
Die Ironie eines Schicksals
Lenny bog auf dem Weg zur Tankstelle in die Hauptstraße ein. Unsere Dieselvernichtungsmaschine brauchte Kraftfutter. Einen verdammten Euro und 52 Cent kostete der Liter Diesel derzeit.
»Wenn das so weitergeht, können wir bald mit der Kutsche zum Einsatz gurken«, schimpfte er und steuerte auf die rot-weiße Tanke mit dem Tiger auf dem Dach zu. »Dieses Pharisäerpack von der Ölindustrie …«
»Akzeptiere, was du nicht ändern kannst.«
»Blöder Spruch. Wenn ich mal richtig viel Geld habe, geht mir der Spritpreis kilometerweit am Gesäß vorbei«, sagte Lenny und zog seine Augenbrauen hoch.
»Und woher bekommen? Außer einem Banküberfall fällt mir bei dir nichts ein.«
»Was soll das heißen? Ich spekuliere ...«
»... auf bessere Zeiten?«
»Quatsch. An der Börse.«
»Du glaubst also, dass es dir mit viel Geld besser gehen würde?«
»1/83/1?«, schaltete sich die Leitstelle dazwischen, bevor ich eine Antwort bekam.
»1/83/1 hört Sie.« Lenny griff nach dem Hörer.
»Fahren Sie: Von-Ruckteschell-Allee, Notfallpatient Wahlberg hat das Parkett geküsst.«
»Verstanden. Haben Sie auch noch eine Hausnummer?«
»Nein. Der Anrufer meinte, ihr könntet es nicht verfehlen. Es gibt dort nur ein Häuschen.«
Lenny hängte den Hörer auf die zerkratzte Plastikgabel. Ein Einsatz im teuersten Nobelviertel. Das Tanken hatte sich zunächst erledigt.
Beim Aussteigen blickten wir an Baumreihen einer wohlgepflegten Allee entlang. Das ganze Anwesen umfasste bestimmt vier Hektar Grund. Grauer Asphalt ging dann in Marmor über und schließlich landeten wir an einer großen, alten, dunkelbraunen Massivholzhaustür mit Intarsien und einer Klinke, die nicht so aussah, als stamme sie aus dem Baumarkt. Weiße Marmorsäulen stützten ein Glasdach über dem Eingangsbereich. Der Name »Wahlberg« stand in Goldschrift auf dem Marmorschild, das neben der Tür angebracht war.
»Hier ist es.« Ich zog den gusseisernen Haken, eine Glocke ertönte. Schritte näherten sich, und jemand sperrte von innen auf. Eigentlich hatte ich einen Butler im Anzug erwartet, der uns zum Besitzer dieses Marmorbunkers bringen würde. Oder zumindest eine Haushälterin im schwarzen Mini und mit Tablett in der Hand. Und ich rechnete mit einem älteren Hausherrn, der auf seinem glatt polierten Parkettboden ausgerutscht war.
Der junge Typ, der jetzt an der Tür vor uns stand, sah jedoch eher aus, als hätte man ihn gerade erst aus der Gosse gezogen. Haarzotteln hingen ihm vom Schädel, und das dürre Gesicht sah aus, als ob nur eine Schicht Pergament darübergespannt worden wäre. Bei diesem Typen in diesem Haus bekam der Begriff »Gegensätzlichkeit« eine ganz neue Dimension.
»Na endlich«, seufzte er, winkte uns hinein, drehte sich um und lief vor uns her.
Ein unsympathischer Zeitgenosse, war mein erster Gedanke.
Wir durchquerten das Eingangsfoyer, das doppelt so groß war wie meine Wohnung.
»Um wen geht es denn?«
»Um meinen Kumpel Markus. Ich glaube, dem geht’s nicht so gut«, erwiderte der Typ vor uns und nahm eine Treppe, die nach unten führte.
Markus Wahlberg lag in seiner eigenen Kotze direkt neben dem Swimmingpool im weiß gefliesten Keller. Durch die Unterwasserbeleuchtung spiegelten sich die Wasserbewegungen an den Wänden und der Decke. Ein Arm hing im Wasser, der Mann schien zu wenig Sauerstoff zu bekommen, denn seine Lippen waren blau angelaufen.
»Was war hier los?«, fragte ich und begab mich neben den Patienten.
»Nix. Wir haben nur gefeiert. Er hat doch heute Geburtstag«, antwortete der Typ.
»Dann mal herzlichen Glückwunsch«, meinte Lenny, kniete sich neben den Rucksack und gab mir das Blutdruckmessgerät heraus.
»Alkohol?«
»Nur etwas ...«
»Wie viel?«, hakte ich eindringlich nach.
»Is’ ja gut. Ein paar Flaschen Korn. Und ’nen Druck.«
»Einen was?«
»Er hat sich H gedrückt.«
Das erklärte die Lippenzyanose. Der Spinner hatte sich die Droge in die Vene gefixt. Das Heroin wird über Umwege zu Morphin abgebaut. Nach dem anfänglichen Kick im Hirn bietet der Stoff einen ziemlich unsympathischen Nebeneffekt: Durch die Wirkung auf die Opioidrezeptoren kommt es zum Herabsetzen der Empfindlichkeit des Atemzentrums. Der Drogensüchtige bekommt seinen lebensnotwendigen Atemantrieb erst bei einer wesentlich höheren Kohlendioxidkonzentration der Umgebungsluft als der normale Mensch. Die Folge: Bei Überdosierung verlangsamt und verflacht sich die Atmung bis zum Atemstillstand. Der »goldene Schuss« ist also nichts weiter als das Aussetzen der Atmung und der damit verbundene Herzstillstand durch Sauerstoffmangel. Alkohol verstärkt diesen Effekt noch.
Die Kotze stank nach saurem Fisch, Wodka und Pfefferminzbonbons. Ich atmete nur durch den Mund ein und entdeckte die Spritze noch in einer Vene am Fußrücken. Der Fixer blutete am Hinterkopf. Offenbar war der Rand des Schwimmbeckens härter gewesen als sein Schädel.
Einen venösen Zugang bei einem Fixer zu legen ist ungefähr so einfach, wie in der Essener Straßenbahn im Berufsverkehr morgens um acht Uhr einen komfortablen Sitzplatz zu ergattern. Lenny hatte jedoch Glück und traf gleich beim ersten Versuch. Es klappte an einer Vene am Unterarm. Das Naloxon entfaltete seine Wirkung schlagartig und verdrängte das Heroin von den Opioidrezeptoren. Ich hielt etwas Abstand, denn ich erwartete nicht, dass der Junkie Markus Wahlberg das Ganze ebenso positiv sehen würde wie wir. Schließlich nahmen wir ihm gerade seinen Rausch weg. Er atmete einige Male tief ein und bewegte zuerst die Augenlider. Da Naloxon im Vergleich zum Heroin wesentlich schneller abgebaut wird, gaben wir mehrere Ampullen des Medikamentes zusätzlich in die Infusion.
Markus Wahlberg sah aus, als hätte er seine besten Zeiten bereits hinter sich. In seinem Ausweis, den wir in einer ledernen Brieftasche am Beckenrand gefunden hatten, las ich sein Alter. 31 Jahre. Ich konnte es nicht glauben. Eigentlich hatte ich ihn auf Ende 40 geschätzt. Er war dürr und hatte eine blassgelbe Hautfarbe wie Emmentaler. Die Augen lagen tief in den schattigen Höhlen und bewegten sich nur in Zeitlupe. Die Haut war eine Kraterlandschaft mit einer ganzen Menge von Einstichen und erinnerte mich an einen verbrauchten, ausgefransten Küchenschwamm. Vermutlich hasste er uns, denn wir hatten ihm seinen Schuss gründlich versaut. Und damit die Party.
»Haben Sie noch irgendwelche Vorerkrankungen, von denen wir wissen sollten?«, fragte ich ihn. Es verging sicher eine Minute bis zur Antwort.
»Ich habe Krebs. Es hat in der Lunge angefangen.«
»Drücken Sie deshalb?«
»Nein, ich drücke schon, seit ich 15 bin. Gestern hat mir mein Arzt gesagt, dass ich sterben werde. Lymphknotenbefall.«
»Scheiße.«
Wir hörten die Haustür ins Schloss fallen. Der abgefuckte Kumpel hatte das Weite gesucht.
»Toller Freund«, sagte Lenny, »geht einfach, ohne sich zu verabschieden.«
»Freund ist übertrieben. Der schnorrt nur das Dope.«
»Sie müssen ins Krankenhaus.«
»Was soll ich da? Ich sterbe. Heute sollte es eigentlich so weit sein ...«
»Sie wollten sich umbringen?«
»Ja.«
Lenny hatte den Raum verlassen, um den Notarzt und die Polizei nachzufordern. Markus Wahlberg musste behandelt und anschließend zwangseingewiesen werden. Er hatte jetzt keine Wahl mehr. Ich verstand dass Ganze auch als einen letzten Hilferuf. Schließlich hätte er sich den goldenen Schuss auch so setzen können, dass er dabei nicht Gefahr lief, gerettet zu werden – aber das hatte er nicht getan.
Mir fiel dazu nichts mehr ein. Außer dass Markus Wahlberg alles verspielt hatte. Ständig Partys, ständig Alkohol, Heroin, Koks und dazu der ganze Abschaum von der Straße. Falsche Freunde, die sich nur an seine Kohle drangehängt und keinerlei Interesse an seiner Person hatten. Die viele Zeit, die er zum Beispiel für ein Studium hätte nutzen können, war ohne Resultat verstrichen. Er hatte wohl auch nie gelernt, für sich zu sorgen. Markus’ Eltern hatten ihm alles wie selbstverständlich in den Hintern geschoben, sodass er nie das lernen musste, was ein normales Kind im Erwachsenenalter erst lebensfähig macht. Das ganze Geld, der Grund und alles Drumherum halfen ihm jetzt gar nichts.
Lenny schimpfte auf der Rückfahrt zur Wache nicht mehr über den Spritpreis und freute sich wahrscheinlich genauso wie ich über sein Wohlbefinden. Man lamentiert ja oft darüber, wie schlecht es doch auf dem eigenen Bankkonto aussieht, was für Penner die Nachbarn sind, weil der Köter ständig bellt oder wieder kein Parkplatz vor der eigenen Haustür frei ist. Aber letztendlich nützen einem die ganze schöne Kohle und der Rest gar nichts ohne die entsprechende Grundlage – eine einwandfreie Gesundheit. Auch in Markus’ Fall schien es so, als hätte das Schicksal für all den Reichtum zum Ausgleich seinen Tribut eingefordert.
Ob dies auch Markus klar war, weiß ich nicht. Er bekam keine Chance mehr, sein Leben wieder zurechtzurücken.