6

Mir war übel und ich kämpfte gegen die lähmende Angst, als ich durch die Kabine hetzte und die Tür hinter mir abschloss. Das würde die Surfs zumindest etwas aufhalten und mir einen kleinen Vorsprung verschaffen.

Draußen war die Sonne war aufgegangen, der Nebel löste sich langsam auf und vom Bugturm aus entdeckte ich Gemma. Als sie mir zuwinkte, rief ich: »Das ist eine Falle!«, und hoffte, dass der Wind meine Worte nicht forttrug.

Hinter mir wurde die Tür aufgestoßen. Ich betrachtete die aufgewühlte See unter mir. Hinunterzuklettern würde zu lange dauern, doch ein Sprung aus zwei Stockwerken Höhe war riskant. Abgesehen vom Sog war es unmöglich vorherzusagen, ob Felsen oder Wrackteile unter den Wellen verborgen waren. Ich wünschte, ich hätte meinen Helm nicht im U-Boot gelassen und tastete nach einem Halt an dem verrosteten Schiffsrumpf.

»Eine Bewegung, und ich schlitze dich auf«, sagte eine raue Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und erblickte einen Surf, dessen nackter Oberkörper mit Brandblasen übersät war. »Rein da!«, befahl er und die dolchscharfen Spitzen seines Dreizacks blitzten im Sonnenlicht auf, als er damit auf die Tür deutete.

Ich sah, wie sich Gemma ins Cockpit fallen ließ, und wog meine Möglichkeiten ab. Sie machte den Kreuzer abfahrbereit, jetzt könnte ein Sprung das Risiko wert sein.

»Rein da!«, wiederholte der Surf. »Oder ich werde …« Seine Drohung endete in einem Jaulen, das sich in einen wütenden Schrei verwandelte, während sein Dreizack polternd auf dem Boden aufschlug.

Verwirrt sah ich dabei zu, wie der Mann vor dem Eingang zur Kabine zusammensackte und sich heulend den nackten Rücken hielt. Hinter ihm stand ein kleines Mädchen mit Strubbelkopf in einem Taucheranzug. Zoe.

»Was hast du getan?!«

Sie hielt einen schmalen Stachel in die Höhe. »Von einem Stachelflosser«, sagte sie. Kein Zweifel, dass sie den von einem ihrer Haustiere abgezupft hatte. Sie warf den Stachel beiseite und stieg über den jammernden Mann. »Er wird nicht dran sterben.«

Das nicht, aber angesichts der Schmerzen, die das Gift des Fischs verursachte, würde er sich bald wünschen, er wäre tot. Ich hatte meine Hand einmal in die falsche Felsspalte gesteckt, deshalb wusste ich das so genau. »Warum hast du ihm nicht einfach einen Elektroschock verpasst?«, fragte ich Zoe.

Sie sah mich kurz an und ich kannte die Antwort. Sie konnte ihre Dunkle Gabe nicht beherrschen. Deshalb fürchtete sie sich jedes Mal davor, dauerhafte Schäden zu verursachen oder jemanden zu töten.

»Komm jetzt«, sagte sie. Sie griff nach meinem Arm und zog mich von dem Surf weg, der sich inzwischen vor Schmerzen am Boden wand.

»Dad hat mich gebeten, mit der Slicky wegzufahren, bevor diese unheimlichen Typen aufgetaucht sind. Sollen wir ihnen folgen?«

»Wo ist die Slicky?«

Sie zeigte zu der Stelle, wo der Achteraufbau von den Wellen umspült wurde. Zoe steuerte U-Boote schon seit sie sechs Jahre alt war. Wenn ich sie sicher dort rüberbrachte, konnte sie von hier verschwinden.

Ich sah mich um und entdeckte ein dickes Seil, das vom über uns liegenden Deck herabhing. Ich folgte ihm mit den Augen und sah, dass es unter Wasser am anderen Ende des Schiffes endete, nicht weit von unserem Nanoboot entfernt. Ich nahm Zoe den Tauchgürtel ab, warf ein Ende über das Seil und zog es näher an den Vorbau heran. Es schien stabil genug zu sein. Ohne irgendeine Erklärung wusste sie, was zu tun war. Sie setzte ihren Helm auf und nahm mir die Enden des Gürtels ab.

»Du steigst in die Slicky und fährst zur Handelsstation«, erklärte ich ihr. »Dann rufst du die Meereswache.«

»Und was ist mit dir?«

»Ich folge diesem U-Boot.«

»Das will ich auch!«

»Nein! Die Slicky kann da nicht mithalten.« Das war eigentlich kein Argument. Aber wenn ich ihr sagte, es sei zu gefährlich, würde sie garantiert trotzdem versuchen, dem U-Boot zu folgen. »Wenn du nicht die Meereswache informierst, dass Mum und Dad von Surfs entführt wurden, wie sollen wir sie dann zurückholen?«

Zoe wurde blass. Sie nickte, hielt sich an den Enden des Tauchgürtels fest und stieß sich ab. Ich sah dabei zu, wie sie an der provisorischen Seilrutsche hinunterflog. Nach nur wenigen Sekunden traf sie auf die Wellen und verschwand in der Gischt. Einen Moment später tauchte sie im Cockpit der Slicky wieder auf.

Rasch beugte ich mich über den Mann, der sich am Boden krümmte. Es war nur ein winziger Einstich zu sehen. Die Schmerzen würden höchstens eine Woche andauern. Eigentlich hätte mir das egal sein sollen. Schließlich hatte der vom Krebs zerfressene Häuptling der Drift gerade meine Eltern entführt. Trotzdem konnte ich den Ratschlag nicht zurückhalten. »Leg eine heiße Kompresse auf die Stelle. Wärme schadet dem Gift.«

Ich war gerade dabei, meinen eigenen Gürtel zu öffnen, als mir etwas Grünes ins Auge fiel. Mein Herz schlug schneller. Das U-Boot war unter dem Wrack hervorgekommen und bewegte sich nun auf den Kreuzer zu. »Gemma!« Ich zeigte auf das Fahrzeug, das auf sie zusteuerte, und bedeutete ihr abzutauchen. Doch dann wurde mir bewusst, dass Gemma, selbst wenn sie fliehen konnte, nicht wusste, dass wir dem grünen U-Boot folgen mussten, weil der Häuptling der Drift meine Eltern an Bord gefangen hielt.

Hinter mir hallten Schritte durch den Korridor und kamen schnell näher. Ich achtete genau auf die Wellen, konzentrierte mich auf das eine blaue Aufblitzen in der aufschäumenden Gischt und sprang vom Bugturm.

Sobald ich ins Wasser eingetaucht war, breitete sich ein Gefühl der Erleichterung in mir aus. Weder Trümmerteile noch Felsen kamen mir in die Quere. Ich ließ mich langsam sinken und drehte mich um. Als ich den Kreuzer über mir entdeckte, schickte ich hohe Klicklaute zu ihm hinauf. Das Kontrollpult müsste die Geräusche auffangen und Gemma würde hoffentlich wissen, woher sie kamen.

Ich schwamm zum Anhänger. Sobald ich mich hinten festgeklammert hatte, klickte ich erneut und der Kreuzer setzte sich in Bewegung, wobei er sich leicht neigte. Schnell sandte ich ein paar Schallwellen über meine Schulter zurück und erkannte, dass uns das grüne U-Boot verfolgte. Waren die Surfs hinter der Wagenladung oder hinter mir her? Ich hatte keine Ahnung. Aber wie sollten wir ihnen folgen, wenn sie uns jagten? Eine noch dringendere Frage war jedoch, wie lange ich noch meinen Atem anhalten konnte. Ich musste Gemma dazu bringen aufzutauchen, und zwar bald.

Der Kreuzer schlingerte und bockte im Wasser. Gemma hatte natürlich nicht viel Erfahrung im Umgang mit unserem Familienboot – und erst recht nicht, wenn ein Anhänger hinten festgemacht war. Wieder versuchte ich, in ihre Richtung zu klicken, doch bei dieser Geschwindigkeit erreichten meine Laute sie nicht.

Ich packte die Gummiriemen, die über den Anhänger gespannt waren, und zog mich daran Stück für Stück bis zur Mitte der Abdeckung. Ich wollte mich hinknien, doch gegen den Sog kam ich nicht an. Wenn ich meinen Kopf nicht innerhalb der nächsten dreißig Sekunden über Wasser halten konnte, würde ich loslassen müssen. In einem allerletzten Versuch winkte ich verzweifelt in die Heckkamera des Kreuzers.

Das musste Gemma verstanden haben. Der Kreuzer raste plötzlich so schnell in Richtung Oberfläche, dass er wie eine Rakete durch die Wellen schoss und der Anhänger hinter ihm herflog. Durch den Anhänger war das U-Boot zu schwer und klatschte mit solcher Wucht auf das Wasser auf, dass mir die Luft wegblieb. Doch mir blieb keine Zeit, mich vor Schmerzen zu krümmen, denn schon tauchte das grüne U-Boot hinter uns auf. Mit seiner langen Bohrspitze und dem zigarrenförmigen Rumpf konnte es für einen kranken grünen Narwal gehalten werden. Die zwei Fenster auf Höhe der Wasserlinie sahen aus wie Augen.

Woher hatten die Surfs ein so hochmodernes U-Boot?

Ich schob den Gedanken beiseite. Jetzt war eindeutig nicht der richtige Zeitpunkt, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Wenn sie uns auch noch als Geiseln in die Finger bekämen, wären wir für Mum und Dad keine große Hilfe mehr. Sollten sie tatsächlich hinter der Wagenladung her sein, wäre es wohl das Beste, ihnen den Anhänger zu überlassen.

Ich benutzte wieder die Gummiriemen, um mich zur Vorderseite des Anhängers zu ziehen, was keine leichte Aufgabe war. Der Anhänger war so viel leichter als das U-Boot, dass er über die Wellen hüpfte und dabei immer wieder aufs Wasser klatschte.

Ich wusste, dass ich mich nicht mehr lange halten konnte und sprang auf das Heck des Kreuzers, rutschte aber an dem glatten Fiberglas ab. Halt suchend schlug ich um mich und konnte mich schließlich an der Reling festklammern.

Ohne mir eine Atempause zu gönnen, löste ich das Schleppseil vom Kreuzer und drehte mich um. Für einen Moment hüpfte der Anhänger noch in unserem Kielwasser, dann verschwand er in den Wellen. Mit ihm ging die ganze wertvolle Ladung aus Seetang unter, die uns zwei Tage schweißtreibende Arbeit gekostet hatte, doch das war mir jetzt egal, solange wir dadurch die Surfs abschütteln konnten.

Und tatsächlich, das U-Boot drehte bei. Durch die beiden getönten Fenster sah ich mehrere Schatten, doch ich konnte keine Gesichter erkennen. Ich wünschte, ich hätte sehen können, ob es meinen Eltern gut ging, doch genauso schnell, wie es erschienen war, tauchte das U-Boot jetzt wieder ab.

Ich kletterte über das schmale Deck des Kreuzers und Gemma öffnete mir die Luke. Sie machte mir Platz, sodass ich mich in den Pilotensitz fallen lassen konnte. Obwohl ich schweißgebadet war und vor Erschöpfung zitterte, drückte ich den Steuerknüppel nach vorn und brachte unser Höhenruder damit in eine fast senkrechte Position. Etwas berührte meine Hand, und als ich hinabsah, schob Gemma gerade ihre Finger zwischen meine. An jedem anderen Tag wäre ich begeistert gewesen, doch jetzt fühlte ich mich vor Verzweiflung wie betäubt.

»Was ist mit deinen Eltern passiert?«, fragte sie.

»Die Surfs haben sie entführt.« Mum und Dad hatten Hadal vertraut, doch der Häuptling der Drift hatte nur bewiesen, dass die Surfs tatsächlich so brutal und rücksichtslos waren, wie alle sagten. Ich bremste ab und brachte den Kreuzer wieder in die Waagerechte. »Ich weiß nicht, was wir tun sollen«, sagte ich mit brüchiger Stimme und schämte mich dafür genauso sehr wie für meine Unschlüssigkeit. »Ich weiß nicht, ob wir ihnen folgen oder lieber Hilfe holen sollten.«

»Ty.« Sie stieß mit einem Finger auf den Bildschirm.

Ein Blick genügte und ich war ebenso beunruhigt wie sie. Das grüne U-Boot kam von unten genau auf uns zu. Ich zog den Steuerknüppel zu mir heran und änderte unseren Kurs. Doch das grüne U-Boot tat dasselbe – und stieß gegen den Bauch des Kreuzers. Die scharfe Spitze durchstach den Schiffsrumpf und der Bohrer grub sich genau zwischen unseren Sitzen durch den Boden. Dann zogen die Angreifer die Bohrspitze zurück und hinterließen ein klaffendes Loch an der Unterseite des Kreuzers.

»Setz deinen Helm auf«, schrie ich und stülpte meinen über.

Gemmas Hände zitterten, als sie ihren Helm verriegelte, was das Gefühlschaos in meinem Inneren noch verstärkte. Würde sie den Tauchgang im Meer durchstehen? Oder würde sie wie beim letzten Mal erstarren?

Wasser sprudelte durch das Loch im Boden. »Keine Sorge«, beruhigte ich sie. »Wir haben ein Rettungsfloß dabei.« Es war in einem Fach unter ihrem Sitz verstaut, doch bevor ich mich hinunterbeugte, um es hervorzuholen, sah ich noch einmal nach draußen. Zum Glück, denn das U-Boot der Surfs hatte gewendet und raste erneut direkt auf uns zu, offensichtlich mit der Absicht, den Bohrer in unser Aussichtsfenster zu rammen.

Ich gab bis zum Anschlag Gas. Der Motor stotterte, aber er war noch nicht tot. Ich steuerte das U-Boot in Richtung Meeresboden und tauchte im letzten Moment unter, sodass das grüne U-Boot über uns hinwegschoss. Ich blieb auf Kurs. Wenn die Surfs glaubten, dass wir untergingen, würde uns das vielleicht genug Zeit verschaffen, um zu verschwinden.

Ich schob Gemma zur Seite und tastete nach dem Fach unter ihrem Sitz. Obwohl uns das Wasser inzwischen bis zu den Knien stand, schaffte ich es, das Floß hervorzuzerren. Ich drückte Gemma das zusammengefaltete Paket in die Arme, übernahm wieder die Steuerung des Kreuzers und zog die Bugspitze gerade noch rechtzeitig nach oben, als wir auf dem Meeresboden aufschlugen. Wir pflügten einige Meter durch den schlammigen Untergrund, bevor wir endlich zum Stehen kamen. Doch nun hatten wir ein neues Problem: Das Aussichtsfenster war so voller Schlamm, dass ich nicht sehen konnte, ob wir gefahrlos aussteigen konnten. Der Matsch war zu schwer für die Scheibenwischer. Das einzige Gute war, dass nun kein Wasser mehr durch das Loch im Boden eindrang.

»Wir müssen hier irgendwie raus«, erklärte ich Gemma, während ich den Schallimpuls des Kreuzers einschaltete, damit wir das U-Boot später wiederfanden. »Füll deine Lunge mit Liquigen.« Ich tauchte meine Hände in das Wasser, das den Boden bedeckte, und schob den Lukendeckel zurück. Der Kreuzer lag auf seinen beiden Triebwerken, sodass an der Unterseite des U-Boots eine Lücke blieb, durch die wir hinauskriechen konnten. Ich schob ein Bein durch die Luke und trat in den Schlamm. Der Boden war ziemlich weich. Es würde nicht schwer sein, uns einen Weg nach draußen zu graben. Ich hoffte nur, dass die Surfs nicht irgendwo in der Nähe auf uns lauerten.

»Ich gehe vor und buddele uns einen Weg frei. Du folgst mir.« Ich nahm ihr das zusammengefaltete Floß ab und sah ihr in die Augen. »Wir werden uns nicht lange draußen aufhalten. Bleib nur immer in meiner Nähe. Sowie ich das Floß aufgepumpt habe, bringe ich uns nach oben.«

Sie nickte mit verzweifelter Miene.

Ich wünschte, ich hätte noch mehr tröstende Worte für sie gehabt. Ich spulte ein kurzes Stück Leine von meinem Gürtel und befestigte das Ende an dem Rettungsfloß, falls ich beide Hände zum Graben brauchte. Ich nahm einen tiefen Zug Liquigen und drückte mich mit den Armen voran aus der Luke. Selbst für mich war es ein unheimliches Gefühl, unter dem Kreuzer im Schlamm festzustecken. Tapfer schlängelte ich mich vorwärts und wühlte mich wie ein Schleimaal durch den weichen Boden, bis ich auf der anderen Seite des Kreuzers auftauchte.

Schnell rappelte ich mich auf, rieb den Matsch von meinem Helm und benutzte meine Dunkle Gabe, um mich umzusehen. Etwa eine halbe Meile hinter uns trieb das Narwal-U-Boot über dem Meeresboden. Zwei Taucher waren gerade dabei, den Anhänger am Heck zu befestigten. Wir mussten hier verschwinden, bevor sie damit fertig waren. Ich beeilte mich, den Druckluftbehälter des Kreuzers ausfindig zu machen, und befestigte das Ventil des Rettungsfloßes daran.

Als das Floß sich langsam aufblähte, kroch Gemma unter dem Kreuzer hervor. Sie stand auf, kippte aber gleich wieder zur Seite und klammerte sich an die Reling. Offensichtlich hatte unsere unsanfte Landung sie ganz schön mitgenommen.

Mit meiner linken Hand griff ich nach einer der Halteschlingen am Floß. Mit der rechten zog ich die Leine an Gemmas Gürtel heraus und hakte sie bei mir ein. Je weiter sich das Floß aufblies, desto schwieriger wurde es für mich, es festzuhalten, und ich wollte auf keinen Fall riskieren, dass es mich ohne Gemma an die Oberfläche zog.

Gemma blickte über die Schulter nach hinten, wirbelte aber sofort wieder herum, als hätte sie irgendetwas gesehen. Ich versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, doch jetzt brauchte ich beide Hände, um das Floß neben dem Druckluftbehälter zu halten. Ich stupste sie mit dem Fuß an, doch sie schien vergessen zu haben, dass ich überhaupt da war. Sie drehte sich wieder um und starrte in die Dunkelheit. Auch wenn ihr Helmlicht voll aufgedreht war, konnte sie nicht besonders weit sehen. Mein Biosonar verriet mir jedoch, dass nichts in der Nähe war außer einer Schar Adlerrochen.

Eine echte Bedrohung ging nur von dem grünen U-Boot aus und nach einer Reihe weiterer Klicks sah ich, dass die Taucher den Anhänger jetzt am Heck befestigt hatten. Glücklicherweise war das Floß inzwischen fast vollständig aufgeblasen.

Als ich mich wieder zu Gemma umdrehte, schreckte ich kurz zurück. Sie zitterte am ganzen Körper, dann sackte sie auf den Boden und rollte sich im Schlamm zu einer Kugel zusammen. Das Floß zog mich von den Füßen, ich stützte mich am Kreuzer ab und langte nach Gemma, doch meine Fingerspitzen streiften nur ihren Oberschenkel. Sie bemerkte es nicht. Ich riss an der Leine, die uns miteinander verband, und weckte damit endlich ihre Aufmerksamkeit. Sie streckte ihre Hand nach mir aus und ich bekam sie zu fassen. Mit einem Ruck zog ich sie zu mir hoch und hielt sie fest.

Genau in diesem Moment sprang das Ventil von der Düse des Druckluftbehälters und das Floß brach nach oben aus, wobei es mir fast den Arm ausgekugelt hätte. Unser gemeinsames Gewicht verlangsamte zwar den Auftrieb des Floßes, doch es stieg unaufhaltsam weiter auf. Mit geschlossenen Augen schlang Gemma ihre Arme um meinen Hals. Ihr Helm war an meinen gedrückt und ich sah, wie sich ihre Augen unter den Lidern bewegten, als hätte sie einen Albtraum. Sie öffnete nicht einmal die Augen, als wir mitten durch einen Thunfischschwarm gezogen wurden. Ich hielt sie noch fester, während uns die Fische – von denen jeder wenigstens zweihundert Kilogramm auf die Waage brachte – in einem Gestöber aus blauen Leibern und gelben Flossen hin und her stießen. Als wir dem Schwarm endlich entkommen waren, erspähte ich die ersten Sonnenstrahlen, die das dunkle Wasser durchdrangen. Halte durch, dachte ich im Stillen. Wir haben es fast geschafft.

Sowie das Floß die Wellen durchbrochen hatte, hievte ich Gemma an Bord. Als ich mich ebenfalls hineingezogen hatte, lag sie schon wieder zusammengerollt am Boden.

»Gemma«, sagte ich, sowie das Liquigen aus meiner Lunge entwichen war. »Wir sind nicht mehr im Wasser.«

Ihr Helm war immer noch luftdicht verschlossen, doch sie schüttelte nur den Kopf, als würde sie ein furchtbares Bild loswerden wollen. Ich zog ihre Hände vom Plexiglas und mühte mich damit ab, die Verriegelung zu lösen. Sofort brach sie in ersticktes Schluchzen aus.

»Atme!«, rief ich, obwohl ich wusste, dass es nicht das Liquigen war, das die Luft davon abhielt, in ihre Lunge zu strömen. Ich warf ihren Helm beiseite und nahm ihr Gesicht in meine Hände. »Es geht dir gut. Wir sind im Floß.«

Sie blinzelte mich an, drängte sich an mir vorbei und beugte sich über den Rand, um sich zu übergeben. Ich hielt ihr Haar zurück und wünschte, ich hätte mehr für sie tun können. Als der Brechreiz vorüber war, spülte sie sich den Mund wieder und wieder mit Meerwasser aus. Dann setzte sie sich auf und stieß mich mit zitternden Händen von sich.

»Ich werde nie wieder einen Fuß ins Meer setzen«, sagte sie keuchend.

»War es so schlimm wie beim letzten Mal?«

Ohne ein Wort kroch sie ein Stück von mir weg, hockte sich in eine Ecke des Floßes und schlang die Arme um ihre Knie.

»Gemma, ich glaube nicht, dass du verrückt bist. Wirklich nicht.«

»Das spielt keine Rolle«, sagte sie. »Ich will dich nicht mehr sehen.«

»Wovon redest du?«

»Ich werde für immer in der Handelsstation bleiben.«

»Auch wenn das wahr ist, werde ich dich dort besuchen.«

Sie sah mich todtraurig an. »Sicher, toller Plan«, sagte sie schließlich.

Warum hatte ich das Gefühl, dass sie mich zurechtwies? Als wäre ich zu dumm zu erkennen, dass das auf Dauer unmöglich war. »Es tut mir leid. Ich hätte dich heute nicht mitnehmen dürfen.«

»Es ist nicht deine Schuld.« Sie streckte die Beine aus und tat plötzlich, als sei nichts gewesen. »Wie kommen wir jetzt hier weg?«

»Unsere Taucheranzüge haben Peilsender.«

Sie nickte und schien sich zu entspannen.

Ich wollte sie nicht schon jetzt mit der ganzen Wahrheit konfrontieren: Niemand würde daran denken, nach den Sendern zu suchen. Wenn Zoe die Handelsstation erreicht und den Leuten von der Entführung erzählt hatte, würde das Schicksal meiner Eltern an erster Stelle stehen. Es würde wahrscheinlich eine Weile dauern – mindestens ein paar Stunden –, bevor irgendjemand überhaupt auf die Idee kam, im offenen Meer nach uns zu suchen.