
Murphys Gesetz im Rettungsdienst
In der Regel haben Lenny und ich die Einsätze zu den unchristlichsten Zeiten betonfest abonniert. Und es ist auch nicht so, dass wir unsere Schicht um 19 Uhr beginnen, irgendwann vier oder fünf Einsätze abarbeiten und dann den Rest der Nacht Ruhe haben. Nein. Hier kommt Murphy ins Spiel. Wenn wir also unsere Rettungswache um 18.40 Uhr betreten, ertönt der Piepser garantiert um 18.42 Uhr. Man könnte hierfür auch eine mathematische Formel aufstellen. Sie würde lauten: Eintreffzeit Rettungswache + 2 Minuten = Alarmzeit erster Einsatz.
Genauso verhält es sich im Bereich Abendplanung nach einem Dienst. Haben Sie Kinokarten für 20 Uhr, dann rücken Sie garantiert um 18.50 Uhr zu einem Einsatz aus, von dem Sie erst gegen 19.45 Uhr wieder zurück sind. Jeder erfolgreiche Zusammenhang zwischen geplantem und tatsächlichem Schichtende ist also rein zufällig.
Ähnliche Gesetzmäßigkeiten gelten im Rettungsdienst auch in Bezug auf Menschen oberhalb einer gewissen Body-Mass-Index-Grenze. Das Gewicht eines Notfallpatienten wächst direkt proportional mit der Anzahl der Stockwerke, die wir Sanitäter mit ihm zurücklegen müssen. Daraus kann man schlussfolgern, dass die schwersten Patienten in aller Regel so weit wie nur irgendwie möglich über dem Meeresspiegel wohnen. Eine weitere Gesetzmäßigkeit dringt bereits tief in den rettungsorganisatorischen Ablauf ein. Je weiter der Patient ein bestimmtes Gewicht überschritten hat, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit eines Aufzugdefektes. Fällt aber der Aufzug aus, so brennt ganz sicher keine einzige Funzel im Treppenhaus. Funktioniert die Treppenhausbeleuchtung nicht, streikt zudem garantiert trotz nagelneuer Batterien die eigene Taschenlampe. Aber auch hier kann es immer noch schlimmer kommen.
Je mehr Platz benötigt wird, um vernünftig an einem Patienten arbeiten zu können, desto weniger steht uns Sanitätern in der Regel im Wohnraum des Patienten zur Verfügung. Der Erkrankte liegt im Notfall natürlich im hintersten Zimmer, dem kleinsten Raum in der ganzen Wohnung, und kann nicht bewegt werden.
Je größer die Schwierigkeiten sind, in denen der Patient steckt, desto weniger Informationen stehen uns über dessen Krankheitsverlauf zur Verfügung. Und wenn der Patient intubiert werden muss, hat er sich garantiert 15 Minuten zuvor eine feudale Mahlzeit einverleibt, die er mit genügend Bier begossen hat. Bestandteile dieses Essens waren Knoblauch, Zwiebeln und saurer Hering in verschwenderischer Menge. Damit ist auch klar, dass es bei diesem Notfallereignis einen echten Höhepunkt gibt: das überraschende, schwallartige Erbrechen des Patienten.
Wenn man es trotz aller Widrigkeiten schafft, dem Patienten den Beatmungsschlauch in den Hals zu schieben, passiert bestimmt Folgendes: Der Ballon am Tubus, der verhindern soll, dass Erbrochenes in die Lunge eindringt, ist natürlich defekt. Gemäß Murphy ist die Wahrscheinlichkeit eines Geräteausfalles umso höher, je dringender wir das Gerät benötigen und je akuter die Lebensgefahr ist, in der sich der Patient befindet.
Dann sind da noch die Angehörigen. Manche davon machen uns Rettern das Leben wirklich höllisch schwer. Murphy hat hierzu eine einfache Regel: Die Anzahl der unkooperativen Angehörigen erhöht sich linear mit der Schwere der Erkrankung eines Notfallpatienten.
Wer im Rettungsdienst tätig ist, sollte übrigens immer auf die Toilette gehen, sobald er auch nur den dezentesten Drang dazu verspürt. Die Wahrscheinlichkeit, einen Einsatz zu bekommen, steigt nämlich direkt proportional mit der Zeitspanne an, die Ihr letzter Toilettenbesuch zurückliegt.
Apropos Toilettenbesuch: Auch lustige Kollegen können einem in diesem Zusammenhang das Leben extrem schwer machen. Ein beliebtes Spiel bei akuter Langeweile ist das durch den konsumierenden Retter unbemerkte Verfeinern des Kaffees mit Lasix. Lasix gehört zur Gruppe der harntreibenden Medikamente. Bei Menschen mit einer Herzminderfunktion eine wunderbare Sache, bewirkt das Medikament doch das Ausschwemmen der im Kreislauf angestauten und überreichlichen Flüssigkeit. Bei gesunden Menschen bewirkt es nur eines: Sie müssen pinkeln wie ein Elch. Viel und ausgiebig. Eine Viertelampulle im Morgenkaffee macht jede Einsatzfahrt zu einem wirklichen Erlebnis. Murphys Gesetz besagt nämlich für diesen Fall, dass der Piepser ganz sicher anschlägt, sobald die erste Tasse Kaffee weggetrunken ist.
So wurden auch Lenny und ich einmal Opfer dieses lustigen Streichs. Kaum im RTW, mussten wir auf die Toilette. Aber wie und wo? Wir mussten doch zum Einsatz. Glücklicherweise handelte es sich dabei um eine Knöchelprellung und nichts Lebensgefährliches. An der ersten Kreuzung entdeckten wir ein Eiscafé. Ein kurzer Stopp, das Blaulicht abgeschaltet – schließlich wollten wir nicht unnötig für Aufsehen sorgen –, und schon konnten wir an den Augen der italienischen Barkeeper vorbei in die Toilette eilen und unserem Wasserdrang ein Ende bereiten. Die Barkeeper nahmen das Ganze mit reichlich Humor auf.
Keine drei Kilometer weiter war er wieder da, der unglaubliche Druck auf der Blase. Als ob man schon seit zwei Tagen nicht mehr auf dem Klo gewesen wäre. Die Gelegenheit war günstig, denn wir befanden uns an einer Landstraße, deren baumbepflanzter Grünstreifen geradezu dazu einlud, die Blumen zu gießen. Ein erleichterndes Gefühl.
Einige Minuten später hatten wir endlich das Haus mit dem Patienten erreicht. Herr Meier hatte sich beim Heimwerken den Knöchel geprellt und konnte nicht mehr auftreten. Wir gaben ihm etwas zur Kühlung und wollten ihn zum Röntgen ins Krankenhaus fahren, doch Lenny trat schon wieder von einem Bein aufs andere.
»Alles in Ordnung?«, fragte Herr Meier sichtlich irritiert.
»Ja ... geht schon. Ich müsste ... nur ... mal kurz auf die Toilette«, gestand Lenny mit hochrotem Kopf.
»Und Sie? Ihnen stehen die Schweißperlen ja auch auf der Stirn. So warm ist es doch nicht. Müssen Sie etwa auch?«
»Ja, leider«, antwortete ich.
»Da hinten auf der linken Seite wäre die Toilette«, meinte Herr Meier, schüttelte den Kopf und zog sich seine Jacke über. »Tun Sie sich keinen Zwang an.«
Wir erledigten das Unaufschiebbare und fuhren Herrn Meier anschließend ins Krankenhaus. Der wird uns mit Sicherheit nicht so schnell vergessen.
Kleine Scherze erhalten bekanntermaßen die Freundschaft. Wir haben aus dieser Aktion auf jeden Fall eines gelernt: Lass deine Kaffeetasse niemals aus den Augen!