23

»Plover, schnell, geh auf die andere Seite des Siedlers«, rief eine Stimme hinter mir der Frau zu.

Sie nickte. »Lass mich durch«, sagte sie dann zu mir.

Ich drückte mich gegen den Stacheldraht und spürte, wie er durch meinen Taucheranzug stach. Es war aber die einzige Möglichkeit, ihr genügend Platz zu verschaffen, damit sie sicher an mir vorbeikam. Sie war im Handumdrehen auf der anderen Seite. Doch sowie sie ihren Dreizack erhoben hatte, tauchte die Kreatur auch schon unter.

»Danke«, sagte die Stimme hinter mir. Ich warf einen Blick über die Schulter und sah hinter dem Stacheldraht ein Mädchen etwa in meinem Alter, das ziemlich wild aussah und ihr Haar ebenfalls mit gelbem Lehm nach hinten gekämmt hatte. »Die meisten Jäger würden keinen anderen vorbeilassen«, erklärte sie. »Manchmal tun sie auch nur so, und dann stoßen sie die andere Person ins Wasser.«

»Ty ist kein Jäger«, sagte Gemma, die sich jetzt neben das Mädchen am Stacheldrahtzaun stellte. »Er wurde dazu gezwungen, da reinzuklettern.«

»Das haben wir gesehen. Aber kein Surf würde es wagen, sich gegen einen von Bürgermeister Fifes Schlägertypen zu stellen.« Das Mädchen hörte auf zu reden und beobachtete stattdessen, wie Plover mit erhobenem Dreizack das Wasser absuchte. Aber das Krokodil machte keine Anstalten, wieder aufzutauchen. Das Mädchen atmete erleichtert auf und sagte: »Ich bin Eider. Und das ist meine Schwester Plover. Wir sind von der Shearwater.«

So dicht wie möglich an den Stacheldraht gepresst, wartete ich darauf, dass Gemma Eider nach der Drift fragte. Ich hätte es selbst getan, aber ich schätzte, es würde nicht viel bringen, wenn ich es über meine Schulter rief, und außerdem wollte ich meinen Blick nicht vom Wasser abwenden.

»Findet das hier jede Nacht statt?«, fragte Gemma.

Auch eine interessante Frage.

»Einmal im Monat«, erwiderte Eider. »An jedem Fünfzehnten bei Sonnenuntergang, wenn unsere Vorräte aufgebraucht sind und die nächste Lieferung noch zwei Wochen hin ist.«

Gemma rang nach Luft. »Niemand zwingt sie dazu?«

»Natürlich nicht«, sagte Eider überrascht. »Das Fleisch hilft uns über die Runden und das Leder ist ein Vermögen wert. Doch wir dürfen sie nur innerhalb des Stadions in dieser einen Nacht jagen. Und es ist auch nur ein Jäger pro Township erlaubt. Sobald ein Krokodil getötet wurde, ist der Wettkampf vorbei. Die Jäger können dann nicht mehr tun, als sich gegenseitig zu verwunden.«

»Das ist verrückt«, hörte ich Gemma sagen.

Da wurde in der Mitte des Stadions das Wasser aufgewühlt. Gleich darauf zog sich eine Frau auf eine der aufgeschütteten Inseln. Sie kletterte ganz nach oben und ein Krokodil hetzte ihr hinterher. Glücklicherweise hielt es auf halbem Wege inne. Als die Frau ihren Dreizack hob, sah ich, dass ihr Arm übel zugerichtet war. In der Sekunde, in der sie ihre Waffe auf das Tier schleuderte, peitschte es herum und stürzte sich zurück ins Wasser. Der Dreizack schrammte über den Rücken des Krokodils, doch er hatte die Haut nicht durchbohrt. Das Biest schwamm einfach davon. Ich fühlte Mitleid mit der Frau, deren Dreizack jetzt auf dem Boden des Stadions lag. Doch plötzlich tauchte eine aufgeblähte Robbenblase auf. Als die Frau ihren daran hängenden Dreizack mühelos aus dem Wasser fischte, begriff ich, warum die Surfs die Blasen an ihren Waffen befestigt hatten. Sie konnten es sich nicht leisten, sie zu verlieren.

Jetzt spielte sich auf der anderen Seite des Stadions eine Kampfszene ab. Ein Mann wirbelte mit erhobenem Messer aus dem Wasser, ging aber gleich wieder unter, als sich das riesige Krokodil, mit dem er kämpfte, über ihn rollte. Das aufgewühlte Wasser verfärbte sich rot – das war eindeutig Blut. Doch ich konnte nicht sagen, ob es das Blut des Mannes oder das des Krokodils war. Die Zuschauer sprangen erneut auf, schrien und jubelten. Mir wurde bei dem Anblick schlecht. Ich wusste, dass es mehr als wahrscheinlich war, dass der Mann nicht mehr auftauchen würde.

Die Surfs, die in unmittelbarer Nähe gestanden hatten, sprangen jetzt ins Wasser, als befürchteten sie, dass dies die letzte Gelegenheit sein könnte, ein Krokodil zu töten. Die Frau, von der ich gedacht hatte, dass sie auf der Schuttinsel festsaß, griff nach einem Karabinerhaken, der ihr über die Seilrutsche geschickt worden war. Sie packte zu und stieß sich von den Steinen ab. Ihr Arm war so blutig und zerfetzt, dass ich mir sicher war, sie würde den Halt verlieren, doch sie zog ihre Beine an und hielt sich fest, während sie über das Krokodilbecken flog. Sie hätte sich ohne Weiteres über den Stacheldrahtzaun und in die Tribüne gleiten lassen können, doch sie zog an dem Karabiner und wurde langsamer. Als sie über den Sitzreihen innerhalb des Zauns angekommen war, ließ sie sich fallen und nahm erneut die Jagd auf.

Auf der anderen Seite des Stadions war das Wasser immer noch aufgewühlt. Von Minute zu Minute erschien es mir unwahrscheinlicher, dass der Surf den Kampf gewinnen würde. Doch ich lag falsch. Mit einem lauten Brüllen tauchte er auf und hielt sein Messer in die Höhe. Neben ihm trieb das Krokodil mit dem Bauch nach oben und eine lange Schnittwunde klaffte an seiner hellen Unterseite.

Als der Gong erneut ertönte, kletterten die Surfs aus dem Wasser. Viele von ihnen hatten blutende Wunden davongetragen. Karabiner sausten an parallel verlaufenden Seilrutschen entlang. Jede führte über mehrere Trümmerhaufen hinweg. Die Surfs, die auf den Schuttinseln festsaßen, griffen nach den Haken und segelten in Sicherheit, während die Krokodile unter ihnen ihre Bahnen zogen.

Plötzlich klatschte etwas Helles in meiner Nähe ins Wasser. Ich zuckte zusammen, weil ich dachte, dass ein Krokodil auf mich zuschwamm. Dann segelten weitere leuchtende Gegenstände von der Tribüne. Wie Sternschnuppen fielen sie auf das Wasser und gingen unter.

»Womit werfen die da?«, fragte Gemma Eider.

Sie machte ein finsteres Gesicht. »Mit Geld. Die Touristen stecken es in Beutel, die in der Dunkelheit leuchten, damit man sie unter Wasser leichter finden kann. Angeblich werfen sie es als eine Art Trostpreis. Aber in Wirklichkeit wollen sie nur sehen, wie – nein, Plover, nicht!«

Ich drehte mich um und sah, wie Plover ins Wasser sprang.

»Nein!« Eider krallte sich an den Stacheldrahtzaun und schnitt sich die Hände auf. »Das ist es nicht wert!«, schrie sie.

Jetzt sah ich, wie sich auf dem Wasser eine gekräuselte Linie in ihre Richtung bewegte. Ein Krokodil hatte Plovers Eintauchen bemerkt und pirschte sich nun an sie heran wie ein Hai, der einer Köderspur folgte.

Ohne weiter darüber nachzudenken, tauchte ich mit einem langen Zug in die Lagune ein. Sowie ich unter Wasser war, entfaltete ich die Flossen an den Spitzen meiner Schuhe und stieß mit großer Kraft auf Plover zu. Ich benutzte mein Biosonar und spürte sie auf, als sie gerade den Geldbeutel aufheben wollte. Was sie in dem Brackwasser nicht sah – nicht sehen konnte –, war das riesige Krokodil, das direkt auf sie zuschwamm.

Ich wusste nicht, welcher Sinn bei einem Krokodil am stärksten ausgebildet war. Sehen, Hören, Riechen? Also bewegte ich mich wie ein verwundetes Tier durch das Wasser und ahmte wieder einmal den Notschrei eines Delfins nach. Und es funktionierte. Das Krokodil ließ von Plover ab und kam auf mich zu. Vor meinem geistigen Auge sah ich seine lange, spitze Schnauze. Sein mächtiger Leib schnitt durch das Wasser, angetrieben von einem peitschenden Schwanz, der so lang und breit war wie ich.

Sollte ich es wagen, mein Sonar einzusetzen, um das Biest zu betäuben, obwohl ich große Zweifel daran hatte, dass das überhaupt funktionieren würde? Jedenfalls nicht so gut wie bei den Neunaugen. Das Vieh war so riesig, dass es wahrscheinlich nicht einmal mit der Wimper zucken würde.

Ich schwamm, so schnell ich konnte, zum Rand der Arena und sandte dabei Klicks über meine Schulter. Das Krokodil holte auf. Ich würde es niemals rechtzeitig aus dem Wasser schaffen – und es würde auch nicht viel helfen, an Land zu sein. Ich inhalierte Liquigen aus dem Schlauch an meinem Halsring und tauchte ab. Jetzt brauchte ich mir zumindest um das Atmen keine Sorgen mehr zu machen, doch als ich zwischen zwei Sitzreihen herschwamm, erkannte ich, dass ich mitten in der überfluteten Tribüne gelandet war. Hier war es schwieriger, zu manövrieren.

Gerade als ich weitere Klicks ausstieß, um zu sehen, wie nah das Krokodil war, bemerkte ich, wie ein weiterer Geldbeutel auf dem Wasser auftraf. Das Krokodil schnappte danach wie ein Fisch nach einem Haken. Doch bevor ich diese Ablenkung ausnutzen konnte, war der Moment auch schon vorbei. Das Krokodil war wieder auf Kurs und schwamm auf mich zu. Plötzlich hatte ich eine Idee.

Ich löste meinen Tauchhelm vom Halsring und tastete nach dem Schalter für das Licht. Ich hielt den Helm mit zitternden Händen vor mich und wartete darauf, dass das Krokodil näher kam. Als Spitzenprädator hatte es keine natürlichen Feinde und fürchtete sich vor gar nichts. Doch jedes Lebewesen mit einem Nervensystem ließ sich erschrecken.

Als das Vieh mit aufgerissenem Kiefer vorschnellte, schaltete ich das Helmlicht ein, sodass es geblendet wurde, und stieß gleichzeitig tieffrequente Töne aus.

Und es funktionierte!

Getroffen von der plötzlichen Licht- und Geräuschexplosion, erstarrte das Krokodil mit halb herunterhängendem Schwanz und aufgesperrtem Maul. Das verschaffte mir zwar höchstens ein paar Sekunden, aber mir blieb genug Zeit, um meine Faust in den Helm zu stecken und ihn in das offene Maul des Biests zu rammen. Ich zählte darauf, dass das Plexiglas meinen Arm vor den zwölf Zentimeter großen Zähnen schützte, und das tat es auch. Ich stieß den Helm so tief in den Hals des Krokodils, wie ich mich vortraute, und ließ die Plexiglaskugel dort zurück. Gerade als das Krokodil wieder zum Leben erwachte, stieß ich mich weg. Ich hoffte, dass das Plexiglas dem Druck der riesigen Kiefer für mehr als eine Tausendstelsekunde standhalten würde, und schwamm in Richtung Wasseroberfläche.

Sowie ich aufgetaucht war, hallte Gemmas Schrei in meinen Ohren wider. Ich paddelte zum Rand, wo mich viele Hände aus dem Wasser zogen.

»Du bist völlig verrückt, weißt du das?«, schimpfte eine Frauenstimme.

Überraschenderweise gehörte sie nicht Gemma.

Ich sah auf und entdeckte Plover. »Aber ich danke dir«, fügte sie hinzu.

Die anderen Surfs, die geholfen hatten, mich herauszuziehen, traten jetzt zurück und bildeten ein Spalier zur Leiter. Die Stadionlichter waren wieder heruntergedreht, während sich die Tribüne auf der gegenüberliegenden Seite zu leeren begann. Ich lief über die nasse Sitzreihe zur Plattform, als es im Becken zu meiner Linken plötzlich aufspritzte und ich vor Schreck stehen blieb.

Das Krokodil brach aus dem Wasser hervor und schlug mit solcher Wucht mit dem Bauch auf, dass es durch das ganze Stadion hallte. Es krümmte und warf sich vor und zurück und schlug immer heftiger auf die Wasseroberfläche ein. Kämpfte es mit dem Tod oder versuchte es, den Helm loszuwerden? Ich wusste es nicht. Aber es war ein grausamer Anblick. Ich hatte den Helm aus reinem Selbsterhaltungstrieb in den Rachen des Tiers gerammt, trotzdem war es kaum zu ertragen, seine Qualen mit anzusehen.

Plover trat neben mich. »Geh weiter«, sagte sie, legte mir eine Hand auf den Rücken und schob mich vorwärts.

»Leih mir dein Messer«, bat ich und drehte mich zu ihr um. Das Mindeste, was ich tun konnte, war, dem Leiden der Kreatur ein Ende zu setzen.

»Das darfst du nicht!« Sie sagte das mit einer Heftigkeit, die mich erschreckte. »Der Wettkampf ist vorbei. Wenn du es jetzt tötest, wirst du wegen Diebstahls verhaftet.«

Ich zeigte mit der Hand auf das Becken. »Es erstickt, weil ich ihm das angetan habe. Ich muss …«

Meine Worte wurden von lautem Geschrei abgeschnitten. Und ich sah sofort warum. Das Krokodil hatte aufgehört, wild um sich zu schlagen und kam nun durch das Wasser direkt auf uns zu – mit geschlossenem Kiefer. Offensichtlich hatte es meinen Helm ausgespuckt oder heruntergeschluckt.

So verrückt es auch schien, ich hätte schwören können, dass das Krokodil es nur auf mich abgesehen hatte, als wäre es auf Rache aus.

Ich verschwendete keine Zeit, kletterte die Leiter hoch und ließ dabei Platz für Plover, die neben mir hochkletterte. Gerade als wir uns auf die Plattform gezogen hatten und vom Rand wegrollten, riss das Krokodil unten an der Leiter.

Ich hörte, wie das Aluminium zermalmt wurde, und mit diesem Geräusch in den Ohren sackte ich auf der anderen Seite des Stacheldrahtzaunes zusammen, wo Gemma auf mich wartete. Sie warf die Arme um mich und drückte so fest zu, dass ich kaum atmen konnte – nicht dass ich mich beklagen wollte –, doch dann stieß sie mich gleich wieder weg. »Musst du dich immer mit irgendwelchen Ungeheuern im Wasser herumtreiben?«

Das Stadion schien noch dunkler geworden zu sein, als Eider vortrat und mir den leuchtenden Geldbeutel hinhielt. »Du hast ihn verdient«, sagte sie feierlich. Plover und die anderen Surfs der Shearwater stellten sich zu ihr und nickten zustimmend.

»Danke, aber ich würde mich besser fühlen, wenn ihr es behaltet.«

Als Eider mir den Beutel weiter hinhielt, fügte ich hinzu: »Ich wusste nicht, wie schlecht ihr es habt. Kein Siedler hat das gewusst.«

Ich wünschte, ich könnte ihnen versprechen, die Verordnung aufzuheben, die sie daran hinderte, im Benthic-Territorium zu fischen, aber darauf hatte ich keinen Einfluss.

»Ist er nicht großzügig?«, spottete jemand eine Sitzreihe über uns. Es war natürlich Ratter, der mit seiner Harpunenkanone direkt auf meinen Kopf zielte.

»Er hat keine Regeln gebrochen«, schnappte Plover.

»Halt dich da raus«, warnte Ratter sie. »Es sei denn, du willst, dass die Rationen der Shearwater noch einmal gekürzt werden.« Er winkte mich zur Treppe. Als ich mich nicht von der Stelle rührte, entsicherte er die Harpune.

Plover zückte ihr Messer. »Wir werden nicht zulassen, dass du ihn tötest.«

Noch bevor sie den Satz beendet hatte, zogen die anderen Surfs ebenfalls ihre Waffen. Sie wollten es tatsächlich mit Ratter aufnehmen. Die Surfs standen zu meiner Rechten, Ratter an meiner linken Seite. Gemma rundete das Ganze noch ab, indem sie hinter mich schlüpfte. Mit einem kurzen Zupfen an meinem Taucheranzug brachte sie mich dazu, mich zurückzuziehen.

Wir waren erst ein paar Meter zurückgewichen, da schrie Ratter: »Wer glaubst du eigentlich, wer du bist …« Seine Worte brachen jäh ab, als etwas über uns seine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Die Surfs senkten gleichzeitig ihre Waffen – sogar Plover. Alarmiert starrte sie zu den Sternen hinauf.

Bevor ich auch nach oben sehen konnte, dröhnte eine Stimme vom Himmel herab: »Was zum Teufel geht da unten vor?«