20

»Was ist los?«, fragte ich, sobald meine Lunge frei von Liquigen war.

»Nichts, was dich etwas angeht«, erwiderte Trilo und lief zur Durchgangsluke.

Ich versperrte ihm den Weg. »Früher oder später werden wir es sowieso herausfinden, also sag schon.«

Er dachte darüber nach, dann zuckte er die Schultern. »Während ihr zwei draußen spielen wart, haben wir zufällig was vor die Linse bekommen.«

»Was?«, fragte Gemma.

»Einen Schleppnetzfischer. Also sind ein paar Jungs los, um das Schiff genauer unter die Lupe zu nehmen. Jetzt holen wir sie wieder ab.«

Ich ließ ihn noch nicht durch. »Unter die Lupe nehmen? Was soll das heißen?«, fragte ich, obwohl ich mir die Antwort denken konnte.

Gemma atmete scharf ein. »Rauben die etwa ein Schiff aus?«

»Wir müssen irgendwas mitbringen, wenn wir zu den Ruinen wollen.« Er drängte sich an mir vorbei, doch dann blieb er vor der Luke noch einmal stehen. »Mit leeren Händen zu erscheinen, wäre …«, er suchte nach einem passenden Wort, »… unhöflich.« Damit verließ er den Ausrüstungsraum.

»Ich vermute mal, das sollte ein Ja sein«, sagte ich.

Während ich meine Tauchschuhe auszog, dachte ich angestrengt darüber nach, wieso ich Shade aus der Gefängniszelle geholt hatte. Hatte ich auch nur für eine Sekunde daran geglaubt, dass er sein Leben als Gesetzloser aufgeben würde? Nein. In Wahrheit war es mir nur darum gegangen, Shade dazu zu überreden, mich zu den Hardluck Ruinen zu bringen. Mögliche Konsequenzen meines Handelns für die Zukunft – wie Kommandantin Revas sie im Falle des nächsten Jungen auf dem Floß bedacht hatte – hatte ich völlig außer Acht gelassen. Und nun wurde ein Schleppnetzfischer Opfer meines unüberlegten Handelns.

Als ich aufblickte, war ich überrascht, Gemma lächeln zu sehen. »Bist du nicht bestürzt darüber, dass die Gang deines Bruders dabei ist, ein Schiff auszurauben?«

Sie zuckte die Schultern. »Er wird sich nie ändern. Aber ich habe mich verändert«, sagte sie strahlend. »Ich habe nicht einen einzigen Geist gesehen oder auch nur gespürt.«

Ich fragte mich einmal mehr, was sie tatsächlich gesehen hatte. Wie konnte ich so sicher sein, dass es wirklich keine Geister im Meer gab? Genügend Menschen waren jedenfalls darin gestorben.

»Und du kannst wieder bei uns wohnen«, fügte ich hinzu und musste nun ebenfalls lächeln.

Sie nickte, während sie ihren Schuh auszog. »Jetzt, wo ich wieder das tun kann, was du gern tust.«

Etwas an der Formulierung ließ mich aufhorchen. »Aber dass du das nicht konntest, war nicht der Grund, weshalb du vorher nicht mehr bei uns wohnen wolltest, oder?«

»Nicht der einzige Grund.«

»Das sollte überhaupt kein Grund sein«, sagte ich entrüstet. »Ja, ich verbringe meine Zeit gern im Meer, aber es ist mir egal, ob du das auch tust oder nicht.«

Sie zögerte. »Ich glaube, dass es dir nicht egal ist, auch wenn du es nicht wahrhaben willst.«

»Da liegst du falsch«, sagte ich bestimmt. »Ich schreibe die Leute nicht ab, nur weil sie andere Fähigkeiten oder Vorlieben haben als ich. Nur ein kompletter Idiot würde so etwas tun. Denk doch mal nach. Du redest gern. Wenn ein Parasit meine Zunge fressen würde, würdest du mich dann nicht mehr beachten?«

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. »Können wir ein anderes Beispiel nehmen?«

Ich blieb ernst. »Warum denkst du, dass es für mich eine Rolle spielt? Habe ich irgendetwas in der Art gesagt?«

Ihre Wangen liefen verblüffend schnell rot an. Ich hatte offenbar einen Nerv getroffen.

»Nein«, sagte sie schnell und wandte sich ab. »Ich war einfach nur blöd.«

»Was willst du damit sagen?«

»Nichts.« Sie stieg über am Boden herumliegende Schuhe und lief zur Durchgangsluke. »War dumm von mir.«

Als ich noch vor ihr die Luke erreichte, blieb sie stehen und seufzte. »Okay«, gab sie schließlich nach. »Ich habe bemerkt, dass du mich nach meinem ersten Panikanfall nicht mehr so mochtest wie vorher.«

»Du hast vollkommen Recht«, erwiderte ich und sie erstarrte. »Das war dumm von dir.«

»So kam es mir jedenfalls vor«, ging sie in die Defensive.

»Aber wieso?« Und dann dämmerte es mir. »Oh. Weil ich dich nicht noch einmal geküsst habe?« Sie wurde noch röter und ich wusste, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. »Und ich dachte, dass ich deine Panikattacke vielleicht verursacht haben könnte.«

»Ich habe dir erklärt, dass es am Meer lag.«

»Hätte doch sein können, dass du das einfach nur so sagst. Ich bin davon ausgegangen, dass du mir ein Zeichen geben würdest, wenn du wolltest, dass ich es noch einmal versuche.«

»Ein Zeichen?«, fragte sie ungläubig.

Jetzt kam ich mir dumm vor, obwohl ich auch erleichtert war, denn jetzt wusste ich mit Gewissheit, dass ich ihre Panikattacke nicht ausgelöst hatte. »Ich wollte nur rücksichtsvoll sein.«

»Okay, Rücksicht ist eine Sache. Aber man kann auch erstaunlich blind sein. Auf was für eine Art Zeichen hast du denn genau gewartet?«, fragte sie und musste sich offensichtlich ein Lachen verkneifen. »Ein drei Meter hohes Hinweisschild mit blinkenden Lichtern?«

Ich lehnte mich vor und küsste sie, zum Teil, damit sie mit ihrer Stichelei aufhörte, aber hauptsächlich, weil ich endlich – wenn auch auf Umwegen – grünes Licht hatte. Ich hatte den Wunsch schon viel zu lange unterdrückt. Ihre Reaktion kam jedenfalls nicht auf Umwegen. Sobald ich ihre Lippen berührte, umfasste sie mich mit den Händen und erwiderte meinen Kuss. Dann schlug etwas Schweres gegen mein Bein.

Wir ließen voneinander ab, als ein Helm in der Einstiegsluke des U-Boots auftauchte. Zu unseren Füßen lag ein prall gefüllter Sack, der gerade dorthin geworfen worden war.

»Was für ein Fang!« Eel kletterte in den Ausrüstungsraum und zeigte auf den Sack. »Wartet, bis ihr die Größe dieser Austern gesehen habt.«

Wir folgten Eel auf die Brücke. »Ist es ein großes Fischerboot?«, wollte ich wissen. Ich fragte mich schon die ganze Zeit, ob die Outlaws einen armen Floater ausgeraubt hatten, der von seinem täglichen Fang abhängig war.

»So groß, wie die eben sind«, sagte Eel und gab Kale das Zeichen, die Specter auftauchen zu lassen. »Seht euch selbst dieses Monstrum von Schiff an. Damit kann man regelrecht Tagebau betreiben. Hab ich nicht Recht?«, sagte er und schüttelte den dunklen Kopf.

Gemma und ich liefen zur Aussichtskuppel, während die Specter an der Steuerbordseite eines gewaltigen Schiffes durch die Wellen brach. Ein Blick auf die breite Fallrutsche, die am Heck des Schiffes aufgebaut war, verriet mir, dass Eel Recht hatte. Ich wusste, wie diese Fangschiffe arbeiteten. Sie waren mit riesigen Netzen ausgerüstet, die am Meeresboden entlanggezogen wurden und alles einfingen, von Muscheln und Fischen bis hin zu Delfinen – was auch immer sich gerade in diesem Teil des Meeres aufhielt. Dann wurde das Netz mit einer Winde heraufgezogen und über der Fallrutsche ausgeleert, sodass der gesamte Fang direkt auf dem Deck landete, wo er sortiert wurde. Nichts wurde ins Meer zurückgeworfen.

Ein Schleppnetzfischer wie dieser konnte leicht zweihundert Tonnen Fisch in einer Stunde einfahren. Wenn der Kapitän sich nicht vom Radar der Meereswache orten ließ, konnte sein Schiff weit mehr Meereslebewesen aus dem Meer fischen, als offiziell erlaubt war. Und fast alle taten das. Leider gab es nicht genügend Skimmer, die sich um die Durchsetzung der Vorschriften kümmerten.

Plötzlich wurde mir die Ironie meiner Gedanken bewusst. Hatte ich mir gerade gewünscht, dass es ein stärkeres Aufgebot der Meereswache gab?

Als die Specter an den Hardluck Ruinen angekommen war, kehrten Gemma und ich zur Brücke zurück, und das U-Boot tauchte erneut auf.

Vor uns lag ein Wall aus aufgehäuftem Schutt, auf dem ein Zaun aus Stacheldraht angebracht war. Der Wall umgab eine Stadt – oder was davon übrig war. Die Gebäude standen halb überschwemmt im klaren Wasser der Lagune.

»Es ist unmöglich, den Wall mit einem Schiff zu passieren«, sagte Shade. »Wir gehen auf dieser Seite vor Anker.«

»Und was ist mit denen da?«, wollte ich wissen und zeigte auf eine Stelle im Wasser auf der anderen Seite des Stacheldrahts, wo eine Flotte aus kleinen Booten schaukelte. Anstelle echter Segel hingen lange Girlanden aus buntem, dünnem Stoff an den Masten.

»Die benutzen die Surfs nur innerhalb der Lagune«, sagte Pretty mit einem Nicken zu den merkwürdigen Segelbooten und ihren unbrauchbaren Segeln. »Das sind ihre Marktstände.«

»Das soll der Schwarzmarkt sein?«, fragte ich. »Ein zusammengewürfelter Haufen kleiner Boote?«

»Dort verkaufen nur die Surfs ihre Waren. Alles, was sie gefangen oder selbst gemacht haben.«

Vom Pilotensitz aus deutete Kale auf die Überreste eines großen Gebäudes in einiger Entfernung, das einst hauptsächlich aus Glas, jetzt fast nur noch aus dem Grundgerüst bestand. »Das da drüben ist der Hauptmarkt.«

»Worin besteht der Unterschied?«

»Dort kaufen die Surfs ein.«

»Wenn du dort einen Verkaufstisch aufstellen willst, musst du dafür zahlen«, erklärte Pretty.

»Und wie kommen wir da rein?«, fragte ich ihn.

»In dem Zaun da vorn gibt es einen Durchlass. Wir werden nicht weit von dieser Stelle den Anker werfen.«

»Shade«, rief Kale plötzlich alarmiert. Als Shade nach vorne kam, zeigte Kale in die Ferne, wo ein paar Fahrzeuge durch die Wellen schossen und direkt auf die Ruinen zusteuerten. »Das sieht verdächtig nach Skimmern der Meereswache aus.«

Obwohl kaum mehr als Punkte am Horizont zu sehen waren, wusste ich, was er meinte. Das Heck der Fahrzeuge schwenkte aus, als wäre es eigenständig, dabei war es mit dem vorderen Gehäuse verbunden. Das waren eindeutig Skimmer.

»Abtauchen«, befahl Shade.

Kale drückte den Gashebel nach vorn und ließ die Specter fast senkrecht absinken.

»Was machen die überhaupt hier?«, wunderte sich Pretty. »Sie dürfen nicht ohne Genehmigung in die Ruinen. Diese Stadt wurde den Surfs urkundlich übertragen. Es ist ihr Privatgrund, genau wie ihr Gemeinschaftsgarten.«

»Wir verstecken uns dort.« Shade zeigte auf eine Ansammlung aus Plankton.

Kale manövrierte die Specter mitten in die dicke, grüne Wolke. Jetzt war das U-Boot nicht nur außer Sicht, das Plankton war auch so dicht, dass es als eine Masse auf dem Radarbildschirm erscheinen würde, ohne preiszugeben, was darin versteckt war.

»Wir warten ab, bis die Skimmer auf der anderen Seite sind, dann verschwinden wir«, sagte Shade zu Kale.

»Und wie lange?«, fragte ich.

»Heute kommen wir auf keinen Fall wieder«, sagte er bestimmt. »Wir werden es morgen versuchen.«

»Aber Gabion hat von heute Abend gesprochen«, protestierte ich. »Dann gehe ich allein.«

»Das willst du nicht wirklich.«

»Ich habe keine Angst vor Gabion.«

»Er ist nicht der Einzige, der dich in den Ruinen töten könnte«, sagte Shade.

»Dieses Risiko werde ich eingehen müssen.«

Ich wandte mich dem Ausrüstungsraum zu, doch Pretty versperrte mir mit gezogenem Messer den Weg. »Diese Skimmer sind deinetwegen hier. Shade entflieht. Du bist nirgendwo zu finden, aber dein U-Boot ist noch immer an den Klippen festgemacht …«

»Also geht die Meereswache davon aus, dass ich ausgerechnet hierherkomme?«, spottete ich.

»Die gehen nicht nur davon aus. Du hast irgendwem auf Rip Tide erzählt, dass du unbedingt zu den Hardluck Ruinen willst. Vielleicht hast du sogar nach einer Mitfahrgelegenheit gefragt. Die Specter war auf keinen Fall deine erste Wahl.«

Ich erstarrte bei dem Gedanken daran, wie ich Bürgermeister Fife um die Koordinaten gebeten hatte. Hatte er diese Information an Kommandantin Revas weitergegeben? Schon möglich, wenn sie ihn für Shades Verschwinden verantwortlich machte und er seine eigene Haut retten wollte.

»Wir werden bis morgen warten«, sagte Gemma und schob Prettys Messer zur Seite. »Ich will da nicht ohne euch Jungs rein. Und Ty ebenfalls nicht, auch wenn er das im Moment noch nicht so sieht.«

Pretty sah aus, als würde er ihr das nicht ganz abkaufen.

Gemma wandte sich an Shade. »Kannst du uns heute Abend wenigstens zum Gemeinschaftsgarten der Surfs bringen? Dann können wir vielleicht herausfinden, was sie über die Drift wissen, denn Kommandantin Revas wollte Ty nichts darüber sagen.«

Im Gegensatz zu Gemma war ich nicht bereit, mich einfach damit abzufinden. Ich sah, wie Shades Blick zu Pretty wanderte.

»Der Garten liegt zwischen den Ruinen und der Küste«, sagte Pretty. »In westlicher Richtung.«

Shade nickte als Antwort auf Gemmas Frage. »Solange keine Skimmer auftauchen.«

»In Ordnung«, sagte sie. »Wir haben einen Plan. Einverstanden, Ty?«

Wortlos drängte ich mich an ihnen vorbei und verließ die Brücke. Ich hörte Gemma noch leise sagen: »Gebt mir eine Minute. Ich rede mit ihm.«

In der Kombüse blieb ich stehen, um zu lauschen.

»Du rufst mich, wenn er versucht, zu den Ruinen zu tauchen«, befahl Shade.

»Das wird er nicht«, hörte ich sie antworten. »Er wird auf mich hören.«

Voller Wut stapfte ich weiter. Ich würde sehr wohl zu den Ruinen tauchen. Sollte sie doch versuchen, mir das auszureden. Die einzige Frage war nur, ob sie nach Shade rufen würde.

Als sie mich eingeholt hatte, würdigte ich sie keines Blickes. Sie schob ihre Hand unter meinen Arm und ich wollte sie schon abschütteln, doch anstatt mich zurückzuziehen, trieb sie mich vorwärts.

»Schnell«, zischte sie mir ins Ohr. »Pretty wird in nicht mal einer Minute nach uns sehen … Hey!«, rief sie Eel zu, als wir den Gemeinschaftsraum durchquerten, wo er und Hatchet Dolche auf eine Dartscheibe warfen.

Als Eel zu uns herübersah, lächelte sie ihn an. »Sind gleich zurück«, sagte sie und schubste mich in Richtung Ausrüstungsraum weiter. »Wir wollen nur mal kurz unter vier Augen miteinander reden.«

Erst als sie die Luke des Ausrüstungsraums geschlossen und einen Speer durch das Drehrad geschoben hatte, waren alle meine Zweifel endgültig verflogen. Ich wusste nicht einmal, wie ich mich angemessen bei ihr entschuldigen sollte.

»Steh da nicht so rum«, befahl sie. »Setz den Helm auf und lass uns abhauen.«

»Shade wird echt wütend auf dich sein«, warnte ich sie.

»Er wird darüber hinwegkommen. Schließlich haben wir ihn aus dem Gefängnis geholt.« Sie verriegelte ihren Helm und schob sich durch die Einstiegsluke im Boden.