13

»Jetzt geht’s los!«, rief Hatchet mit einem Grinsen, das seine verstörenden Zähne entblößte.

Shade und sein Gegner nahmen ihre Angriffspositionen ein, während sie gleichzeitig versuchten, das Gleichgewicht zu halten. Ich hätte wetten können, dass es noch schwieriger war, als es aussah.

Gabion holte zuerst aus, doch Shade wich dem Schlag gekonnt aus und ließ dabei intensive Farben über seinen Körper wandern – erst Rot, dann Neonweiß, genau wie der Tintenfisch Diablo Rojo. Die Menge tobte bei diesem Anblick. Sogar Gabion schien überrascht zu sein und senkte kurz die Fäuste. In diesem Moment wurde ich auf seine Hände aufmerksam. Ich lehnte mich über die Brüstung, um sie noch besser sehen zu können.

»Irgendetwas stimmt mit seinen Fingerknöcheln nicht«, stellte ich fest und weckte damit augenblicklich die Aufmerksamkeit der Outlaws. Gabions Fingerknöchel waren nicht einfach nur ungewöhnlich groß, sie traten regelrecht hervor, als hätte er sich fünf Kieselsteine unter die Haut geschoben.

»Seht euch das an!«, rief Eel entrüstet. »Er hat sich die Knöchel aufgespritzt.«

»Womit denn?«, fragte Gemma.

Kale runzelte völlig verärgert die Stirn. »Kalk.«

»Das Zeug, aus dem Seepocken ihre Schalen machen?«, fragte ich.

Eel nickte. »Die Haut dehnt sich über den vergrößerten Fingerknöcheln aus und man kann Boxhiebe austeilen, als würde man jemandem einen Sack voller Eisenkugeln überziehen.«

»Aber das ist nicht fair«, rief Gemma wütend. »Wo ist Bürgermeister Fife? Das müssen wir ihm sagen.«

»Es ist alles erlaubt«, erinnerte ich sie.

»›Alles, was die Touristen und ihr Geld anlockt‹«, zitierte Pretty angewidert.

Genau in diesem Moment traf Gabions Faust Shades Gesicht und schlitzte ihm die Wange auf. Eel stieß ein Zischen aus, während Gemma zusammenzuckte und die Hand vor den Mund schlug.

Auf den Ebenen über uns riefen die Leute »erstes Blut« und Geld wechselte die Hände. Ich konnte sogar beobachten, wie Tupper Fife ein Bündel Geld übergab. Mein Herz sank, als ich begriff, dass es doch möglich war, dass Shade diesen Kampf nicht gewinnen würde. Dann würde Levee mir nicht erzählen, was er über die Drift wusste, und ich wäre nach wie vor völlig aufgeschmissen, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich meine Eltern aufspüren sollte.

»Warum tut er das?«, wollte Gemma wissen. »Wegen des Preisgeldes?«

»Warum sonst?«, fragte Eel.

»Es gibt andere Möglichkeiten, Geld zu verdienen«, sagte sie. »Die sicherer sind.«

»Nicht, wenn ein Kopfgeld auf dich ausgesetzt ist«, erwiderte Hatchet.

»Und Kopfgeldjäger hinter dir her sind, die erst Ruhe geben, wenn sie bezahlt wurden«, fügte Kale gleichmütig hinzu.

»Und die dir sagen, dass du keine einundzwanzig wirst«, sagte Eel und trat wieder an das Geländer.

»Du musst dir das nicht ansehen«, flüsterte ich Gemma zu, die aussah, als müsste sie sich gleich übergeben. Sie schüttelte den Kopf und ließ Shade nicht aus den Augen, als könnte sie ihn durch reine Willenskraft beschützen.

Die Boxer richteten sich auf und bemühten sich, ihr Gleichgewicht zurückzugewinnen. In diesem Kampf gab es keine raffinierte Fußarbeit, kein Herumtänzeln. Ein falscher Schritt, und sie könnten ins Wasser stürzen. Shades Haut wurde immer dunkler, als würde er über Kohlen schmoren. Schließlich war er pechschwarz und nur noch schwer zu sehen.

Als Gabions Faust erneut auf ihn zuschoss, wich Shade aus und landete stattdessen einen Treffer in Gabions Nierengegend. Gabion heulte auf vor Schmerzen und ich erhaschte einen kurzen Blick auf seine Zunge. Sie war nicht nur weißer als weiß, sie schien auch auf das dreifache Volumen angeschwollen zu sein. Kein Wunder, dass er nicht sprechen konnte.

Shade hämmerte beide Fäuste in Gabions Bauch und versuchte dann, ihn ins Wasser zu werfen, doch Gabion packte ihn an den Beinen und brachte sie beide in der Mitte des Floßes zu Fall.

Plötzlich war das Stampfen von Stiefeln zu hören, begleitet von lauten Rufen. »Bewegung!«

Auf dem Floß rangen Shade und Gabion weiter miteinander, doch keiner von beiden bekam den anderen richtig zu fassen, weil ihre Haut vom Öl aalglatt war.

»Sofort aufhören!«, ertönte eine Stimme. Auf der anderen Seite des Beckens stellte Kommandantin Revas einen Fuß auf die Brüstung. »Dieser Kampf ist vorbei!«

Sobald Shade sie entdeckt hatte, wurde seine Haut bleich. Er verdoppelte seine Anstrengungen, warf Gabion ab und sprang auf die Füße. Revas entriss einem ihrer Gardisten eine Armbrust. Als Shade in das Becken abtauchen wollte, zielte sie und schoss. Der dünne Pfeil drang in Shades rechten Oberschenkel ein und die Spitze teilte sich zu einem doppelten Widerhaken.

Revas legte einen Hebel um und schaltete die automatische Spule der Armbrust ein. Mit einem Zischen spannte sich die Leine, während die mit Widerhaken besetzte Spitze im Bein des Outlaws stecken blieb. Revas hielt die Armbrust fest gepackt, als sich die Leine aufspulte. Shade wurde quer durch das aufspritzende Wasser im Becken gezerrt wie ein zuckender Schwertfisch.

Fife sah mit fassungsloser Wut zu, wie zwei Gardisten über das Geländer kletterten, sich mit ausgestreckten Armen herunterbeugten und darauf warteten, dass ihr Fang sie erreichte.

»Das warst du, oder?«, zischte Pretty. »Du hast die Meereswache gerufen.«

Als ich begriff, dass seine eisblauen Augen auf mich gerichtet waren, begann mein Puls zu rasen. »Warum hätte ich das tun sollen?«

Die Menge kreischte vor Empörung, als Shade auf das Deck gezerrt wurde. Er hielt sich den Oberschenkel und verzog vor Schmerzen das Gesicht. Essensreste und Trinkbecher von verärgerten Zuschauern regneten auf das Becken herab.

Pretty kam, eine Hand am Griff seines Messers, auf mich zu. »Du wolltest das Kopfgeld kassieren.«

Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen. »Geld ist so ziemlich das Letzte, was mich gerade interessiert.«

Gemma stellte sich zwischen uns. »Das würde Ty niemals tun!«

»Schalt einen Gang runter, Kumpel«, mischte sich Eel ein und winkte Pretty zurück. »Diese Flyer waren überall in Umlauf. Jeder kann Shade erkannt haben.«

Pretty ließ das Messer nicht los und beäugte mich alles andere als überzeugt.

Da fiel mir ein, dass ich vor dem Kampf Levee und Krait von Shade erzählt hatte, und plötzlich fühlte ich mich doch irgendwie schuldig. Ich hatte ihnen erzählt, dass er der Anführer der Seablite-Gang war. Was, wenn die beiden Surfs daraufhin die Meereswache gerufen hatten, um die Belohnung zu kassieren?

Auf der anderen Seite des Bohrschachtes kümmerte sich ein Gardist gerade um den Pfeil in Shades Bein. Nachdem er das Hosenbein des Outlaws aufgeschnitten hatte, ließ er den ausfaltbaren Widerhaken zurück in die Spitze des Pfeils schnappen und zog den Schaft aus Shades Oberschenkel. Blut quoll aus der Wunde, bis der Gardist sie mit Kunsthaut besprühte. Damit konnte zwar die Blutung vorläufig gestoppt werden, gegen die Schmerzen half diese Maßnahme jedoch nicht.

Mit zusammengebissenen Zähnen zog sich Shade auf die Knie, stand dann auf und lehnte sich gegen das Geländer. Die Menge schrie und klatschte Beifall, doch Shade reagierte nicht darauf. Als die Gardisten ihm Handschellen anlegten, überflog er mit wütendem Blick die Menge. Offensichtlich ging auch er davon aus, dass ihn jemand verraten hatte.

Plötzlich meldete sich Fife zu Wort. »Es gibt keine Verordnung gegen Faustkämpfe auf dem offenen Meer«, rief er und stürmte auf die Gardisten zu. »Rip Tide mag zwar fest verankert sein, aber es liegt vor der Küste und ist komplett von Wasser umgeben. Das ist offiziell bestätigt.«

Kommandantin Revas trat ihm auf halbem Weg entgegen. »Die Bundesgesetze sind allgemeingültig, Bürgermeister. Hier geht es nicht um irgendeine Verordnung, sondern darum, dass einem Flüchtling kein Unterschlupf gewährt werden darf. Und jetzt wollen Sie mir wohl auch noch weismachen, Sie hätten nicht gewusst, dass ein Kopfgeld auf diesen Mann ausgesetzt ist?«

Sofort nahm Fifes Stimme einen versöhnlicheren Klang an. »Ich bin äußerst schockiert, das zu erfahren.« Er steckte die Hand in seine Robe. »Doch ich frage Sie, Kommandantin, was macht es für einen Unterschied, ob sie ihn jetzt festnehmen oder erst nach dem Kampf?«

Ich stand nah genug, um zu sehen, dass Fife ihr bei diesen Worten einen dicken Stapel Geldscheine hinhielt.

Mit einem Fingerschnippen rief Revas zwei Gardisten heran. »Nehmt ihn fest«, sie deutete auf Fife, »wegen versuchter Bestechung eines Offiziers der Meereswache.«

»Was … das?« Fife wedelte mit dem Geld vor sich herum. »Ich wollte mir nur etwas Abkühlung verschaffen. Doch da es Ihnen offensichtlich einen falschen Eindruck vermittelt, Kommandantin, stecke ich es gleich wieder weg.«

Revas sagte kein Wort, bis Fife das Geld zurück in die Robe gestopft hatte, dann sprach sie weiter. »Rip Tide hat eine Gefängniszelle.« Es war eher eine Feststellung als eine Frage.

»Ja, auf der untersten Ebene. Aber warum nehmen Sie ihn nicht gleich mit?«

»Weil wir über Nacht hierbleiben werden.« Sie sah Fife unverwandt an, damit er es gar nicht erst wagte, ihr zu widersprechen.

»Das ist mir eine große Ehre. Sie sollten jedoch wissen, dass wir nur auf Deck vier Zimmer vermieten, und die sind leider alle belegt.«

»Ich bin nicht hier, um zu schlafen.«

Mit einem Achselzucken zog Fife einen Schlüsselring aus der Tasche. »Sie haben doch aber nicht vor, allen Dingen, die Spaß machen, einen Riegel vorzuschieben, oder, Kommandantin?« Er löste einen Schlüssel vom Bund und reichte ihn Revas.

»Beschränken Sie sich auf legale Aktivitäten, dann müssen Sie so etwas nicht fragen.«

Kaum war sie auf dem Weg zu den Gardisten, die Shade festhielten, ließ Fife seine freundliche Fassade fallen. »Und ich dachte, ich sorge hier für die Showeinlagen.«

Kommandantin Revas stieß Shade vor sich her und verschwand im hintersten Treppenaufgang.

»Abgesehen von der Uniform ist sie wirklich bezaubernd«, schwärmte Eel.

»Sie hat gerade Shade verhaftet!« Kales Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Wut.

Eel zuckte die Schultern. »Ich habe nicht gesagt, dass sie perfekt ist.«

»Alle Einnahmen verloren«, murmelte Fife, während er den Blick über die oberen Ebenen schweifen ließ.

»Ein Sekundant kann an seiner Stelle kämpfen!«, rief jemand in die Stille hinein.

Ich sah mich um und entdeckte, dass Abgeordneter Tupper mit dieser Idee herausgerückt war. Jetzt duckte er sich mit seinem weiß eingecremten Schädel, als wünschte er, er hätte nicht die ganze Aufmerksamkeit auf sich gelenkt.

Fife klatschte vor Begeisterung in die Hände. »Also, das nenne ich Mitdenken.« Er stieg auf das Podest des Ringsprechers und schnappte sich das Mikrofon. »Shades Sekundant wird der neue Herausforderer«, verkündete er und lief zur Seablite-Gang hinüber.

»Okay, wer von euch steigt für Shade in den Ring?«

Ich hielt den Atem an. Einer von ihnen musste sich freiwillig als Herausforderer melden. Und was noch wichtiger war, derjenige musste gewinnen. Levee würde mir nur erzählen, was er über die Drift wusste, wenn er bei seiner Wette ordentlich Geld kassierte.

»Kommt schon, Jungs«, drängte Fife. »Ich weiß, dass Shade das Geld braucht.«

»Er brauchte es, um sich freizukaufen«, erwiderte Eel trotzig. »Macht nicht viel Sinn, es sich jetzt noch zu verdienen, oder?«

Ich blickte von Outlaw zu Outlaw, und als ich ihre widerwilligen Mienen sah, schwand meine Hoffnung.

Fife brauchte offensichtlich etwas länger, um das zu kapieren. »Hatchet, ich habe dich schon in so vielen Schlägereien gesehen.«

»Das mach ich doch nur aus Spaß«, höhnte er, »nicht für Geld.« Als wäre das etwas, worauf man stolz sein konnte.

»Pretty, was ist mit dir?«, fragte Fife. Doch nach einem Blick auf Prettys nicht besonders netten Gesichtsausdruck wandte er sich schnell an den Rest der Gang. »Jungs, helft einem Kumpel aus der Klemme.«

Was hatte Levee gesagt? Dass nur Surfs verbittert genug waren, um in diesen Ring zu steigen. Doch damit lag er falsch.

»Nun kommt schon«, ließ Fife nicht locker. »Wer von euch macht es?«

Bevor ich mir darüber klar werden konnte, wie irrsinnig das Ganze war, trat ich vor. »Ich!«