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Ich fuhr allein im Heckgehäuse des Skimmers von Kommandantin Revas zur Handelsstation zurück. Sie hatte mich, ohne weiter nachzufragen, hinten einsteigen lassen und mir nur gesagt, dass sie die Gardisten, Gemma und meine Nachbarn darüber informieren würde, was wir gefunden hatten. Ich war froh, dass sie sich angeboten hatte, die Nachricht weiterzugeben. Ich konnte das Ganze immer noch nicht in Worte fassen.

Ich saß allein in dem Skimmer, starrte auf die vom Mond beschienenen Wellen und fühlte … nichts. Es war, als würde mein Körper die eindeutige Schlussfolgerung nicht wahrhaben wollen.

Mum und Dad waren tot.

Ich versuchte, die Umstände aus jedem Blickwinkel zu betrachten. Vielleicht hatten Fifes Männer meine Eltern an diesen Balken gefesselt und dann den Plan geändert und sie wieder freigelassen. Nicht sehr wahrscheinlich. Es gab keinen Zweifel daran, dass Mum und Dad genau das passiert war, was Fife beabsichtigt hatte. Sie waren gefesselt und ins kinntiefe Wasser geworfen worden. Und als die Flut kam, waren sie entweder ertrunken … oder lebendig von Haien geholt worden.

Die Luft im Skimmer wurde dünner und ohne Warnung fiel der Druck ab, als würde ein Gewitter heraufziehen. Trotzdem konnte ich draußen alles gut erkennen. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich die Sterne zählen können, so klar war die Nacht. Warum fiel es mir dann so schwer zu atmen?

Sie sind tot.

Ich versuchte, den Gedanken abzuschütteln, spürte aber nur, wie Taubheit meinen Arm erfasste und sich bis in meine Finger ausbreitete. Es war nicht sicher. Schließlich hatte ich ihre Leichen nicht gefunden. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen.

Sie sind tot!

Mit jeder Seemeile nahm der unerträgliche Druck zu, bis ich fast ohnmächtig wurde. In meinem Hirn geisterte die ganze Zeit nur dieser eine Satz herum. Aber egal wie hartnäckig sich die Worte hielten, wie logisch die Schlussfolgerung auch war, ich konnte es nicht glauben. Jedenfalls nicht jeder Teil von mir.

Als Kommandantin Revas’ Skimmer im Moonpool des Zugangsdecks auftauchte, brauchte ich einen Moment, um mich zu sammeln, bevor ich das Aussichtsfenster der Kapsel zurückklappte.

Gemmas Skimmer war kurz vorher angekommen und sie wartete bereits auf mich, als ich die Leiter zum Feuchtraum hinaufkletterte.

Ich machte mich darauf gefasst, dass sie die Arme um mich werfen oder weinen würde. Stattdessen bot sie mir ihre Hand, die ich voller Dankbarkeit ergriff. Mehr hätte ich nicht verkraftet, dann hätte ich die Beherrschung verloren und ich wollte nicht, dass das hier geschah, obwohl es fast Mitternacht war und sich nur noch eine Handvoll Menschen in der Ausrüstungsbucht aufhielten.

Als Kommandantin Revas auf den Rand des Moonpools trat, eilte sofort ein Gardist zu ihren Diensten herbei. Sie ignorierte ihn und blieb neben mir stehen. »Ty, das alles war ein abgekartetes Spiel – die Entführung, Hadal als Bösewicht hinzustellen – nur wegen eines Indizes würde ich noch keine voreiligen Schlüsse ziehen. Und das solltest du auch nicht.«

Ich nickte. Aber wenn jemand tatsächlich Beweise zurücklassen wollte, würde er sie dann auf den Meeresboden werfen, wo sie von der Ebbe fortgeschwemmt werden konnten?

Lars wartete ebenfalls auf dem Zugangsdeck. Er war wahrscheinlich so schnell wie möglich hergekommen, nachdem er Kommandantin Revas’ Anruf erhalten hatte. Mit ernstem Gesicht kam er auf uns zu.

»Weiß Zoe es?«, fragte ich ihn.

»Nein. Ich dachte, sie sollte es von dir erfahren.«

Er hätte mich genauso gut bitten können, sie mit einer Harpune aufzuspießen. Wie sollte ich es fertigbringen, meiner kleinen Schwester solchen Kummer zu bereiten? Kummer, über den sie nie hinwegkommen würde.

»Ihr zwei habt bei uns immer ein Zuhause«, fuhr Lars fort. »Das weißt du.«

»Danke.« Ich klang wie ein schlechter Schauspieler aus einem Wandertheater – nichts von alldem fühlte sich echt an. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich tatsächlich an den Tod meiner Eltern glauben sollte. Und ich wollte nicht, dass mich irgendwer zum Trauern drängte oder mir falsche Hoffnung machte.

»Wir werden unsere Farmen zusammenlegen, sodass der Staatenbund keinen Anspruch auf euer Land erheben kann, weil ihr minderjährig seid«, fuhr Lars fort. »Nicht nach all der Arbeit, die deine Eltern hineingesteckt haben, um es zu kultivieren.«

Ich nickte und spürte, wie ich innerlich seinen Worten nachgab.

Ein Gardist kam durch die Ausrüstungsbucht auf Kommandantin Revas zu und die beiden entfernten sich von uns, um etwas zu bereden.

Ich folgte ihnen, denn ich musste wissen, worum es ging. Außerdem war das eine gute Gelegenheit, um der Diskussion darüber zu entgehen, was ich nach Mum und Dads Tod als Nächstes tun sollte.

»Haben Sie die Drift gefunden?«, fragte ich.

Der Gardist schien über meine Unterbrechung ziemlich aufgebracht zu sein, aber Kommandantin Revas erwiderte ruhig: »Noch nicht. Wir haben ein Koordinatennetz um den Müllstrudel erstellt, ausgehend von der Stelle, wo du die Nomad gefunden hast. Wir haben an der nördlichen Seite mit der Suche begonnen und fahren Meile für Meile in Richtung Süden ab.«

»Wir werden bis morgen Früh nicht mal ein Zehntel des Strudels abgesucht haben«, sagte der Gardist zu ihr. »Wir gehen davon aus, dass uns keine größere Zeitspanne bleibt, bis die Kälte sie tötet – bei Tagesanbruch. Vorausgesetzt, sie haben genügend Sauerstoff. Wenn sie den Reservegenerator nicht in Betrieb nehmen konnten, sind sie bereits tot.«

Ich schauderte. Bis Tagesanbruch war es nicht mehr lange.

»Lassen Sie das!«, befahl Revas dem Gardisten, der dabei war, ihren Skimmer aus dem Moonpool zu ziehen. »Ich fahre noch einmal raus. Und Sie kommen mit mir«, sagte sie zu dem Mann.

»Helfen wir bei der Suche?«, fragte er.

»Nein, wir verhaften Bürgermeister Fife. Ich kann ihm die vermissten Townships zwar nicht anlasten, zumindest noch nicht, aber ich kann ihn festnehmen, weil er Tiere hält, die zu Hadals Tod geführt haben. Und auf der Fahrt von hier bis Rip Tide fallen mir ganz bestimmt noch ein paar andere Gründe ein.«

»Stiehlt Fife den Surfs vielleicht einen Teil ihrer Rationen?«, fragte Gemma.

Revas schüttelte den Kopf. »Diesen Verdacht hatte ich auch. Aber nein, er hat ihnen nichts weggenommen. Der Staatenbund hat die Rationen der Surfs tatsächlich schon vor Jahren um die Hälfte gekürzt.«

»Ich möchte bei der Suche helfen«, sagte ich.

Alle sahen mich an – Kommandantin Revas, Gemma, Lars, sogar der Gardist.

»Nach dem Schock, den du erlebt hast, solltest du dich besser schonen, mein Sohn.« Lars legte eine Hand auf meine Schulter. »Komm mit mir nach Hause und ruh dich aus. Dann bist du da, wenn Zoe aufwacht.«

»Hadal hat sein Leben geopfert, um mir die Möglichkeit zu geben, meine Familie zu retten. Das wenigste, was ich jetzt tun kann, ist, zu versuchen seine zu retten.«

»Das ist die Aufgabe der Meereswache«, stellte Revas richtig, doch ihre Worte klangen nicht unfreundlich. »Kümmere dich um dich selbst und um deine Schwester, Ty. Niemand erwartet mehr von dir.«

Sie ließ mich gehen, aber das wollte ich nicht. »Ich kenne den Müllstrudel besser als jeder andere. Wenn den Menschen auf der Drift nur noch Zeit bis Tagesanbruch bleibt, dann brauchen Sie meine Hilfe.«

»Unsere Hilfe«, fügte Gemma hinzu.

»Ty, bist du sicher, dass du das tun willst?«, fragte Lars.

»Meine Eltern würden wollen, dass ich bei der Suche mitmache. Ich will es.«

»Was deine Eltern betrifft, hast du vollkommen Recht«, seufzte er. »Sie hätten gewollt, dass alle Siedler mit anpacken.«

Ich wandte mich an Kommandantin Revas. »Nun?«

Sie sah mich nachdenklich an. »Kannst du einen Skimmer fahren?«

Während ein Gardist ein Fahrzeug für uns vorbereitete, versicherte ich Lars, dass ich gleich am Morgen zu seinem Haus kommen würde, um da zu sein, wenn Zoe aufwachte.

Lars kletterte in sein U-Boot. »Also, am Meeresboden verankert, ja?«, fragte er, als könnte er es nicht glauben. »Ich werde ein bisschen herumtelefonieren. Mal sehen, ob ich ein paar unserer Nachbarn aus den Betten holen kann, um bei der Suche mitzuhelfen.«

»Das wäre großartig.«

»Es ist mitten in der Nacht«, warnte er. »Es könnte sein, dass ich niemanden erreiche.«

»Ich weiß. Aber falls doch jemand helfen will, dann sag ihnen, dass wir am südlichen Ende sind.«

»Du weißt aber schon, dass dieser Strudel die Größe eines ganzen Staates hat, oder?«

Ich nickte.

»Dann viel Glück. Du wirst es brauchen.«

Nachdem ein Gardist namens Escabedo mir eine kurze Einführung in die Steuerung eines Skimmers gegeben hatte, liefen wir zum Moonpool, der mehr als die Hälfte der Ausrüstungsbucht einnahm. Gemma wartete auf der überfluteten Stufe neben dem Skimmer, der bereits zu Wasser gelassen worden war.

»Hast du verstanden, wonach wir den Bildschirm absuchen sollen?«, fragte sie und kletterte in das Frontgehäuse.

»Nach einem tieffrequenten Geräusch. Wir werden es nicht hören, aber es wird im Gegensatz zu Walgesang in periodisch wiederkehren Abständen auf dem Bildschirm abzulesen sein.«

Als ich ihr hinterherklettern wollte, hörte ich jemanden meinen Namen rufen. Ich drehte mich um und sah Escabedo auf uns zukommen.

»Das habe ich fast vergessen«, sagte der Gardist. »Kommandantin Revas hat mir aufgetragen, dir das zu geben.« Er überreichte mir eine kleine Plakette aus Metall. »Das ist die Eigentumsmarke der Nomad. Jetzt gehört das Schiff offiziell dir. Wir haben sogar die Motoren repariert.«

»Die Meereswache hat die Untersuchungen auf der Nomad schon abgeschlossen?«

»Wir konnten alle nötigen Erkenntnisse zusammentragen. Die Drift hat denselben Reservegenerator wie die Nomad. Er ist alt, aber wenn sie ihn zum Laufen bringen konnten, haben sie zumindest Sauerstoff. Nur keine Wärme.«

»Wie auf der Nomad«, sagte ich und erinnerte mich an all die in Decken gewickelten Leichen auf dem Boden.

Er nickte. »So haben wir auch herausgefunden, wie wir die Drift eventuell lokalisieren könnten. Als wir die Nomad wieder in Gang gesetzt hatten, haben wir bemerkt, dass der Reservegenerator ein tieffrequentes Summen ausstößt. Es ist zu niedrig, um es hören zu können, aber die Geräte empfangen es.«

»Und dieses Geräusch werden wir vielleicht auf dem Bildschirm zu sehen bekommen«, vermutete ich.

»Ganz genau.« Er wandte sich zum Gehen. »Die Ironie daran ist nur, dass wir zwar hoffen, dass die Surfs auf der Drift den Generator einschalten konnten. Aber wenn sie es tatsächlich geschafft haben, ist das Summen so tief, dass es sie krank macht.« Er winkte zum Abschied und lief zum Fahrstuhl.

»Okay«, sagte Gemma. »Los geht’s.«

Ich nickte, obwohl meine Gedanken plötzlich fieberhaft eine andere Spur verfolgten. »Bin gleich zurück.«

Ich sprang vom Skimmer auf den Rand des Moonpools. »Wie krank?«, rief ich Escabedo hinterher.

Er drehte sich um, obwohl sich die Fahrstuhltür bereits geöffnet hatte.

»Wie macht das Summen die Leute krank?«, fragte ich noch einmal.

»Es bringt ihr Innenleben durcheinander, ohne dass sie es wissen«, sagte er ungeduldig.

»Ist auch die visuelle Wahrnehmung davon betroffen?«

»Keine Ahnung, Kind. Ich muss jetzt gehen.« Er stieg in den Fahrstuhl.

Als ich mich abwandte, um wieder in den Skimmer zu klettern, stand Gemma knietief im Wasser auf dem überfluteten Rand des Pools.

»Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte sie. »Dass ich mich im Meer schlecht fühle, weil ich die Geräusche von diesen Generatoren hören kann.«

»Schallwellen bewegen sich unter Wasser weiter und schneller als in der Luft«, erklärte ich und watete zu ihr hinüber. »Wenn du schon an der Oberfläche Dinge hören kannst, die andere Menschen nicht wahrnehmen, dann stell dir nur vor, was du unter Wasser alles empfangen könntest.«

»Was ist mit den Geistern?«, fragte sie. »Wie erklärst du dir die?«

»Vielleicht wirken sich die Schwingungen auch auf deine Augen aus, es könnte doch sein, dass du dadurch alles Mögliche siehst. Auch verschwommene, unscharfe Gebilde.«

»Willst du damit sagen, dass ich die Hypnose rückgängig machen soll? Damit ich sie wieder sehen kann?« Ihre Stimme hob sich. »Was ist, wenn du dich irrst?«

Ich verlangte viel von ihr, das wusste ich.

»Und selbst, wenn du Recht hast«, fuhr sie fort, »zu wissen, dass ich mich nur schlecht fühle, weil ich diese tiefen Töne hören kann, führt nicht dazu, dass das Gefühl verschwindet.«

»Wenn wir die Drift rechtzeitig finden und den alten Generator abschalten, wird das Gefühl verschwinden.«

Sie war den Tränen nahe. »Und wenn das doch nicht der Grund ist? Wenn ich es rückgängig mache und nie wieder in der Lage bin, ins Wasser zu steigen? Ich könnte nicht bei deiner Familie leben …« Sie hielt inne, dann schüttelte sie den Kopf, als wäre ihr etwas Offensichtliches klar geworden. »Ich werde es tun.«

»Bist du sicher?«

»Ich könnte nicht mal mit mir leben, wenn ich es nicht wenigstens versuche.«