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»Das Boot ist so leicht, dass wir es über den Wall heben können«, sagte ich, während wir auf den Durchlass im Stacheldraht zusegelten. Hadals Worte trieben mich an – Du musst vor der Flut dort sein. Mir blieb also nur eine halbe Stunde. Vielleicht auch weniger. Meine Nerven lagen blank, aber ich hatte zum ersten Mal seit zwei Tagen wieder echte Hoffnung.

Gemma hielt den Blick auf das dunkle Wasser gerichtet, seit wir aus den Docks gesegelt waren. Sie beleuchtete die Lagune ununterbrochen mit der Taschenlampe. Ich konnte ihr Verhalten gut nachvollziehen. Der Gedanke, auf ein weiteres Krokodil zu stoßen, war unerträglich. Glücklicherweise hatten wir bis jetzt nicht mehr als ein leichtes Kräuseln im Wasser gesehen.

Gemma kletterte mit den Paddeln auf den Trümmerhaufen, während ich das Segel aufrollte.

»Ty«, sagte sie und deutete in die Dunkelheit. »Da draußen kreuzt etwas auf den Wellen. Ist das ein Boot?«

Es war zu weit entfernt, um es mit meinem Sonar einfangen zu können. Doch mir fiel etwas ein, was Kale auf der Specter gesagt hatte. »Es bewegt sich wie ein Skimmer. Kann ich mal die Taschenlampe haben?«

Ich wusste, dass der Strahl nicht wirklich ausreichen würde, um etwas auf dem Meer zu erkennen, das so weit entfernt war, aber mit etwas Glück würden wir gesehen werden. Ich schaltete das Licht an und aus – dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz. SOS in Morsezeichen.

Innerhalb weniger Minuten hielt der Skimmer neben der Schuttmauer. Die Aussichtsfenster des Front- und des Heckgehäuses waren so klein, dass es unmöglich war zu erkennen, wer sich darin befand. Dann glitt das Aussichtsfenster am vorderen Gehäuse zurück und zum Vorschein kam ein Gardist, der uns ungläubig anstarrte.

»Wir müssen so schnell wie möglich zum Garten der Surfs.« Ich ließ das zusammengerollte Segel fallen.

»Du leuchtest«, stellte der Gardist fest.

»Ja, ich weiß.« Sein Kommentar machte mir überhaupt nichts aus. Ich konnte mir nicht einmal mehr vorstellen, mich jemals wieder wegen so einer Kleinigkeit aufzuregen. »Meine Eltern könnten verletzt sein. Bitte bringen Sie uns dorthin.«

»Springt rein.« Er winkte uns zu sich in die vordere Kapsel, obwohl sie nur für zwei Personen konzipiert war, während das Heckgehäuse Platz für drei Personen bot. »Bist du der Sohn der Townsons?«

»Ja«, antwortete ich und quetschte mich neben Gemma.

Er drückte einen Knopf auf dem Bedienfeld und das Aussichtsfenster glitt zu. Während der Skimmer bei voller Geschwindigkeit über die Wellen hüpfte, sagte er: »Kommandantin Revas wird erfreut sein, wenn sie hört, dass wir euch gefunden haben.«

»Uns gefunden?«, fragte Gemma.

»Wir sind auf ihren Befehl hier.«

Gemma sah ihn irritiert an.

»Auf der anderen Seite der Ruinen kreuzen noch zwei Skimmer«, erklärte er. »Ohne Genehmigung kommen wir nicht hinein. Doch Kommandantin Revas hat uns beauftragt, das Gebiet die ganze Nacht zu umkreisen für den Fall, dass ihr auftaucht.«

»Woher wusste sie, dass wir hier sind?« Inzwischen war ich mir sicher, dass Fife es ihr nicht verraten hatte.

»Ein Boxer hat sie angesprochen und ihr mitgeteilt, dass er euch von den Ruinen erzählt hat, sich nun aber Sorgen um eure Sicherheit mache.«

»Gabion«, stieß Gemma hervor.

Jetzt wurde mir auch klar, dass Gabion nicht vor Kommandantin Revas, sondern vor Fife Angst gehabt hatte. »Sie hat ihn verstanden?«, wollte ich wissen.

»Ja, wir beherrschen alle die Zeichensprache.« Der Gardist klang beleidigt. »Das ist Teil unserer Ausbildung.«

Während er über Funk die Kommandantin rief und ihr mitteilte, wohin wir unterwegs waren, saßen Gemma und ich eng beieinander und schwiegen.

Ich hatte keine Worte für das, was wir heute Nacht gesehen hatten. Jedes Mal, wenn mir Hadal in den Sinn kam, erstarrte ich innerlich. Ich konnte mir keinen Gefühlsausbruch erlauben, wenigstens nicht, bis ich wusste, dass es meinen Eltern gut ging. Dann konnte ich über Hadal nachdenken. Und über die Drift … Plötzlich packte mich die Erinnerung an die mit Ketten verschlossenen Luken der Nomad wie eine eisige Strömung.

Nein, ich durfte auch nicht daran denken, was die Leute auf der Drift durchmachten. Nicht jetzt. Nicht, wenn ich noch in der Lage sein wollte zu funktionieren.

Als wir den Eingang erreichten, kamen gerade zwei weitere Skimmer aus Richtung Süden am Garten der Surfs an. Einer hielt neben uns, das Aussichtsfenster des Frontgehäuses wurde aufgeklappt und Kommandantin Revas erschien.

Als der Gardist unseren Skimmer öffnete, winkte sie mir zu. »Spring rein«, sagte sie, doch es klang nicht wie ein Befehl. Gemma wollte sich offensichtlich nicht zu Kommandantin Revas in den Skimmer pressen, denn sie entschied sich dafür, bei dem Gardisten zu bleiben.

Als wir in den Garten fuhren, befahl Revas den zwei anderen Skimmern, nach beiden Seiten auszuschwenken, während wir mit offenem Aussichtsfenster durch den schmalen Mittelkanal fuhren.

Wie die Hardluck Ruinen war der Gemeinschaftsgarten der Surfs eine überflutete Stadt, jedoch viel kleiner. Und anders als die skelettartigen Gebäudeüberreste des Schwarzmarktes erfüllten diese alten Gebäude einen Zweck. Im hellen Mondlicht konnte ich Weinranken ausmachen, die sich an den freiliegenden Balken hinaufwanden, und Früchte aus Hydrokulturen hingen von den Balkonen.

Der Pionier in mir war beeindruckt vom Ideenreichtum der Surfs, trotzdem schenkte ich der Pflanzenwelt um uns herum keine weitere Aufmerksamkeit. Meine ganze Konzentration war darauf gerichtet, irgendein Lebenszeichen meiner Eltern aufzuspüren.

»Hadal hat dir erzählt, dass Fifes Männer deine Eltern hier ausgesetzt haben?«, fragte Revas.

Ich nickte, denn ich wusste, dass der Gardist ihr per Funk auf unserem Weg hierher über alles Bericht erstattet hatte. Ich vermutete, sie wollte überprüfen, ob ich irgendetwas ausgelassen hatte … was ja auch stimmte.

»Hadal ist tot«, sagte ich. »Eins von Fifes Krokodilen hat ihn sich geschnappt.«

Revas erstarrte, erwiderte jedoch nichts.

»Er hat gleich nach der Entführung mit Ihnen Kontakt aufgenommen, oder?«, fragte ich, während ich weiterhin die nähere Umgebung nach einem Hinweis auf meine Eltern absuchte. »Er hat Ihnen erzählt, dass er gezwungen wurde, es zu tun.«

Sie überlegte einen Moment, dann nickte sie. »Ich bin nach Rip Tide gekommen, um ihn persönlich zu treffen. Es war die einzige Möglichkeit, mit ihm zu reden.«

»Deshalb haben Sie mich gestern aufgefordert, nach Hause zu gehen«, vermutete ich. »Weil Hadal dort war.«

»Ja, und als du Rip Tide Stunden später endlich verlassen hast«, betonte sie, »war er schon fort, um sich in den Ruinen zu verstecken. Dann hat mir Gabion erzählt, dass du auf dem Weg dorthin bist.« Ihre Miene verfinsterte sich. »Ich hatte die ganze Zeit die Befürchtung, dass Hadal zu dem Schluss gekommen wäre, dich zu töten sei seine einzige Chance, Fife dazu zu bringen, die Drift freizugeben.«

Hadal hatte tatsächlich mit diesem Gedanken gespielt und ihn fast in die Tat umgesetzt. Er hatte auch darüber nachgedacht, sich an Fife zu rächen. Doch am Ende hatte er etwas ganz anderes getan. Er hatte sich dafür entschieden, mir zu helfen – einem Siedler. »Er wollte sichergehen, dass ich rechtzeitig hier ankomme, um meine Eltern zu retten – vor der Flut.«

Sie sah mich an. »Die Flut war schon vor über einer Stunde.«

»Vielleicht hat sie nicht ihren Höchststand erreicht«, sagte ich und vermied dabei, zu genau auf den abbröckelnden Beton und die freiliegenden Balken zu achten, an denen wir vorbeizogen. Oberhalb der Wasserlinie klammerten sich weder Seepocken noch Napfschnecken an die Ruinen. Direkt unterhalb der Wellen wuchs jedoch das Leben und ich musste der Wahrheit ins Gesicht sehen – die Flut war bis zu ihrem höchsten Punkt gestiegen.

Wir fuhren eine Weile schweigend weiter. Obwohl ich mich nur auf die Suche konzentrieren und alles andere abblocken wollte, nagte mein schlechtes Gewissen weiter an mir.

»Da ist etwas, was ich Ihnen sagen muss«, bemerkte ich schließlich und drehte mich auf meinem Sitz zu ihr um. »Ich habe Shade aus dem Gefängnis befreit, damit er mich zu den Hardluck Ruinen bringen konnte.« Ich war so verzweifelt gewesen und hatte nur die Rettung meiner Eltern im Kopf gehabt, dass ich bereitwillig das Gesetz gebrochen hatte. Doch jetzt fragte ich mich, ob ich das Ganze nicht auch ohne Shades Hilfe geschafft hätte. Jedenfalls hatte ich mich nicht besonders darum bemüht, eine andere Möglichkeit zu finden.

Kommandantin Revas musterte mich. Nach einer Weile fragte sie: »Hast du den Hai gesehen?«

»Wie bitte? Äh, ja, einen Bullenhai. Er hat sich direkt durch das Gitter gebissen.«

»Hast du deshalb die Zellentür geöffnet?«

»Ich hätte sie auch so geöffnet«, gab ich zu. »Aber ja, der Hai war nur noch wenige Sekunden davon entfernt durchzubrechen.«

»Dann hast du das Richtige getan«, erwiderte sie. »Niemand verdient es, bei lebendigem Leib von einem Hai gefressen zu werden. Nicht einmal ein Outlaw. Ich hätte keinen Gefangenen in diesem armseligen Gefängnis zurücklassen dürfen. So wie ich das sehe, ist dein Handeln darauf zurückzuführen, dass eine akute Gefahr bevorstand.« Sie sah mich streng an. »Aber das darf nicht noch einmal vorkommen.«

»Wird es nicht«, versicherte ich ihr.

Plötzlich erfüllte ein unheimliches, klirrendes Geräusch die Nacht. Ich blickte auf und sah Tausende Glasflaschen über uns baumeln. Grüne Weinranken sprossen aus den Flaschen und wanden sich um Rankgitter. Als der Wind auffrischte, klangen sie wie ein Windspiel, was sich für einige sicher schön anhörte, mir aber eher unheilvoll vorkam.

»Da vorne«, stieß Revas plötzlich aus.

Ich folgte ihrem Blick bis zu einer Stelle, an der zwei Seile nebeneinander an einem waagerechten Balken angebunden waren. Die Enden verschwanden unter der Wasseroberfläche.

Revas lenkte den Skimmer langsam näher, offensichtlich mit der Absicht, neben den herabbaumelnden Seilen anzuhalten, doch ich hielt es nicht länger aus. Ich sprang von meinem Sitz ins Wasser und schickte schon die ersten Klicklaute aus, als ich gerade die Oberfläche berührt hatte. Was mir als Bild zurückgeworfen wurde, hätte mir eigentlich nicht den Magen umdrehen dürfen, denn ich sah nicht die Leichen meiner Eltern. Nur die Seile baumelten vor mir. Aber beim Anblick ihrer Enden brach ich in Panik aus. Sie waren ausgefranst, als wären sie mit einem Messer durchtrennt worden. Oder von Zähnen.

Das hat nichts zu bedeuten, redete ich mir ein. Jemand hat hier zwei Fischfallen aufgehängt und sie einfach losgeschnitten, als sie voll waren.

Obwohl ich den Atem nicht mehr lange anhalten konnte, schwamm ich näher an die Seile heran. Ich fing die Enden mit der Hand ein und tauchte zur Wasseroberfläche auf.

Der Skimmer trieb ganz in der Nähe. »Was hast du gefunden?«, rief Revas.

Als ich die ausgefransten Seilenden in die Höhe hielt, schien sie einen erleichterten Seufzer auszustoßen. Doch mein Herz schlug plötzlich schneller, als ich erkannte, dass die Seile aus geflochtenen Walsehnen bestanden. Ein Surf hatte viel Zeit und Können aufgebracht, um sie herzustellen. Sie waren viel zu wertvoll, um sie nach dem Fischen einfach hängen zu lassen. Wenn ich etwas in den letzten zwei Tagen gelernt hatte, dann, dass Surfs die am wenigsten verschwenderischen Menschen auf der Erde waren. Ob das nun bedeutete, dass sie jeden Teil einer Robbe verwerteten oder neue Verwendungsmöglichkeiten für alte Flaschen fanden, von denen der Meeresboden übersät war. Jemand anders musste diese Seile hier zurückgelassen haben.

Was hatte Hadal gesagt? Fife wollte meine Eltern im Garten zurücklassen, damit die Schuld den Surfs zugeschrieben werden konnte. Diese Seile waren ein Teil des abgekarteten Spiels, dessen war ich mir sicher. Aber wenn Mum und Dad daran gefesselt gewesen waren – wo waren sie dann abgeblieben?

Ich ließ die Seile los, inhalierte Liquigen und tauchte noch einmal. Ich schwamm durch die versunkene Stadtlandschaft, die jemand in ein Seetangfeld hatte verwandeln wollen. Das Wasser war für Seetang weder kalt noch tief genug, sodass die normalerweise üppigen, neun Meter hohen Stängel kaum drei Meter erreichten und ziemlich mickrig aussahen. Alles, was ich sonst mit meinem Sonar aufspüren konnte, waren Fische, die zwischen den treibenden Wedeln umherhuschten.

Ich ließ mich tiefer sinken, bis ich sehen konnte, wo sich der Seetang an Steinen und im Sand festklammerte. Ich stieß eine Reihe Klicks aus, ohne genau zu wissen, wonach ich eigentlich suchen sollte, bis ich es entdeckte. Ein Tauchgürtel lag zwischen Seesternen und Anemonen am Boden. Ich schnappte ihn mir, stieß mich vom Meeresgrund ab und schwamm zur Wasseroberfläche.

»Ty, hör auf damit!«, rief Revas, als ich durch die Wellen brach. »Du kommst sofort zurück in den Skimmer.«

Ich paddelte im Wasser und hob den Tauchgürtel in die Höhe, damit sie ihn im Mondlicht sehen konnte.

»Was ist das?«, fragte sie.

Das war der Tauchgürtel meiner Mutter. Darin bestand kein Zweifel. Mir schnürte sich die Kehle zu, als ich die Schlaufen und Halfter betrachtete, die nicht mit Waffen vollgestopft waren wie die Gürtel anderer Siedler. Ihrer war gespickt mit Werkzeugen für die Pflege von Aquakulturen, einschließlich einer speziellen Schere, die mein Vater für sie entworfen hatte. Die vordere Schnalle war immer noch verschlossen. Der Gürtel war an der Seite aufgeschlitzt worden – von einem Messer oder scharfen Zähnen.