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»So etwas wie Geister gibt es nicht«, versicherte ich ihr.

Doch Gemma starrte weiter auf das phosphoreszierende Wasser, als würde es gleich aufwallen und sie mit sich in die Tiefe reißen. »Du hast auch behauptet, dass so etwas wie die Dunkle Gabe nicht existiert«, erinnerte sie mich.

»Ja, aber diesmal geht es mir nicht darum, etwas zu verbergen. Sieh dir das an!«

Das unheimliche Licht breitete sich in alle Richtungen bis zum Horizont aus. Das Meer schien in purem Weiß zu glühen wie geschmolzenes Metall. Erschüttert von diesem Anblick trat Gemma zurück.

»Das ist ein verdammt großer Geist«, stichelte ich.

Sie warf mir einen bitterbösen Blick zu. »Geister sind ebenso real wie Dunkle Gaben. Ich habe sie gesehen.«

»Sie?«, fragte ich, ohne eine Miene zu verziehen. »Meinst du verschiedene Geister an verschiedenen Tagen oder eine ganze Horde auf einmal, die wie ein Makrelenschwarm umherhuscht?«

Sie verschränkte die Arme. Wenigstens sah sie nicht mehr so verängstigt aus, dafür aber verärgert.

»Okay, du hast Geister gesehen. Plural«, lenkte ich ein, während ich mich am Rand des Anlegerings niederließ. »Aber das«, ich tauchte meinen Stiefel ins Wasser, wodurch an dieser Stelle ein silbriger Glanz und ein bläuliches Funkeln entstanden, »ist absolut natürlich.« Ich warf ihr einen kurzen Blick zu und sah, dass sie sich etwas entspannte. »Wir können uns glücklich schätzen, dass wir es überhaupt zu Gesicht bekommen«, fuhr ich fort. »Das passiert nicht sehr oft.«

Sie streifte die Sandalen ab. »Und wenn es passiert, ist dann normalerweise ein Schiff mit Toten in der Nähe?«, fragte sie und setzte sich neben mich.

»Normalerweise nicht.« Ich war froh, dass sie ihren Sinn für Humor wiedergefunden hatte.

Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander. Zu dem Meeresleuchten kam noch eine sanfte Brise und es wäre der perfekte Moment gewesen, sie zu küssen … wenn das letzte Mal nicht so schiefgelaufen wäre. Obwohl sie es bestritt, hegte ich sogar den Verdacht, dass unser zweiter Kuss die erste unterseeische Panikattacke bei ihr ausgelöst oder zumindest einen Teil dazu beigetragen hatte. Wir wollten damals mit unseren Harpunen aus dem Kreuzer steigen und auf die Jagd nach einem Abendessen gehen, als ich sie davon abgehalten hatte, ihren Helm aufzusetzen. Es war nicht einmal ein richtiger Kuss gewesen. Ich hatte nur kurz meine Lippen auf ihre gedrückt, um ihre Reaktion zu testen. Denn seit sie bei uns eingezogen war, hatte ich sie höchstens mal umarmt. Sie hatte danach gelächelt – und sogar meine Hand genommen, als wir ins Meer getaucht waren. Doch nur zwei Minuten später hatte sie sich schreckensbleich von mir abgewandt und mich sogar weggeschoben. Dann hatte sie begonnen zu schwitzen und zu zittern und sich hektisch ins U-Boot zurückgezogen.

Als ich kurz darauf hinterhergeklettert kam, lag sie zu einem Knäuel zusammengerollt da und weigerte sich den gesamten Rückweg zur Siedlung, auch nur ein Wort mit mir zu reden. Zunächst war mir gar nicht in den Sinn gekommen, dass mein Kuss sie so verschreckt haben könnte. Erst nachdem ich vergeblich auf irgendein Zeichen von ihr gewartet hatte, eine Aufmunterung, es noch einmal zu versuchen, machte ich mir darüber Gedanken. Innerhalb nur eines Monats war sie bei uns ausgezogen.

Ich vermisste ihre Anwesenheit bei uns zu Hause. Ich vermisste es, mit ihr gemeinsam das Meer zu erkunden. Ich vermisste sie. Das würde ich natürlich niemals laut aussprechen. Allein bei dem Gedanken daran, jetzt damit herauszurücken, wurde mir heiß und meine Wangen begannen zu glühen. Schnell senkte ich den Kopf, damit Gemma nichts merkte. Schließlich war sie diejenige gewesen, die festgestellt hatte, dass ich in bestimmten Situationen nicht wie andere Leute rot werde, sondern zu »leuchten« beginne – was natürlich übertrieben war. Meine Haut hellte sich nur ein wenig auf, das war alles.

»Überirdisch«, sagte sie und bewunderte das Wasser. »Es sieht so aus, als hätte der ganze Ozean einen Schein.«

»Das sind Bakterien.«

Sie rümpfte die Nase, als hätte ich gerade alles ruiniert.

»Es ist sehr selten, so viele auf einen Haufen zu sehen«, sagte ich und hoffte, sie würde den Anblick weiterhin genießen. »Nur wenn sich eine bestimmte Mischung aus öligem Schwimmschlamm an der Wasseroberfläche bildet, vermehren sich die Bakterien.«

»Können wir uns das fantastische Schauspiel nicht einfach nur ansehen, ohne irgendwelche Erklärungen?«

Ich nickte und begriff, dass es tatsächlich ein guter Moment wäre, ihr zu erklären, wie sehr ich sie vermisste … Doch ich war sicher, dass ich am Ende nur etwas Dummes sagen würde, deshalb wollte ich lieber meinen Mund halten.

Ich war fast dankbar, als mein Vater mich zu sich rief, damit ich bei der Bergung des Townships half.

Als wir die Nomad endlich festgezurrt hatten, machten sich meine Eltern in einem U-Boot auf den Weg nach Hause, während ich zum Kreuzer zurückkehrte. Doch ohne mich von Gemma zu verabschieden, konnte ich die Handelsstation nicht verlassen. Ich fand sie am Eingang zur Lounge, die eigentlich nur ein Umkleideraum auf dem Oberdeck war.

Einen großen Teil des Tages war Gemma mit mir im U-Boot unterwegs gewesen und hatte nicht im Geringsten beunruhigt gewirkt. Okay, U-Boote waren auch nicht das Problem. Das Problem war das Tauchen. Aber ich gab die Hoffnung nicht auf, dass sich das eines Tages wieder ändern würde.

»Möchtest du heute Abend mit mir zurück nach Hause kommen?«, fragte ich und tat so, als sei das keine große Sache.

Die Frage machte sie nervös. »Das würde ich gern. Wirklich. Aber es ist besser, wenn ich hierbleibe.«

»Wieso?«, fragte ich. »Weil du nicht mehr im Meer schwimmen willst? Das muss aber doch lange nicht heißen, dass du nicht mehr bei uns wohnen kannst.«

»Dein Haus ist im Meer. Das macht die Sache irgendwie schwierig.«

»Aber dich nachts hier zu verkriechen und auf einer Bank zu schlafen, ist einfach?« Ich bemühte mich nicht, meine Vorbehalte zu verbergen.

»Komm mit.« Sie zog mich in die Lounge. »Ich habe seit Wochen nicht mehr auf einer Bank geschlafen.« Sie holte eine Kette hervor, die um ihren Hals hing – mir war gar nicht aufgefallen, dass sie eine Kette trug. Daran baumelte ein Schlüssel, den sie nun benutzte, um eine schmale Tür an der Hinterseite der Lounge zu öffnen, die mir ebenfalls noch nie aufgefallen war.

»Erinnerst du dich an Mel, die Barkeeperin aus dem Saloon? Sie wollte mir ein Zimmer auf dem Deck besorgen, wo das Personal untergebracht ist. Aber das befindet sich im unteren Teil der Station und, na ja, ich wollte lieber hier oben bleiben. Also hat sie ein Bett für mich aufgetrieben und mir einen Schlüssel hierfür gegeben …« Sie zog die Tür auf, als würde sie mir einen Schatz offenbaren.

Ich blickte in eine Abstellkammer. Gemma war völlig begeistert von dem winzigen Raum, in den eine Liege hineingezwängt worden war, die fast den gesamten Raum einnahm. Ihre Reisetasche beanspruchte den Rest des Platzes.

Ich erinnerte mich an Mel, die Barkeeperin mit dem kahl rasierten Schädel. Sie hatte mich verteidigt, als ich mich mit der Seablite-Gang angelegt hatte. Ich war nicht überrascht zu hören, dass sie jetzt auf Gemma aufpasste.

»Ich habe dir das nicht eher gezeigt, weil ich nicht wusste, ob ich bleiben kann«, erklärte sie.

»Und jetzt weißt du es?«, brachte ich es fertig zu fragen, obwohl mein Mund ganz trocken war.

»Mel sagt, dass niemand diese Kammer benutzt und ich sie als mein Reich betrachten darf.«

Es wunderte mich nicht, dass Gemma großen Gefallen daran fand, den Ausdruck »mein Reich« zu benutzen. Sie war als Waise auf dem Festland aufgewachsen, als Schutzbefohlene des Staatenbundes in einem Internat. Sie war immer wieder umgezogen, wenn es in irgendeinem Schlafsaal ein freies Bett gegeben hatte, egal ob die anderen Mädchen in ihrem Alter waren oder nicht. Es hatte nicht einmal ein winziges Eckchen gegeben, das sie hätte ihr Eigen nennen können, geschweige denn eine ganze Kammer.

Sie zeigte auf eine kleine Luke, von der aus man auf den Anlegering sehen konnte. »Es gibt sogar ein Fenster.«

Die ganze Zeit über hatte sie mir erzählt, dass das Leben auf der Handelsstation gar nicht mal so schlecht war. Dass sie gern an den Wochenenden auf dem Fischmarkt arbeitete und Besorgungen für die Händler erledigte. Ich dachte, sie hätte das Ganze ein wenig beschönigt, damit sich meine Eltern keine Sorgen machten. Jetzt begriff ich, dass ich mich in ihr getäuscht hatte. Dass ich ganz und gar falsch gelegen hatte. Sie wohnte gern in einer Abstellkammer. Sie arbeitete gern für die Fischverkäufer in der glühend heißen Sonne. Vermutlich war sie sogar gern von den kaufwütigen Horden umgeben. Die vielen Menschen störten sie nicht. Nicht einmal, wenn sie feilschten und schrien und stanken wie heiße, tote Fische. Sie würde nie zurückkommen und wieder bei uns wohnen. Nicht einmal, wenn sie ihre Angst vor dem Schwimmen im Meer überwunden hätte.

Sie betrachtete mich, um die Gedanken zu erraten, die mir gerade durch den Kopf gingen. Das beherrschte sie gut. Sie konnte mit einer verblüffenden Genauigkeit in den Menschen lesen wie in einem offenen Buch. Eine Gabe, die ich nicht besaß.

»Dann hast du wohl alles, was du brauchst«, sagte ich.

»Nicht alles.«

Sie hielt inne, doch ich sagte nichts. Was gab es auch noch zu sagen?

»Ich vermisse es, Teil deiner Familie zu sein.«

Ich nickte nur, weil ich meiner Stimme nicht traute. Sie hatte nicht gesagt, dass sie es vermisste, mit mir zusammen zu sein. »Du wirst immer Teil unserer Familie sein«, murmelte ich schließlich. »Egal, wo du bist.«

Sie schenkte mir ein breites und warmes Lächeln, doch ich fühlte mich dadurch nur noch schlechter.

»Na dann.« Ich wandte mich zum Gehen. »Ich muss jetzt los.«

»Ty, warte!«, rief sie mir nach.

Doch ich war schon zur Tür hinaus. Das Meer hatte seinen Schein verloren, was mir ganz passend schien. Am Anlegering holte sie mich ein.

Genau in dem Moment kletterte Jibby an einer der Leitern vom Promenadendeck herunter. »Oh, schön«, sagte er, als er Gemma entdeckte. »Ich dachte, du wärst mit John und Carolyn schon nach Hause gefahren.«

»Nein«, sagte sie, ohne jedoch zu erwähnen, dass sie jetzt dauerhaft hier wohnte.

»Ich habe mich gerade gefragt …« Er sah mich schuldbewusst an.

»Du kannst sie fragen, was du willst«, sagte ich zu ihm. »Es geht mich nichts an.«

In seinem Gesicht machte sich Erleichterung breit, während ihre Miene finster wurde.

»Möchtest du deinen Bruder sehen?«, platzte Jibby heraus.

Unter allen Fragen, die ich von ihm erwartete hatte – einen weiteren Heiratsantrag inbegriffen –, war diese nicht dabei gewesen. Gemma wirkte genauso überrascht, wie ich es war.

»Ich habe zwei Tickets für den Boxkampf in Rip Tide morgen Nacht.« Er hielt einen Flyer aus synthetischem Papier in die Höhe. »Hab ich bei einem Pokerspiel gewonnen. Und dann habe ich gesehen, wer kämpft.«

»Richard?«, fragte sie erstaunt.

»Ja, also Shade«, erwiderte Jibby. Das war der Name, den Gemmas Bruder benutzte, seit er ein Gesetzloser und der Anführer der berüchtigten Seablite-Gang war.

»Woher willst du wissen, dass es wirklich Shade ist?«, fragte ich.

Jibby winkte uns zu einem der Lichter, die über uns am Rand des Promenadendecks angebracht waren. »Es gibt niemand anders, der so aussieht«, sagte er und reichte Gemma das Blatt.

Sie stellte sich ins Licht, betrachtete den Flyer eingehend und lächelte. Dann zeigte sie mir das Bild der beiden Boxer. Einer der abgebildeten Männer war ihr Bruder, darin bestand kein Zweifel. Jedenfalls war es seine dunkelhäutige und tätowierte Erscheinung. Was der Flyer nicht verriet, war, dass Shade eine Dunkle Gabe besaß, die es ihm ermöglichte, die Farbe seiner Haut zu verändern wie ein Tintenfisch.

»Was ist Rip Tide?«, fragte Gemma, während sie die Ankündigung las.

»Eine Stadt südlich von hier vor der Küste«, sagte Jibby. »Ist vergleichbar mit unserer Handelsstation, nur dass sie von Surfs bevölkert wird.«

»Klingt großartig«, sagte sie in Gedanken versunken, während ihr Blick auf Shade gerichtet war. »Kann ich den Flyer behalten?«

Die große Sehnsucht nach ihrem Bruder hatte mir Sorgen bereitet. Sie hatte seit Monaten nichts von ihm gehört. Um genau zu sein, seit er mit seiner Gang abgehauen war, nachdem er ein paar von uns – Gemma eingeschlossen – in der unteren Station zurückgelassen hatte. Kurz danach hatte dieser Teil sich vom Oberdeck gelöst und war gesunken. Fairerweise musste man sagen, dass Shade nicht gewusst hatte, dass die untere Station leckgeschlagen war. Uns in eine Falle zu locken und ohne Fahrzeuge oder Liquigen zurückzulassen, war dennoch nur ein weiterer Punkt auf der langen Liste seiner gefährlichen Aktionen, die auch den Überfall auf das Haus unserer Nachbarn mit einschloss. Er war rücksichtslos, bedrohlich und rachsüchtig – warum sollte jemand ihn vermissen? Aber sie tat es eindeutig.

»Klar, behalt den Flyer«, sagte Jibby. »Heißt das, dass du hingehen willst?« Als sie ihm nicht gleich antwortete, fügte er hinzu: »Wir könnten Shade eine Nachricht zukommen lassen. Damit er weiß, dass du am Ring sein wirst.«

Nachdem sie bei der bloßen Erwähnung ihres Bruders förmlich aufgeblüht war, verstand ich nicht, warum sie jetzt zögerte. Dann bemerkte ich, dass sie ihren Blick auf mich gerichtet hatte. Dachte sie, ich würde sie verurteilen, weil sie Shade wiedersehen wollte? Nur weil ich ihn oder seine Gang nicht ausstehen konnte, bedeutete das noch lange nicht …

»Das würde ich sehr gern, Jibby«, sagte sie plötzlich. »Ich möchte Richard wiedersehen. Ich meine Shade«, korrigierte sie sich.

Ich machte mich auf den Weg zum Kreuzer, ich wollte auf der Stelle im Meer verschwinden. Während ich die Halteleine löste, trafen sie ihre Verabredung. Eine Minute später lief Jibby zu seinem U-Boot und ich wurde das Gefühl nicht los, dass sein Schritt besonders beschwingt war.

Gemma trat zu mir an die Anlegestelle. Es war an der Zeit, Gute Nacht zu sagen, doch der Gedanke, sie hier allein zurückzulassen, war so schmerzhaft wie Salzwasser in einer Schnittwunde. »Bist du sicher, dass du die Nacht nicht bei uns verbringen möchtest? Zoe vermisst dich mehr, als du dir vorstellen kannst.«

Als sie zögerte, ergriff ich noch einmal die Gelegenheit. Ich zeigte auf das herrenlose Township, das mit jeder Woge gegen den Anlegering stieß. »Ich mache mir einfach Sorgen um dich, wenn du hier übernachtest, während eine Geisterstadt direkt neben deinem Fenster festgemacht ist …«