatte.

Sie sehen aber gar nicht gut aus!
CoverImage.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht.xhtml
Section0001.xhtml
Section0002.xhtml
Section0003.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-1.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-2.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-3.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-4.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-5.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-6.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-7.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-8.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-9.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-10.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-11.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-12.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-13.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-14.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-15.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-16.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-17.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-18.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-19.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-20.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-21.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-22.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-23.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-24.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-25.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-26.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-27.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-28.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-29.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-30.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-31.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-32.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-33.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-34.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-35.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-36.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-37.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-38.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-39.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-40.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-41.xhtml