22

Wir stolperten über die Brücke und rannten auf zwei Laternenmasten am anderen Ende zu.

Erleichtert, dass wir nicht verfolgt wurden, blieben wir kurz stehen und sahen den Surfs dabei zu, wie sie ihre Boote unter der Brücke festmachten und an einer herabbaumelnden Leiter zu einem Vorsprung in der Stadionfassade hinaufkletterten. Dort musste sich einst die Fensterfront des obersten Stockwerks befunden haben.

Als die Surfs durch eine der großen, scheibenlosen Fensteröffnungen kletterten, eilten Gemma und ich über die Brücke hinter ihnen her, doch bevor wir das Ende erreicht hatten, wurden wir von einer männlichen Stimme aufgehalten.

»Ach, wen haben wir denn da?« Ein stämmiger Kerl trat aus dem Schatten hervor in den Schein der Laternen. Er hielt eine Geldkassette in der Hand und strahlte vor Vergnügen – Ratter. Man hätte denken können, er habe gerade einen lebenslangen Vorrat an Kaugras gewonnen.

Bevor ich mich ihm näherte, überlegte ich, wer gefährlicher war, Ratter oder der Seetangdieb mit dem Filetiermesser. Eine echt knifflige Frage.

»Na, wegen der Show hier?«, fragte er.

Letzte Nacht hatte ich einen Outlaw aus dem Gefängnis auf Rip Tide befreit und Ratter in das Becken mit den Neunaugen befördert. Dennoch grinste er mich an, als wären wir alte Freunde. Ich wurde sofort misstrauisch.

»Was für eine Show?« Gemma baute sich vor mir auf, als könnte sie mich vor Ratter verstecken.

»Das wollt ihr wohl wissen, he?«, höhnte er. »Dann bezahlt, um reinzukommen.«

»Diese Surfs haben aber keinen Eintritt gezahlt«, hielt sie ihm entgegen.

»Die sind auch nicht zum Zuschauen hier. Sie sind die Hauptattraktion.«

Jetzt wusste ich, woher die Surfs ihre Narben hatten. Ich schob mich an Gemma vorbei und lief zum Ende der Brücke. »Dann sagen Sie uns wenigstens, was für ein Tier da unten schwimmt«, sagte ich und versuchte, lässig zu klingen. »Es ist kein Hai, aber es ist groß. Sein Kiefer muss mindestens einen Meter breit sein. Und es hinterlässt Bissspuren, wie ich sie noch nie gesehen habe.«

»Hast fein aufgepasst, nicht wahr, Pionier?«, spottete er.

»Ja, wir haben einige Surfs gesehen, denen Gliedmaßen fehlten. Also, beeindrucken Sie uns. Was ist es?«

Ratters wachsame Augen funkelten im Schein der Laternen. »Sagen wir einfach, ihr habt diese Nacht ein Glückslos gezogen. Ihr habt freien Eintritt und könnt es euch mit eigenen Augen ansehen.« Er klemmte sich die Geldkassette unter den Arm, kletterte durch die Fensteröffnung und sprang auf der anderen Seite polternd ins Innere des Stadions. Als er sich wieder aufrichtete, drehte er sich zu uns um. »Worauf wartet ihr noch? Die Show fängt gleich an.«

Die Neugierde trieb mich vorwärts, doch Gemma holte mich ein und fasste mich an der Hand. »Du weißt, dass das keine gute Idee ist, oder?«

»Bleib hier draußen«, flüsterte ich. »Ich will nur sehen, was dort drin vor sich geht, dann komme ich sofort zurück.«

»Netter Versuch.« Sie sah zu Ratter, der uns beobachtete. »Ist das eine von Bürgermeister Fifes Veranstaltungen?«

»Seine Lieblingsveranstaltung«, erwiderte Ratter, als würde er ein Geheimnis verraten. »Aber er will nicht, dass die Leute wissen, dass er der Veranstalter ist, deshalb kommt er nicht oft her. Er überlässt mir die ganze Durchführung, obwohl ich nicht so ein Aufschneider bin wie er.«

Als ich Fife nach den Koordinaten der Hardluck Ruinen gefragt hatte, war ich also, ohne es zu wissen, an die richtige Person geraten … oder vielleicht genau an die falsche, je nachdem, was wir im Stadion vorfinden würden. Gemma und ich wechselten einen Blick und unser Entschluss stand fest. Wir würden das Risiko eingehen. Wir klettern durch die Fensteröffnung und sprangen in einen dunklen Gang.

»Wie ich hörte, hat euch Bürgermeister Fife gewarnt, dass ihr euch von hier fernhalten sollt«, sagte Ratter plötzlich neben uns. Ich wirbelte herum und sah, wie er eine Harpunenkanone von dem mit Schutt übersäten Boden aufhob. »Ihr hättet auf den Mann hören sollen«, fuhr er fort und zielte mit der Waffe auf mich.

Nachdem er uns die Tauchgürtel abgenommen und uns abgetastet hatte, zwang er uns durch einen Torbogen in die Nachtluft hinaus, die vom Stimmengewirr Tausender Zuschauer erfüllt war. Das Stadion war ebenfalls überflutet, aber weniger beschädigt als die anderen Gebäude der Hardluck Ruinen. Nur ein kleiner Teil des oberen Geschosses war eingestürzt. Ein Stacheldrahtzaun war zwischen den Trümmern gespannt und schloss die Lücke. Dahinter war der Ozean zu sehen. Zu schade, dass wir kein Boot hatten.

Solange Gemma und mir kein Fluchtplan einfiel, mussten wir uns wohl oder übel von Ratter die steile Treppe hinab zu dem ehemaligen Spielfeld führen lassen. Es stand unter Wasser, genau wie die Hälfte der Tribüne. In dem trüben Stadionlicht sah es so aus, als würden nur Topsider die Zuschauerplätze oberhalb der Wasserlinie füllen, bis auf den Bereich, in den Ratter uns trieb. Die Reihen um uns herum waren voller Surfs, die erschrocken und argwöhnisch auf unser Erscheinen reagierten – als würden Gemma und ich ein weiteres unangenehmes Problem darstellen. Soweit ich es beurteilen konnte, hockten die Surfs nach ihren Townships geordnet in Gruppen zusammen, als würden sie Fanblöcke zum Anfeuern bilden, obwohl ich das ungute Gefühl hatte, dass es bei dieser Veranstaltung keinen Grund zum Jubeln geben würde.

Als wir den Stacheldrahtzaun fast erreicht hatten, der das überflutete Spielfeld umgab, drückte Ratter Gemma in einen Sitz am Ende der Reihe. Ich wollte mich auf den Platz neben ihr setzen, doch Ratter hielt mich zurück. »Du nicht«, sagte er voller Bosheit. »Du gehörst zu dem Rest der Helden auf der anderen Seite des Zauns.«

»Andere Seite?«

Jetzt sah ich durch den Stacheldrahtzaun hindurch und entdeckte Männer und Frauen – wenigsten dreißig an der Zahl und allesamt Surfs. Sie standen auf den letzten Sitzen, die nicht von Wasser überflutet waren. Nach ihrer Kleidung zu urteilen, kam jeder von einem anderen Township. Einige waren grauhaarig und wirkten ängstlich, andere sahen noch jung und ziemlich verbittert aus. Alle trugen Messer und hatten sich einen Dreizack oder Harpunen auf den Rücken gebunden.

Gemma sprang von ihrem Sitz auf. »Ty wird nicht dort rausgehen.«

»Mach dir keine Sorgen um ihn.« Ratter schob mich zu einer Plattform, die sich über den Zaun erstreckte. »Er hat Gabion im Boxring geschlagen. Was soll ihm dann ein Saltie schon anhaben?«

»Ein was?«, rief ich.

Er drückte die Spitze der Harpune in meine Rippen. »Fang an zu klettern.«

Gegen Ratter mit der Harpune in der Hand konnte ich nichts ausrichten. Ich sah kurz zu den umstehenden Surfs, doch sie ignorierten uns geflissentlich. Kein Zweifel, dass sie irgendwelche Geschäfte mit Ratter machten und sich deshalb davor hüteten einzugreifen.

»Denk gar nicht dran«, sagte Ratter. »Kapier endlich, dass der einzige Weg für dich über den Zaun führt.«

»Sagen Sie mir wenigstens, was ich tun muss«, forderte ich, während er mich zu einer Leiter schubste, die zu einer kleinen Plattform hinaufführte. Wenn ich ihn zum Reden brachte, würde mir das vielleicht etwas Zeit verschaffen, um einen Weg zu finden, wie ich entkommen könnte.

»Nicht viel. Du musst nur ein Saltie erlegen und damit zum Retter deines Townships werden.«

»Ich habe kein Township«, erwiderte ich und weigerte mich, auch nur einen Fuß auf die Leiter zu setzen.

»Dir gehört doch die Nomad«, schnappte er.

»Ist das der Grund?«, fragte ich. »Dass die Nomad mein Bergungslohn ist?«

Sein Grinsen kehrte wieder. »Ganz genau! Und weil ich kein Dunkles Leben leiden kann.«

Ich sah, wie sich Gemma eine Zuschauerreihe höher an den sitzenden Surfs vorbeidrängte, um mit uns Schritt zu halten.

»Aber weil ich ein großzügiger Mensch bin, gebe ich dir die Chance, um die sich jeder Surf reißen würde«, fuhr er fort. »Nur du musst, wenn du ein Saltie tötest, das süße weiße Fleisch nicht mit stinkenden Surfs auf deinem Township teilen. Es würde alles dir gehören. Über eine Tonne.« Sein Lachen klang hässlich. »Ich wette, du hast noch nie Kroko gekostet. Ist gutes Fleisch. Besonders der Schwanz.«

»Kroko wie Krokodil?«, keuchte Gemma von ihrem Standort aus.

»Ein Salzwasserkrokodil«, bestätigte er. »So groß wie ein Hai und genauso hungrig. Der Hauptunterschied liegt darin, dass du auch außerhalb des Wassers nicht sicher bist.«

Ich runzelte die Stirn. »Es gibt keine Salzwasserkrokodile im Atlantik.«

»Vielleicht sind sie aus Australien hierhergeschwommen.« Sein Grinsen breitete sich zu einer abscheulichen grünen Fratze aus. »Oder vielleicht hat sie irgendjemand importiert.«

Warum sollte jemand etwas so Bescheuertes tun? Die Chancen, diese Kreaturen für immer in der Lagune gefangen zu halten, waren schlechter als schlecht.

»Hoch mit dir«, befahl er.

»Geben Sie mir wenigstens eine Waffe.«

Er zielte mit seiner Harpunenkanone auf meine Brust. Ich sah keine andere Möglichkeit und kletterte die Leiter zu der viereckigen Plattform über dem Stacheldraht hinauf. Von dort aus konnte ich das ganze überflutete Stadion überblicken. An einigen Stellen waren Geröll und Schutt hoch aufgetürmt und bildeten so etwas wie kleine Inseln.

»Los, geh schon weiter!«, brüllte Ratter. »Ich muss eine Show eröffnen.«

Ich rührte mich nicht vom Fleck und legte mich flach auf die Plattform. Er würde die Leiter hochklettern müssen, um auf mich zielen zu können, und ich hatte vor, ihm die Waffe zu entreißen, bevor er den Abzug drücken konnte.

Unter mir schnaubte Ratter vor Lachen. »Denkst du, ich komme da rauf? Sieh dich doch mal um, du Dummerchen.«

Ich hob leicht meinen Kopf und sah nur die Reihen völlig unbeteiligter Surfs.

»Weiter oben«, rief Ratter.

Ich richtete meinen Blick auf die im Schatten liegenden Torbögen oberhalb der Tribüne und erkannte die alten Logenplätze im oberen Rang des Stadions. Auch dort war das Glas schon lange verschwunden. In jeder dritten Loge stand eine dunkle Gestalt mit einer Harpunenkanone im Anschlag, die zweimal so groß war wie Ratters – und alle waren auf mich gerichtet.

Widerstrebend kletterte ich die Leiter auf der anderen Seite wieder hinunter. Jeder Surf stieg einen Stuhl weiter, um mir Platz zu machen.

»Wenn du auch nur daran denkst zurückzuklettern«, schrie mir Ratter hinterher, »wird dich einer der Krokodilbändiger aufspießen.« Mit diesen Worten hetzte er den Gang entlang zu einer Kabine weit oben im Stadion. Plötzlich sprangen im ganzen Stadion die Lichter an und die Zuschauer wurden still. Ich blinzelte und versuchte, meine Augen an das Licht zu gewöhnen. Als ich ein Zischen wie von einer Seilrutsche hörte, sah ich mich zu Ratters Kabine um und erblickte einen Haken mit einem enthaupteten Thunfisch als Köder. Er sauste an einem Seil entlang, das über dem Stadion gespannt war. Etwa in der Mitte wurde der Haken von einem Gummiring gestoppt. Der kopflose Thunfisch drehte sich in der Luft und Blut tropfte in das Wasser unter ihm – womit offensichtlich die Krokodile angelockt werden sollten.

Im ganzen Stadion blieben die Zuschauer still. Sie warteten.

Ich überlegte fieberhaft, ob ich es wagen sollte, zurück über den Stacheldrahtzaun zu klettern, denn ich ging davon aus, dass die »Krokodilbändiger« sich im Moment auf das Wasser konzentrierten. Doch ein Blick auf Ratters Kabine genügte und ich warf die Idee wieder über den Haufen. Seine wachsamen Augen waren auf mich gerichtet und er hatte freies Schussfeld. Ich wusste nicht, wie gut er zielen konnte, doch ich beschloss, es trotzdem nicht zu riskieren.

Jemand auf der anderen Seite des Stadions stieß einen Ruf aus und die Topsider sprangen von ihren Sitzen auf und starrten ins Wasser hinunter. Ich war zu weit von ihnen entfernt, um zu erkennen, worauf sie zeigten und weshalb sie nach Luft schnappten. Wahrscheinlich sahen sie dunkle Schatten, die durch Unterwassergänge in den überfluteten Bereich streiften, so wie der unheimliche Schatten, den ich vorhin in der Lagune entdeckt hatte. Ich schauderte und fragte mich, wie Ratter es geschafft hatte, so viele Surfs auf diese Seite des Zauns zu treiben.

Ein sonnenverbrannter Mann mit freiem Oberkörper, der zu meiner Rechten stand, nahm ein Messer quer zwischen die Zähne und biss darauf. Eine aufgeblähte Robbenblase baumelte am Griff, doch ich hatte keine Ahnung, wozu das gut sein sollte. Dann bemerkte ich, dass alle Waffen der Surfs mit den dünnen, braunen Ballons versehen waren. Zwei weitere Surfs nahmen ihre Klingen zwischen die Zähne, sodass sie die Hände frei hatten. Das hätte ich mit Sicherheit nicht gemacht, wenn Ratter mir mein Messer gelassen hätte.

Links von mir stand eine Frau, die sich gelben Lehm in den Haaransatz geschmiert hatte, damit ihr das Haar nicht ins Gesicht fiel. Als sie ihren Dreizack losband, konnte ich einen Blick auf ihre Halskette werfen – ein Lederband, an dem zwölf Zentimeter lange Zähne baumelten. Sie sahen aus wie der Zahn, den ich aus der Holzplanke gezogen hatte.

»Bleib aus dem Wasser raus«, sagte sie zu mir. Den Dreizack hielt sie jetzt in der Hand.

»Das hatte ich vor.«

»Wenn eins hinter dir her ist, klettere am Stacheldrahtzaun hoch.«

Also war es anscheinend besser, von Stacheldraht zerfetzt zu werden, als es mit einem Salzwasserkrokodil aufzunehmen. Gut zu wissen.

Plötzlich schoss eine schlammfarbene Kreatur aus dem Wasser. Die Zähne blitzten im offenen Maul und als die Krokodilkiefer über dem Thunfisch zusammenkrachten, hallte das Geräusch durch das Stadion wie das Zuschlagen einer Eisentür.

Mir blieb fast das Herz stehen. Kein Hai konnte sein Maul mit einer so explosionsartigen Wucht zuschlagen.

Das Krokodil riss den Thunfisch vom Haken, stürzte zurück in das Brackwasser und sank mit seiner Beute unter die Oberfläche. Adrenalin schoss durch meinen Körper. Als Ratter gesagt hatte, dass ein Salzwasserkrokodil so groß sei wie ein Hai, hatte ich einen Tigerhai vor Augen gehabt. Doch das Biest, das ich gerade gesehen hatte, musste mindestens sechs Meter lang sein und gut über eine Tonne wiegen. Es hatte also die Größe eines großen Weißen … nur mit Beinen. Ich drehte mich auf dem Sitz und suchte nach einem Ausweg über den Stacheldraht. Auf keinen Fall würde ich mich auf eine direkte Konfrontation mit einem Raubtier dieser Größe einlassen.

Ein Gong ertönte und Wasser spritzte am Rand des überfluteten Bereiches auf. Die drei Surfs mit den Messern zwischen den Zähnen waren ins Wasser gesprungen. Ich erstarrte, unfähig zu begreifen, was ich da sah. Die anderen Surfs rannten mit erhobenem Dreizack auf den Sitzen entlang und suchten das Wasser ab. Ratter musste diese Irren aus einer Nervenheilanstalt geholt haben. Die waren lebensmüde – jeder Einzelne von ihnen.

Im ganzen Stadion waren die Zuschauer auf den Beinen und feuerten die Surfs an. Es überraschte mich nicht, dass die Topsider nach Blut schrien. Doch dann bemerkte ich, dass die Surfs ebenfalls aufgesprungen waren und jubelten.

In diesem Moment wurde mir alles klar.

Diese Menschen waren nicht dazu gezwungen worden, über den Stacheldrahtzaun zu klettern. Sie wollten auf dieser Seite sein. Ratters Worten nach lieferte ein Krokodil über eine Tonne weißes Fleisch. Das war genug, um ein ganzes Township satt zu bekommen. Kein Wunder, dass die Surfs ihre mit Narben übersäten und verkrüppelten Körper voller Stolz zur Schau trugen. Sie hatten Leib und Leben für ihr Township riskiert und überlebt. Ich fragte mich nur, wie viele es nicht geschafft hatten.

Ein Augenpaar durchbrach die Wasseroberfläche und ich konnte die katzenartigen Pupillen des Krokodils erkennen – eine Tatsache, die mein Herz zum Rasen brachte. Das Biest war mir nicht nur ganz nah, senkrechte Pupillen bedeuteten auch, dass es im Dunklen ausgezeichnet sehen konnte. Als hätte ein tausend Kilogramm schweres Reptil noch weitere Vorteile nötig.