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Ich stand im Schatten unterhalb der Treppe und versuchte durchzuatmen. Mit dem Rücken zur Wand überblickte ich den betriebsamen Steg. Vom Deck darüber tropfte es unablässig auf jeden, der dort entlanglief, wobei die Topsider sich unter ihren Sonnenschirmen verkrochen.

Nach einer Weile erschien mir die Menge von meinem Standpunkt aus gar nicht mehr wie eine undurchdringliche, homogene Menschenmasse. Eigentlich war es sogar interessant zu sehen, wie viele verschiedene Arten von Menschen vorbeikamen – von schrillen Schachtelstadtbewohnern bis hin zu Schlammgräbern, die auf dem Meeresboden arbeiteten. Und ich hatte geglaubt, dass die Handelsstation eine große Vielfalt von Leuten anlockte. Da hatte ich mich wohl getäuscht.

Sobald ich mich etwas beruhigt hatte, erschien mir das Stimmengewirr so vieler Menschen nicht mehr wie ein Tosen auf meinem Trommelfell. Wenn ich mich konzentrierte, konnte ich sogar einzelne Stimmen der vorbeilaufenden Leute heraushören. Ich schnappte ein paar Gesprächsfetzen auf, in denen es meistens um Wetten auf den bevorstehenden Kampf ging. Ich konnte sogar Matrosen und Tiderunner an ihrem Dialekt auseinanderhalten. Noch einfacher war es jedoch, die Festlandbewohner zu erkennen. Durch ihre geschwollenen Sätze, die mit überflüssigen Wörtern gespickt waren, konnte ich sie identifizieren, ohne hinzusehen. Ich musste zugeben, dass das Beobachten der Menschen interessanter war, als ich jemals gedacht hätte. Insbesondere weil die Festlandbewohner mit ihren hauchdünnen Kleidern und den mit Zinksalbe eingeschmierten Gesichtern – einige sahen aus wie Tiere und Vögel, andere trugen fantasievolle Muster – mir das Gefühl gaben, mich in einem Traum zu befinden.

Und dann gab es da noch die Surfs. Ihre sonnenverbrannte Haut war leicht zu erkennen, obwohl keiner von ihnen eine so ledrige Haut hatte wie die Surfs auf der Drift. Sie trugen ganz unterschiedliche Kleidung, die anscheinend von dem Gewerbe abhing, das sie auf ihrem Township betrieben. Ich sah Ponchos aus Lachshaut, Hüte, die aus Seegras geflochten waren oder Kleider aus Leinensäcken und alten Fischernetzen. Doch ich wusste nicht genug über die Kultur der Surfs, um die Weichtierfarmer von den Biokraftstoff-Erntearbeitern zu unterscheiden. Viele starrten mich an, als sie die Treppe zum Sonnendeck hinaufstiegen. Wahrscheinlich, weil meine Haut aus dem Schatten hervorstach. Doch in Anbetracht der Brandblasen, der auffälligen Tätowierungen und fehlenden Gliedmaßen sollte ein Schein eigentlich keine allzu große Sache sein.

Jetzt, da ich mich wieder unter Kontrolle hatte, wurde es Zeit, nach Bürgermeister Fife zu suchen. Aber als ich aus meinem Schlupfwinkel hervortrat, sah ich gerade ein mir bekanntes gestreiftes Hawaiihemd im nächsten Laden verschwinden. Auf dem Schild davor war zu lesen: RASIEREN, EINREIBEN, VERZIEREN.

Als ich durch die Schwingtür in das Geschäft trat, war ich erleichtert, dass es nicht zu voll war. Wahrscheinlich, weil die Sonne bald unterging. Ein paar Kunden saßen zurückgelehnt auf Stühlen und ließen sich von den Angestellten in weißen Kitteln mit Pinseln und Kittspachteln die nackte Haut bemalen. Dutzende Fotos an der Wand zeigten eine große Auswahl an bemalten Körperteilen – ein Design aufwendiger als das andere.

Ich entdeckte Tupper ganz hinten im Laden. Er saß neben einer Frau, deren nackte Arme sehr sorgfältig mit gelben Blumen verziert worden waren. Als ich auf ihn zusteuerte, kam ich an einem weiteren Kunden vorbei, der mit dem Gesicht nach unten auf einer gepolsterten Pritsche lag. Auf seinem Rücken glänzte ein frisch gemaltes Meerespanorama, das schöner war als alles, was ich jemals gesehen hatte.

»Wird das lange halten?«, fragte ich den Angestellten, der gerade mit seiner Farbpalette beschäftigt war.

»Ich werde den Rücken noch mit einer schweißechten Beschichtung besprühen, aber es bleibt eine vergängliche Schönheit, kurzlebig wie eine Rose.«

Und zehnmal so teuer, dachte ich.

»Bitte nur mit Weiß einreiben«, hörte ich Tupper in diesem Moment sagen und war enttäuscht. Wenn man aus so vielen Farben und Motiven wählen konnte, war einfaches Weiß ziemlich langweilig.

Auch der Bedienstete schien enttäuscht zu sein. »Nur Weiß?«

»Ich bin ein Traditionalist.« Tupper lehnte sich im Stuhl zurück. Als er mich entdeckte, winkte er mich heran. »Ich nehme an, du hast nach mir gesucht?«

Ich schielte zu dem Angestellten hinüber und senkte die Stimme. »Sie haben da vorhin etwas erwähnt … Wurden auch schon andere Leute von Surfs entführt?«

»Oh ja, es scheinen jedes Jahr mehr zu werden. Es ist sogar dem Abgeordneten aus Pennsylvania passiert.« Kichernd schloss Tupper die Augen. »Ich glaube, es war Rawscale. Die Surfs haben ihn direkt von seiner Jacht weggeschnappt und eine unglaubliche Summe als Lösegeld verlangt. Sie wollten nicht einmal mit seiner Familie verhandeln.«

»Aber sie haben ihn irgendwann zurückbekommen?«

»Na ja, nein, genau genommen ging dieser Fall nicht gut aus«, sagte Tupper, während der Angestellte seinen fast kahlen Schädel mit weißer Zinksalbe einschmierte. »Aber ich bin mir sicher, dass deinen Eltern nicht so etwas Grauenhaftes widerfahren wird. Sie wissen bestimmt, dass man sich mit den Wilden besser nicht anlegen sollte.«

»Die Surfs von der Drift haben aber kein Lösegeld gefordert. Jedenfalls glaube ich das.«

»Nicht?« Er runzelte die Stirn, ohne dabei die Augen zu öffnen. »Nun, ich bin sicher, das werden sie noch tun.«

Ich warf einen Blick auf den Angestellten, der die weiße Paste nun auf Tuppers Augenlidern und der Nase verteilte. Unser Gespräch schien ihm völlig egal zu sein. »Und was, wenn es gar nicht um Lösegeld geht?«, fragte ich Tupper.

»Ich bitte dich, bei den Surfs geht es immer um Geld. Ganz besonders jetzt.«

»Wieso gerade jetzt?«

Obwohl erst die Hälfte seines Gesichtes mit Zinkpaste bedeckt war, scheuchte Tupper den Bediensteten beiseite und setzte sich auf. »Hör zu, Ty«, sagte er und betonte meinen Vornamen dabei, als wollte er zeigen, dass er sich an ihn erinnerte. »Es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen solltest. Ich habe gehört, dass Kommandantin Selene Revas mit dem Fall betraut wurde, und sie ist der einzige Offizier der Meereswache, mit dem die Surfs verhandeln.«

»Wieso das?«

»Sie mögen ihr Parfüm.« Er hätte stattdessen auch nur die Augen verdrehen können. »Wer weiß das schon? Wen kümmert’s, solange sie mit jemandem von unserer Seite verhandeln?«

Vor dem heutigen Tag hätte ich mich gegen den Ausdruck »unsere Seite« gesträubt. Wir waren alle Bürger des Staatenbundes. Doch jetzt waren die Surfs von der Drift in meinen Augen so tief gesunken, dass ich sie nicht einmal mehr als Menschen bezeichnen konnte.

Etwas entfernt ertönte ein Gong.

»Werd endlich fertig!«, schnauzte Tupper den Bediensteten an, während er sich auf dem Stuhl zurücklehnte. »Ich habe noch keine Wette abgeschlossen.«

»Das war der Glockenschlag zur vollen Stunde, Sir. Sie haben noch reichlich Zeit. Die Annahmestellen schließen erst, wenn der Kampf beginnt.«

»Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte ich zu Tupper.

»Gern geschehen«, rief er. »Ich bin immer froh, wenn ich meinen Wählern behilflich sein kann.«

Als ich aus dem Geschäft trat, blendete mich das Sonnenlicht, das durch die Öffnung in der Mitte der Stadt fiel. Ich trat an die Brüstung des Stegs und sah nach unten. Im Bohrschacht war das Meerwasser über das erste Deck gestiegen und ein Schwerlastfloß schaukelte in der Mitte des aufgewühlten Beckens.

Drei Etagen über mir drangen die UV-Strahlen ungehindert durch die Stahlträgerkonstruktion des Turms.

»Das arme Kind sieht ja ganz verloren aus«, hörte ich eine vertraute Stimme hinter mir sagen.

Ich drehte mich um und entdeckte einen Jungen, der nicht viel älter war als ich und mit dem Rücken zum vier Stockwerke tiefen Abgrund auf dem Geländer saß. Sein dunkles Haar sah aus, als hätte es noch nie einen Kamm zu Gesicht bekommen, und zwei Goldzähne glänzten in seinem perlweißen Gebiss, als er mich angrinste. Das war Eel, einer der Outlaws aus Shades Gang.

»Egal«, meinte sein Begleiter kalt. »Soll er doch hier verrecken, wenn er nicht aufs Sonnendeck geht, wo er eigentlich hingehört.« Das war ohne Zweifel Pretty, der nie besonders nett zu mir gewesen war. Mit seinen scharf geschnittenen Wangenknochen und den eisblauen Augen wirkte er vollkommen gefühllos. Er trug das Haar immer noch lang und es hing offen über seinen Schultern wie ein Vorhang, hinter dem er sich jederzeit verstecken konnte.

»Du weißt, dass wir ihn nicht zurücklassen können«, sagte Eel zu Pretty, als könnte ich ihn nicht hören. »Schließlich haben wir der Gemme des Ozeans versprochen nachzusehen, ob er noch hier unten ist.«

Ich hasste die beiläufige Art, in der Eel »Gemme des Ozeans« sagte. Als würde er Gemma andauernd so nennen. Was er wahrscheinlich sogar tat, denn Shade hatte seine Briefe an sie immer so adressiert, als sie noch klein gewesen war. Ich schluckte meinen Ärger herunter. Jetzt war nicht die Zeit, mich von Outlaws provozieren zu lassen.

»Hey, Dunkles Leben«, Pretty schwang ein Bein über das Geländer zum Bohrschacht hin, »komm mit oder bleib für immer verschollen, wir kommen deinetwegen nicht noch einmal zurück.« Mit diesen Worten griff er nach den Stufen einer Leiter, die den gesamten Bohrschacht hinaufführte, kletterte daran hinauf und verschwand außer Sicht.

Eel grinste mich an. »Ist er nicht charmant?« Nun schwang auch er seine Beine über die Brüstung. »Na, komm schon.«

»Nein«, sagte ich. Überrascht drehte er sich zu mir um. »Ich bin nicht hier, um Shade einen Besuch abzustatten oder mir seinen Boxkampf anzusehen. Ich muss Bürgermeister Fife finden.«

»Das wissen wir. Vermutlich lässt Shade ihn deshalb gerade holen. Aber wenn du nicht mitkommen willst …«

Blitzschnell war ich an seiner Seite. »Hat Gemma euch erzählt, was passiert ist?«

»Was denkst du denn?«

Erst jetzt sah ich, dass etliche Leitern an den Innenwänden des Bohrschachtes angebracht waren, die alle bis zur Spitze des Turms führten. »Wohin gehen wir?«

»Zum Fleischtank.« Eel schwang sich so mühelos an der Leiter nach oben wie ein Floater, der die Takelage zwischen den Masten spannte. Ich fragte mich, wo er gelebt hatte, bevor er nach Seablite geschickt worden war.

Ich wich den Arbeitern aus, die eine dreistufige Tribüne für den Kampf aufbauten, schwang meine Beine über das Geländer und stieg vorsichtig die Leiter hinauf. Ich teilte zwar Gemmas Höhenangst nicht, aber ich hatte auch nicht die Absicht, ein paar Outlaws mit einem Sturz in das Becken unter mir zu erheitern.

Als wir das Oberdeck erreichten, sprang Eel von der Leiter. Das Sonnenlicht schien so grell, dass es einen Moment dauerte, bis ich sehen konnte, wohin er gegangen war. Zumal die Tribüne auf diesem Deck schon aufgebaut war und sich zu füllen begann. Schließlich entdeckte ich ihn neben einem großen Benzintank in der Nähe eines Kransockels. Er winkte und verschwand dann durch eine Tür ins Innere das Tanks. Als ich näher kam, sah ich, dass der Benzintank mit einer Luke nachgerüstet worden war, die wahrscheinlich von einem alten U-Boot stammte. Mit einer Drehung am Handrad der Luke öffnete ich den Tank und spähte in das schattige Innere. Kalte Luft schlug mir entgegen und erleichtert trat ich ein. So nah war ich dem angenehmen Gefühl, das ich in der Tiefe des Meeres verspürte, den ganzen Nachmittag nicht gekommen.

Ich wartete, bis sich meine Augen an das fahle Licht gewöhnt hatten, und wich nur knapp einem Kadaver aus, der an einem Haken von der Decke hing. Ich ging weiter und bahnte mir einen Weg vorbei an weiteren Kadaverstücken. Die weißen Streifen an den Flossen verrieten mir, dass es sich um die Überreste eines Minkwals handelte. Sosehr mich der Anblick auch krank machte, weder er noch der fettige Geruch des Walfischspecks waren schuld, dass mir ganz schwindelig wurde. Der Benzintank mochte mehr als ein Jahrhundert leer gestanden haben, doch ich hätte schwören können, dass noch immer Öldämpfe in der Luft lagen.

Ich folgte einem Geräusch, das sich wie Fleisch klopfen anhörte, und ging um einen weiteren Walbrocken herum – als ein weißer Hai mit weit geöffnetem Rachen auf mich zusegelte. Mein Herz setzte aus und ich wich stolpernd zurück. Doch der wuchtige blaugraue Leib schwang in die Richtung zurück, aus der er gekommen war, und ich erkannte, dass es nur ein weiterer Kadaver an einem Haken war. Ein toter Hai, der als Ersatz für einen Sandsack herhalten musste.

Ein paar wuchtige Schläge ließen den großen Weißen erneut durch die Luft schnellen. Sein klaffendes Maul voller spitzer Zähne kam diesmal sogar noch näher und ich war gezwungen, zur Seite zu springen, um nicht umgeworfen zu werden.

»Sieh mal einer an, er hat den Weg bis hierher gefunden«, hörte ich Eel sagen, als ich in einen Bereich stolperte, wo ich nicht von Kadavern, sondern von grellem Licht umgeben war.

Blinzelnd wich ich zurück in den Schatten. Sonnenlicht strömte durch eine ebenfalls nachträglich eingebaute Fensterluke in der Decke und erzeugte einen engen Lichtkreis in der Mitte des Benzintanks. Ich entdeckte Gemma etwas abseits neben einem Tisch, der voll beladen war mit Essen. An diesem Tisch war Eel damit beschäftigt, halb verkohlte Tentakel auf einen Teller zu häufen. Gemma winkte mich herüber, aber ein weiterer Hagel von Schlägen lenkte meine Aufmerksamkeit auf Shade.

Mit seinem rasierten Schädel und den Tätowierungen, die seine Haut überzogen, wirkte er so bedrohlich wie eh und je, während er auf den Hai eindrosch. Als er sich schließlich aufrichtete, fanden mich seine Augen im Halbdunkel abseits des Lichtkreises. »Ich wusste, wir würden uns wiedersehen.«

Ich hatte vergessen, wie tief seine Stimme war, und ihr Klang jagte mir einen Schauer über den Rücken.

Um ihn herum schimmerten Staubpartikel in der Luft. Vielleicht waren es auch winzige Zähnchen, die sich von der Haifischhaut gelöst hatten. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Ich hätte nur nicht gedacht, dass du blöd genug bist, nach Rip Tide zu kommen.«