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Während die letzten Surfs am Fischernetz hinaufkletterten, schickte ich gerade noch rechtzeitig ein paar Klicks zum Meeresboden hinab und sah, wie die Drift weit unter uns auf den Schrotthaufen aus Wracks krachte, umkippte und direkt auf Ratters U-Boot landete. Ich wandte mich ab und schwamm an die Oberfläche. Ich schämte mich für den plötzlichen Drang zu jubeln.

Über mir baumelten Beine, wohin das Auge reichte – doch sie machten keine Schwimmbewegungen –, sie schaukelten einfach in der Strömung wie Ranken aus Seegras. Ein beunruhigender Anblick, denn sie wirkten so verwundbar.

Die Meeresoberfläche erschien mir seltsam ruhig, wenn man bedachte, dass ich von Hunderten Menschen umgeben war. Doch sie waren einfach zu schwach, um mehr zu tun, als sich in ihren Rettungswesten treiben zu lassen. Ich brauchte eine Weile, um Gemma unter ihnen ausfindig zu machen. Sie hing am Puffer des Skimmergehäuses. Die beiden Personen, die im Inneren hockten, waren alt und gebrechlich – nicht meine Eltern.

Ich schwamm auf Gemma zu.

»Sie sind da drüben«, sagte sie, ohne meine Frage abzuwarten. »Sie versuchen, das Signal der Boje zu verstärken.«

Ich entdeckte die Lichter an ihren Helmen – abgesehen vom Mond die einzige Beleuchtung weit und breit. Die aufgebrochene Boje trieb zwischen ihnen. Wenn irgendjemand in der Lage war, das Signal zu verstärken, dann Dad.

»Verstärken« – bei diesem Wort musste ich an Ratter denken und wie ich meine Dunkle Gabe »verstärkt« hatte. Mein Herz begann heftig zu schlagen und plötzlich verstand ich, wie Zoe sich fühlte, wenn sie fürchtete, jemanden ernsthaft zu verletzen. Kein Wunder, dass sie aufgehört hatte, ihre Dunkle Gabe zu benutzen.

Ich bereute es nicht, dass ich Ratter betäubt hatte, er hatte mir keine andere Wahl gelassen. Aber es beunruhigte mich, dass ich nicht wusste, wie sehr ich einer Person wirklich schaden konnte. Es fühlte sich an, als ob ich eine entsicherte Harpunenkanone auf dem Rücken festgeschnallt hätte, die jederzeit losgehen konnte.

Mit einem Mal kam es mir seltsam vor, dass nur Gemma und ich uns am Skimmergehäuse festhielten, und ich fragte sie nach dem Grund. »Hat Dad ihnen gesagt, dass sie sich nicht festhalten sollen?«

Gemma drückte die Plexiglasscheibe ihres Helms gegen meinen, sodass sie leise sprechen konnte. »Ria hat ihnen aufgetragen, Abstand zu halten. Sie will nicht, dass das Gehäuse durch das zusätzliche Gewicht untergeht.«

»Ria?«

Sie nickte in Richtung eines Mädchens, das etwas entfernt im Wasser trieb. Ihre Schwimmweste war an den Schultern hochgerutscht.

»Dein Vater hat sie überredet, dass die beiden sich in den Skimmer setzen dürfen.« Gemma deutete mit dem Kopf zu den zwei alten Surfs. »Ria war der Meinung, dass dieser Platz allein deinen Eltern gebührt.«

Obwohl ich nur das Profil des Mädchens sehen konnte, das gerade zu einer Gruppe verzweifelter Surfs sprach, wusste ich, dass es das Mädchen war, mit dem ich durch das Fenster der Drift kommuniziert hatte.

»Ist das Hadals Tochter?«, fragte ich.

Gemma nickte.

»Hast du ihr erzählt, was mit ihrem Vater passiert ist?«

»Sie schwimmt die ganze Zeit umher und versucht, den anderen Mut zu machen. Ich glaube nicht, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, das zu erwähnen.« Auch wenn ihre Worte ein wenig ironisch klangen, war ihr Gesicht todernst.

»Gute Entscheidung.«

»Ty!«, hörte ich meine Mutter rufen. Ich schloss die Augen, um den vertrauten Klang ihrer Stimme zu genießen. Ich hatte die Hoffnung nie ganz aufgegeben, dass sie noch am Leben waren. Trotzdem machte sich jetzt eine große Erleichterung in mir breit.

Ich hörte Wasser aufspritzen, und als ich mich umdrehte, sah ich, wie meine Eltern auf mich zugeschwommen kamen. Sie umarmten mich von beiden Seiten und winkten Gemma dazu. Gemma zögerte einen Moment, dann warf sie ihre Arme um uns alle drei – zumindest versuchte sie es.

»Geht es dir gut?«, fragte Mum und drückte eine Hand auf meinen Helm, als könnte sie meine Wange durch das Plexiglas streicheln.

»Mir? Ja, ich bin okay. Ihr seid diejenigen, die entführt wurden.«

»Als das U-Boot mit der Drift zusammentraf, wurden wir sofort an Bord gebracht«, sagte Dad. »Die Surfs hatten genau wie wir keine Wahl, denn Bürgermeister Fifes Handlanger drohte damit, ihren Häuptling zu töten.«

Dann erzählten mir die drei, wie es Gemma gelungen war, Kommandantin Revas’ Gardisten auf der anderen Seite des Strudels zu erreichen und dass sie mindestens eine Stunde bis hierher brauchen würden. Wir betrachteten die Menschen um uns herum – so viele von ihnen zitterten. Obwohl es eine warme Nacht war, hatte das Meer nicht einmal annähernd Körpertemperatur.

»Und es hält sich sonst niemand in diesem Gebiet auf?«, fragte Dad. Seine Stimme war nicht viel mehr als ein Krächzen. »Kein Fangschiff, keine Floater? Irgendjemand muss doch das Signal empfangen.«

»Ich habe jede Frequenz auf dem Bedienfeld des Skimmers ausprobiert«, sagte Gemma. »Es ist niemand hier draußen.«

»In der Werkzeugbox hinter der Bank ist eine Leuchtpistole«, sagte ich, während meine Verzweiflung wuchs. »Wenn wir vielleicht …«

Das Funkgerät im Inneren der Kapsel knisterte und eine Männerstimme sagte: »Wir haben euer Signal lokalisiert. Sagt den Surfs, sie sollen durchhalten. Wir sind fast da.«

Wir wechselten schockierte Blicke.

»Wer war das?«, fragte ich.

Mum drängte sich mit einem »Entschuldigen Sie!« neben die beiden älteren Surfs auf die Pilotenbank des Skimmers und beugte sich über die Konsole. »Das können nicht die Gardisten im Norden sein.« Sie richtete sich wieder auf und zeigte nach Westen. »Es kommt von …« Sie brach ab und schnappte nach Luft, denn in der Ferne tauchte ein kleines U-Boot zwischen den Wellen auf. Kurz darauf erschien ein zweites U-Boot. Immer mehr brachen durch die Wellen und alle glänzten im Mondlicht.

Innerhalb einer Minute war eine Flotte aus U-Booten aufgetaucht – keine straffe Formation aus Skimmern der Meereswache, sondern Fahrzeuge unterschiedlichster Formen und Größen, die sich schnell näherten. Es waren große Kreuzer darunter, wie der, den meine Familie besaß, doch viel aufschlussreicher waren die Erntemaschinen und Mähdrescher – Schiffe, die nur unterseeische Farmer besaßen. Lars hatte gehofft, dass er ein paar Siedler aufrütteln und davon überzeugen konnte, sich an der Suche zu beteiligen, doch so wie ich das sah, waren alle Bewohner des Benthic-Territoriums gekommen, um zu helfen.

Das Geräusch der herannahenden U-Boote rüttelte die Surfs aus ihrer Benommenheit. Die ersten Freudenschreie stiegen auf und wurden lauter, je näher die Boote kamen. Doch kurz bevor sie uns erreicht hatten, hielten sie an und der Jubel verebbte wieder.

Ich schob mein Helmvisier zurück, denn ich kannte den Grund. »Es ist sicherer für uns, zu ihnen zu schwimmen!«, rief ich, so laut ich konnte.

Mit tauben Gliedern und klappernden Zähnen paddelten die Surfs vorwärts – manche schwammen, andere waren kaum in der Lage, Arme und Beine zu bewegen.

An dem großen Kreuzer ganz vorne wurde eine Luke aufgestoßen und eine Gestalt in einem Taucheranzug kletterte heraus. Lars. Auf weiteren U-Booten wurden Luken geöffnet und ich sah zu, wie meine Nachbarn ausstiegen, sich auf Trittbretter und Puffer stellten und die Hände nach den Surfs ausstreckten. Viele sprangen sogar ins Wasser, um den besonders geschwächten Menschen unter die Arme zu greifen. Gemma und ich schwammen in das Gedränge, um ebenfalls unsere Hilfe anzubieten.

Als der letzte Surf aus dem eisigen Griff des Meeres befreit worden war, paddelte Gemma zu mir. Sie sah genauso erschöpft aus, wie ich mich fühlte – als könnte sie keinen einzigen Schwimmzug mehr tun. »Hast du den Skimmer gesehen?«, fragte sie und deutete zum Horizont, wo die Morgendämmerung wie ein Versprechen herangebrochen war.

Ich versuchte erfolglos, mich auf den Puffer des Kreuzers hochzuziehen, um einen besseren Blick zu haben, da reichte Lars mir die Hand, zog mich an Bord und holte Gemma gleich hinterher.

Tatsächlich kam ein einzelner Skimmer schnell näher. Wahrscheinlich hatte er den Impuls der Signalboje empfangen.

Ria kniete sich zu meiner Rechten auf den Puffer, doch der herannahende Skimmer schien sie nicht zu interessieren. Ihre Augen ruhten auf dem Wasser. Ihr nasses Haar klebte an den Wangen und sie starrte in die Wellen, als könnte sie durch sie hindurchsehen.

»Geht es dir gut?«, fragte ich und hockte mich neben sie.

Sie blickte mich mit trostloser Miene an. »Können wir sie heben?«, fragte sie. »Sie an die Oberfläche schleppen?«

»Sie? Du meinst die Drift?«

Ria nickte.

»Keine Chance.«

Gemma drückte sich schnell an mir vorbei und versetzte mir einen leichten Stoß auf den Hinterkopf. Sie kniete sich auf der anderen Seite von Ria auf den Puffer. »Ty meint, dass die Siedler sie nicht heben können«, sagte sie. »Aber es gibt sicher eine andere Möglichkeit«, fügte sie hinzu und sah mich auffordernd an.

»Das ist nicht so einfach. Die Drift ist inzwischen mit Wasser vollgelaufen«, erklärte ich. »Um ein solches Gewicht hochzuziehen, bräuchte man einen Schlepper von der Größe eines Ozeandampfers.«

Ria verlor die Fassung. »Was soll ich ihnen sagen?« Sie deutete auf die U-Boote, die sich auf den Weg zurück zur Handelsstation machten. »Dass es keine Hoffnung gibt, unser Zuhause zurückzuholen? Dass unsere gesamte Fischfangausrüstung verloren ist? Wir haben nichts mehr.«

Gemma und ich wechselten einen Blick und sie nickte als Antwort auf die unausgesprochene Frage, die zwischen uns stand.

»Das stimmt nicht«, sagte ich zu Ria. »Ihr habt die Nomad.« Ich zog die Plakette aus dem versiegelten Beutel an meinem Tauchgürtel und hielt sie ihr hin.

Sie schien verwirrt und nahm sie nicht an.

»Die Meereswache hat sie wieder flottgemacht. Die Motoren, einfach alles«, erklärte Gemma.

Ria griff immer noch nicht nach der Eigentumsmarke. »Gab es keine Überlebenden?«, fragte sie leise.

»Nein. Gemma und ich haben sie gefunden, also können wir sie auch verschenken.«

»Dann ist sie euer Bergungsgut«, stellte Ria fest. »Ihr könnt sie verkaufen. Warum solltet ihr sie uns überlassen?«

»Ihr seid unsere Nachbarn – die einzigen, die wir haben. Und wenn im Benthic-Territorium einem Nachbarn etwas Schlimmes zustößt, helfen wir uns gegenseitig – wir tun, was wir können, und geben, was wir entbehren können.« Ich drückte ihr die Eigentumsmarke in die Hand. »Ich würde nie anders leben wollen.«