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Ratter ließ mich nicht aus den Augen und spuckte ein Stück Kaugras aus, wobei grüner Speichel über sein unrasiertes Kinn lief. »Du bist doch dieser Pionier-Junge, der denkt, dass er Anspruch auf die Nomad hat.«

»Es freut mich auch, Sie zu sehen.« Ich hielt die Eintrittskarten hoch. Ich wollte mich auf keinen Fall von ihm einschüchtern lassen oder meine Zeit damit verschwenden, ihn über die Bergungsrechte aufzuklären.

Er beachtete die Tickets nicht, sondern musterte mich von oben bis unten. »Irgendetwas stimmt nicht mit dir.«

»Wie bitte?«

»Deine Haut sieht eigenartig aus«, stellte er fest. »Wir lassen keine Kranken nach Rip Tide. Befehl des Bürgermeisters.« Mit diesen Worten holte er ein Stück trockenes Seegras aus der Tasche seines Gehrocks.

»Ihm geht es gut.« Gemma riss mir die Eintrittskarten aus der Hand und hielt sie Ratter hin. »Er ist jedenfalls gesünder als Sie.«

Ratter steckte sich das Gras in den Mund und kaute darauf herum, als würde er angestrengt nachdenken. Schließlich sagte er: »Kein Zutritt für Minderjährige ohne erwachsene Begleitung.« Er musste seine grauen Zellen wirklich angestrengt haben, um darauf zu kommen.

»Wir sind mit Erwachsenen hier«, konterte Gemma. Sie deutete auf zwei Männer, die hinter uns in der Reihe standen. Sie hatten freie Oberkörper und waren von oben bis unten mit orangefarbener Zinksalbe eingeschmiert. »Wir gehen vor dem Kampf mit ihnen Mittagessen.«

Das klang für mich wie ein fairer Handel, doch einer der Fischer sagte nur: »Die kenn ich nicht.«

»Warum geht’s nicht weiter, Ratter?«, rief der Typ mit der Hakenstange, der nach und nach näher an den Rand der Klippe gerutscht war. »Ich kann noch zwei mitnehmen.«

»Ich hab hier Ärger mit so ’nem Dunklen Leben.«

Das erklärte natürlich alles. »Aha. Sie haben also was gegen Pioniere?«, fuhr ich ihn an.

»Ich habe was gegen dich«, knurrte er. »Und jetzt verschwinde, denn du wirst Rip Tide nicht betreten.«

Ich wollte dagegenhalten, doch Gemma zog mich zur Seite.

»Mädchen, du kannst weitergehen, wenn du willst.« Er lächelte und entblößte dabei seine verfaulten Zähne.

»Vielleicht …«, erwiderte Gemma und drehte sich zu mir. »Wie war noch mal der Name eures Abgeordneten?«

»Benton Tupper.« Ich ahnte, was sie vorhatte, und hielt nach ihm Ausschau. Auf der Handelsstation hätte Tuppers gelb-violett gestreiftes Hawaiihemd wie ein Leuchtfeuer aus den Tauchanzügen der Siedler und der schlichten Kleidung der Floater hervorgestochen, doch nicht in einer Seilbahngondel voller Topsider. »Da«, rief ich, als ich endlich Tuppers schmalen Kopf zwischen den anderen entdeckt hatte.

»Abgeordneter Benton Tupper!«, rief Gemma, so laut sie konnte.

Er wirbelte herum, entdeckte uns und duckte sich hinter eine große Frau, die sich mindestens zwanzig Schleier umgehängt hatte.

Gemma hielt die Hände wie einen Trichter vor den Mund. »Wir müssen in wichtigen Versammlungsangelegenheiten mit Ihnen sprechen!«

Tupper blieb, wo er war, und ich konnte es ihm nicht verdenken, denn mir wurde selbst mulmig, als sich die Leute nach uns umdrehten.

»Benton Tupper«, brüllte Gemma unbeirrt. »Abgeordneter des Benthic-Territoriums, bitte zeigen Sie sich!«

Damit hatte sie Erfolg. Tupper tauchte hinter der Frau auf und bedeutete Gemma hektisch, still zu sein. Dann bemerkte er, dass wirklich jeder in der Warteschlange und in der Gondel ihn anstarrte. Ihm wurde bewusst, dass er sich in einer ausweglosen Situation befand und er winkte uns schwach zu.

Gemma schlenderte zu Ratter hinüber, der mich anstarrte, als sei ich ein verseuchtes Nagetier. »Das ist Tys Onkel Benton«, rief Gemma fröhlich. »Er ist Abgeordneter in der Versammlung und sehr wichtig.«

Missmutig bedeutete uns Ratter mit einem Kopfnicken, dass wir einsteigen durften.

Der Kerl mit dem Landungshaken rutschte einen weiteren Schritt vorwärts und zwischen dem Rand der Klippe und der Gondel entstand eine Lücke. Gemma zögerte und schielte nach unten, doch der Mann schubste sie einfach an Bord. Sowie ich ihr gefolgt war, warf er die Tür hinter uns zu, löste den Haken und setzte die Gondel mit einem Hebel in Bewegung.

Wir segelten durch die Luft und rauschten mit halsbrecherischer Geschwindigkeit an dem Stahlseil entlang. Tupper warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, doch das war mir egal. »Danke«, sagte ich zu Gemma, die sich vorbeugte, um nach unten zu sehen. Offensichtlich gefiel ihr nicht, was sie sah, denn sie zuckte sofort wieder zurück.

»Du bist John Townsons Junge«, bemerkte Tupper. »Das erste Kind, das im Benthic-Territorium geboren wurde, nicht wahr?«

Ich nickte, obwohl ich nicht nur das erste Kind war, das im Benthic-Territorium geboren wurde, sondern sogar der erste Mensch, der jemals unterseeisch zur Welt gekommen war. »Mein Name ist Ty«, sagte ich. »Ich werde niemandem erzählen, dass ich Sie hier gesehen habe.«

Tupper winkte bei meinem Versprechen ab und entspannte sich. »Was ist schon dabei, wenn ich gelegentlich bei Boxkämpfen zuschaue? Meine Kollegen sind viel zu konservativ und wissen gar nicht, was sie verpassen. Ein paar Surfs gehen aufeinander los – es gibt keine Regeln. Das nenne ich Nervenkitzel. Da kommen nicht mal Hundekämpfe ran.«

Überrascht zog ich die Augenbrauen hoch. Da lernte ich ja eine ganz neue Seite unseres Abgeordneten kennen.

»Ich habe das von deinen Eltern gehört«, meinte Tupper unvermittelt.

»Tatsächlich?« Neuigkeiten verbreiteten sich schnell. Ich fragte mich, ob Kommandantin Revas ihn darüber informiert hatte.

»Ja, eine ganz üble Sache, dieses … Leuteentführen.« Er schüttelte den Kopf, als sei er bestürzt über die schlechten Manieren der Surfs.

»Können Sie mir helfen, sie zurückzuholen?«

»Ich?«

»Ja! Sie könnten der Meereswache befehlen, mehr Skimmer auf die Suche nach ihnen zu schicken.«

Tupper lächelte schief. »Du redest wie ein wahrer Pionier.«

»Was soll das heißen?«

»Dass ich nicht erwarte, dass du auch nur die geringste Ahnung hast, welche Befugnisse ich habe, in die Befehlskette des Staatenbundes einzugreifen. Die Antwort lautet nämlich: gar keine. Aber sei unbesorgt, die Meereswache wird sie zurückholen. So wie immer.«

So wie immer? Bevor ich weiter nachhaken konnte, was er damit meinte, ergriff Gemma so fest meine Hand, dass ich zusammenzuckte. Ich lehnte mich aus der Gondel und sah die Ölplattform schnell näher kommen. Der ursprüngliche Bohrturm diente jetzt als Leuchtturm. Gleich daneben ragte ein Kran in die Höhe, der fast ebenso hoch war. Auf jeder Ebene wimmelte es nur so von Menschen, das war gut zu erkennen, weil jedes Deck nur von einer halbhohen Brüstung umgeben war. Auf der fünften Ebene klaffte eine breite Öffnung, die als Anlegestelle diente, und wir rasten direkt darauf zu.

»Oh, nur die Ruhe«, sagte Tupper zu Gemma. »Selbst wenn das Seil reißt, würde dich der Absturz nicht töten. Na ja«, berichtigte er sich, »wenn man gegen die Felsen schlägt, dann schon, aber es hat keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.«

Gemma erwiderte nichts darauf. Vielleicht bemerkte sie nicht einmal, dass er mit ihr sprach, denn sie hatte das Tuch vom Kopf gezogen und hielt es sich vor die Augen.

Mit einem dumpfen Geräusch krachte der Seilbahnwagen in den gepolsterten Durchlass. Während alle Insassen gleichzeitig nach vorn taumelten, fing ein anderer Mann die Gondel mit einem Landungshaken auf und wurde etliche Schritte mitgeschleppt, bevor sie endlich zum Stehen kam.

»Raus mit euch!«, rief er. »Und nicht stolpern, sonst endet ihr noch als Matratze für den Nächsten, der hinfällt.« Ich spähte über den Rand und sah, dass die Gondel ein ganzes Stück über dem Stahldeck schwebte. »Nun springt schon!«, schrie er. »Ich kann die Gondel nicht länger als ’ne Minute halten.«

Die Türen am hinteren Ende des Seilbahnwagens wurden aufgestoßen und die Leute kletterten heraus. Die Festlandbewohner lachten und schnatterten, als seien die Überfahrt und das Abspringen Teil des Vergnügens. Ich vermutete, dass die Laufbänder und Pendelzüge in ihren Städten keine besonders große Herausforderung für sie darstellten.

Wir stiegen zuletzt aus. Der Mann mit dem Haken drehte die Gondel um einen Stützbalken, hielt sie auf der anderen Seite aber noch fest, denn dort warteten die nächsten Passagiere – darunter ein paar Surfs, aber hauptsächlich Einheimische, die nicht besonders gut gelaunt wirkten.

»Wer keine Eintrittskarte für den Kampf hat, muss Rip Tide vor dem nächsten Gong verlassen«, rief der Mann mit dem Landungshaken. »Oder er geht mit einem Platscher.«

Ein Murren ging durch die Menge, als die Wartenden auf den Aufsitzblock kletterten und sich in die Seilbahnkabine zogen. Doch niemand protestierte lautstark dagegen, dass er gezwungen wurde, die Stadt zu verlassen.

Ein Surf, der nicht viel älter war als ich, wurde von seinen Freunden mitsamt Krücken in die Gondel gehievt. Er trug eine Hose, die an einem Bein über dem Knie abgeschnitten war – nur, dass dort kein Knie war, sondern der Stumpf des linken Beines hervorschaute. Er war nicht so auf die Welt gekommen. Sein Bein war amputiert worden … von etwas mit scharfen Zähnen.

Von dem Mann mit dem Landungshaken erfuhr ich, dass ich auf dem Sonnendeck nach Fife suchen sollte. Fife war sowohl Bürgermeister von Rip Tide als auch der offizielle Repräsentant der Surfgemeinschaft innerhalb des Staatenbundes und damit zuständig für die Verteilung der Rationen der Regierung an die Surfbevölkerung. Wahrscheinlich hatte er den Repräsentanten-Job nur bekommen, weil Rip Tide vor der Küste lag und somit die Townships von den Häfen des Festlandes ferngehalten werden konnten.

Gemma und ich verließen die Landungsstelle der Seilbahn und tauchten in den schier endlosen Strom aus flatternden Kaftanen und Schleiern ein. Ich kontrollierte, ob mein Hut weit genug heruntergezogen war und mein Halstuch den Nacken bedeckte. Es war nervenaufreibend, eine Stadt voller Surfs zu betreten, die uns unterseeische Siedler nicht leiden konnten, uns vielleicht sogar hassten. Ich musste gut getarnt bleiben.

Ein riesiges Loch klaffte in der Mitte der Plattform, durchgehend auf allen sieben Ebenen, was nicht weiter verwunderlich war, denn es hatte einst als Bohrschacht gedient. Jetzt war es auf jeder Ebene von breiten Stegen umgeben, auf denen es sehr geschäftig zuging. Rip Tide war keine hermetisch abgeriegelte Schachtelstadt. Zwischen den einzelnen Decks waren Geschäfte, Kneipen, Spielhallen und Wohnungen errichtet worden. Doch die Laufstege waren ständig der Witterung ausgesetzt, sodass jeder Zentimeter der alten Ölplattform verschlammt, verrostet, vermodert und feucht war.

Abgesehen von einem Abstecher in eine Schachtelstadt, als ich neun Jahre alt war, war Rip Tide die größte Stadt, die ich je betreten hatte. Ich war absolut überwältigt, aber auch neugierig bei dem Anblick, der sich mir bot. Doch mir blieb keine Zeit, mich irgendwelchen Gefühlen hinzugeben. Ich musste Fife finden, und das stellte sich als keine leichte Aufgabe heraus, zumindest nicht, solange Rip Tide vor lauter lärmenden und drängelnden Boxfans fast aus allen Nähten platzte. Hunderte von Füßen stampften über die Metalldecks und Rufe und Gelächter hallten von den Wänden wider. Die erdrückende Hitze machte alles nur noch schlimmer.

»Was hast du denn?« Gemma blieb inmitten des Menschenstroms stehen und sah mich besorgt an.

Wie konnte sie hier reden? Bei all dem Gedränge und Geplapper konnte ich kaum atmen. Ich zog sie vom Steg weg in einen breiten Durchgang zu einer Leihstation, die stundenweise Mantaboards, Jetskis und andere kleine Wasserfahrzeuge vermietete. »Gib mir eine Minute.«

»Oh, richtig.« Jetzt verstand sie mich. »Die vielen Menschen.«

Ich brauchte Zeit, um mich zu akklimatisieren und hatte das dringende Bedürfnis, einmal tief durchzuatmen. Ich nahm mein Halstuch ab und wischte mir damit den Schweiß vom Gesicht. Kaltes Meerwasser hätte sich natürlich besser angefühlt.

»Wenn wir uns erst weit genug von der Anlegestelle entfernt haben, sollte es nicht mehr so voll sein«, versicherte sie mir.

»Okay, du gehst vor.« Ich winkte sie vorwärts und wünschte mir, ich würde am Rand des Coldsleep Canyons stehen und hätte nichts als Walgesang in den Ohren.

»Gib mir einfach Bescheid, wenn du noch eine Pause brauchst«, sagte sie lächelnd. Dann lief sie los, drängte sich mühelos durch das Menschengewühl und zwang mich, mit ihr Schritt zu halten, wenn ich nicht riskieren wollte, sie zu verlieren. Ich heftete mich an ihre Fersen und versuchte, das Gedränge zu ignorieren, bis mein Blick an einem ziemlich tough wirkenden Mädchen hängen blieb, das sich an uns vorbeischob. Auf seinem freien Oberkörper war ein großer Halbkreis aus Narben zu sehen.

Gemma ließ sich zurückfallen und lief neben mir weiter. »Diese Narben stammen doch von einem Biss, oder?«

»Ganz bestimmt«, bestätigte ich. Ich wollte schneller gehen und mir die Haut des Mädchens genauer ansehen, aber ich schätzte, das würde unhöflich erscheinen. Ich hatte schon oft Bisse von Haien an Fischen, Delfinen und sogar Menschen gesehen, toten und lebendigen. Anhand der Zahnabdrücke und der Breite des Mauls konnte ich normalerweise nicht nur feststellen, welche Haiart zugebissen hatte, sondern auch die Größe des Tiers abschätzen. Doch an der Narbe des Mädchens, die ich nur kurz gesehen hatte, kam mir irgendetwas seltsam vor.

Gemma stieß mich an. »Du hast gesagt, Haie greifen Menschen nur selten an.«

»Aber ich habe nicht nie gesagt.«

»Okay, aber hast du mitbekommen, dass es hier einige Leute gibt, denen irgendwelche Teile ihres Körpers fehlen? Das ist auf jeden Fall mehr als ›nur selten‹.«

»Ja, das ist mir aufgefallen«, gab ich zu.

»Und weißt du, was ich noch merkwürdig finde? Sie scheinen mit ihren Verletzungen angeben zu wollen. Als wären sie stolz darauf, von einem Hai gebissen worden zu sein.«

Darüber hatte ich noch nicht nachgedacht. Doch nachdem sie ihre Vermutung geäußert hatte, konnte ich mir gut vorstellen, dass sie damit richtig lag. Die Surfs schienen sich so zu kleiden, dass ihre Narben gut zur Geltung kamen. Ich zuckte die Schultern, denn ich war darüber genauso verwirrt wie sie.

Vor uns war über einem Treppenaufgang ein Schild angebracht. HEUTE: SURFS NUR AUF DEM SONNENDECK ERWÜNSCHT.

»Was soll das denn heißen?«, fragte ich Gemma. »Dass sie nirgendwo sonst in Rip Tide hindürfen?«

»Keine Ahnung.« Sie winkte mich zur Treppe. »Geh du schon mal hoch. Ich versuche herauszufinden, wo sich die Boxer vor dem Kampf aufhalten.«

»Ich denke, wir sollten uns lieber nicht trennen«, sagte ich und versuchte, nicht gleich in Panik auszubrechen. »Ich finde dich doch nie wieder, in diesem …«

»Geh einfach und such auf dem Sonnendeck nach Bürgermeister Fife. Ich werde dich schon finden«, versicherte sie mir. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand aus meinem Blickfeld. In mir spürte ich Wut aufsteigen, weil Gemma mich für Shade einfach stehen ließ.

Mir blieb also nichts anderes übrig, als zur Treppe zu laufen, doch bei dem ganzen Lärm und der Hitze lagen meine Nerven blank. Allein bei dem Gedanken an das grelle Sonnenlicht, das mich auf dem Oberdeck erwartete, wurde mir schlecht und ich fühlte mich ganz wacklig auf den Beinen. Schnell schlüpfte ich in einen schattigen Winkel unter dem Treppenaufgang, um mich wieder in den Griff zu bekommen. Wenn ich dort oben wie ein nervöses Wrack aufkreuzte, würde mir der Repräsentant der Surfs sicher nicht erzählen, wo ich die Drift finden konnte.