11

Am anderen Ende des Benzintanks klatschte jemand laut in die Hände. »Das nenne ich einen Auftritt!«, sagte ein dunkelhäutiger Mann und trat in den sonnendurchfluteten Bereich vor.

Die Knöpfe an seinem langen Talar aus Leinen glänzten im Licht, und ich nahm an, dass er ein Amtsträger war, denn um die Taille trug er eine mit Fransen versehene Schärpe. Hoffentlich war das Bürgermeister Fife.

Er nahm den flachen, breitkrempigen Hut ab und deute damit in Richtung des immer noch hin- und herpendelnden Hais. »Wenn du das im Ring ablieferst, mache ich dich zum Star«, sagte er zu Shade.

»Ich habe nur einem Kampf zugestimmt.« Shades Erwiderung klang mehr wie eine Warnung als eine Erinnerung. »Und nicht einmal der scheint das Risiko wert zu sein.«

Der Mann schob Shades Bedenken beiseite. »Wenn du die Jubelrufe hörst, wirst du alles andere vergessen. Wenn du gewinnst, könntest du auf Tour gehen und einen Lastkahn voll Geld machen. Du bist absolut einzigartig und hättest auf der Stelle Fans – Fans, die zu jeder Stadt vor der Küste reisen würden, um dich kämpfen zu sehen.«

»Genau, was ich brauche«, spottete Shade, während er zerrissene Stoffstreifen von seinen Händen wickelte. »Ich im Scheinwerferlicht. Dann könnte ich auch gleich eine Zielscheibe auf dem Rücken tragen.« Er hatte sich die Fingerknöchel an der sandpapierartigen Haut des Hais blutig geschlagen. Mit finsterem Blick drehte er sich zu Pretty um. »Wer meinte, das wäre eine gute Idee?«

»Du.« Pretty tauchte einen Eimer in eine Tonne. »Und Fife«, fügte er hinzu und sah den Mann in dem Talar mit einem komischen Blick an.

Also hatte Eel nicht gelogen. Shade hatte tatsächlich nach Bürgermeister Fife rufen lassen. Ich hätte nie gedacht, dass einmal der Tag kommen würde, an dem ich dankbar wäre, ein paar Outlaws zu kennen.

Pretty setzte sich auf eine Tonne und band sein langes Haar zurück. »Ich kann immer noch nicht erkennen, was daran gut sein soll.«

»Es ist ehrliche Arbeit«, protestierte Bürgermeister Fife.

Eel lachte mit vollem Mund. »Soll das etwa ein Argument sein, Fife?«

»Hier ist Salzwasser«, sagte Pretty zu Shade und zeigte auf den Eimer.

Shade warf den letzten Stoffstreifen beiseite, tauchte die Fäuste in den Eimer und fuhr zusammen. Ich wusste, dass Segler ihre Hände in Meerwasser einweichten, um sie abzuhärten. Ich vermutete, dass das auch für einen Boxer sinnvoll war.

Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, wie Gemma mich aufmunternd näher winkte. Sie hatte Recht. Im Schatten zwischen den baumelnden Kadavern würde ich wohl kaum Antworten finden. Ich trat in den Lichtkreis, doch offensichtlich nicht schnell genug für sie. Schon hatte Gemma den Raum durchquert und blieb neben mir stehen.

»Sieh mal einer an. Wen haben wir denn da?«, rief Bürgermeister Fife. »Shade, du hast mir ja gar nichts gesagt.«

Ich schielte zu dem Gesetzlosen hinüber und fragte mich, wie er auf einen Mann mittleren Alters reagieren würde, der sich bei Gemma einschmeicheln wollte. Doch Shade schüttelte nur ungerührt das Meerwasser von den Händen.

»Wie heißt du, mein Sohn?«

Mit einem Ruck wurde mir klar, dass Fife mich gemeint hatte, nicht Gemma. Hitze kroch meinen Nacken hinauf und schoss mir ins Gesicht. »Ty«, sagte ich und wurde plötzlich misstrauisch.

»Sieh sich das einer an. Der Junge leuchtet!«, krähte Fife. »Und sieht noch dazu gut aus. Warum sind wir uns noch nicht begegnet?« Freundlich streckte er mir die Hand entgegen. »Gideon Fife. Bürgermeister der Einwohner von Rip Tide. Repräsentant der Surfgemeinschaft. Und ein meisterhafter Impresario, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet.«

Sollte ich wissen, was das bedeutete? Ich schüttelte ihm die Hand, obwohl ich mich von dem berechnenden Leuchten in seinen Augen abgestoßen fühlte.

»Und ich dachte, diese Jungs hätten einen Schein.« Fife schüttelte in gespieltem Erstaunen den Kopf. »Im Vergleich dazu sind das trübe Funzeln. Ich habe eine Idee. Mach ihn doch zu deinem Sekundanten«, rief er Shade zu.

Shade streckte sich und ließ die Schultern knacken. »Das übernehmen schon Eel und Pretty.«

»Sie glauben, die Leute interessieren sich für einen Schein, wenn sie sich einen Boxkampf ansehen wollen?«, fragte Pretty skeptisch.

»Wo ihr herkommt, ist dieses Leuchten vielleicht so gewöhnlich wie der Anblick eines Dorschs« erwiderte Fife. »Aber ich garantiere euch, dieses lächerliche Bohrinselvolk hat noch nie jemanden wie ihn gesehen. Ist nicht böse gemeint«, wandte er sich an mich, »ich versuche nur, mich meinen Boxern gegenüber anständig zu verhalten. Also tue ich alles, was die Touristen und ihr Geld anlockt. Es wird mit bloßen Fäusten gekämpft, es gibt keine Regeln … dafür ein wenig Lokalkolorit … oder, wie in diesem Fall, Lokalschein.« Seine Augen leuchteten. »Wie wäre es, Wasserjunge?«

»Sie verschwenden Ihre Zeit«, mischte sich Shade ein. »Erzählen Sie ihm einfach, was Sie über die Drift wissen.«

Die gute Laune des Bürgermeisters war augenblicklich verflogen. »Du bist der Junge, dessen Eltern entführt wurden?«

Ich nickte.

»Du hast mir nicht gesagt, dass er ein Pionier ist«, wandte sich Fife aufgebracht an Shade. »Nun, das ändert einiges.«

»Weil die Surfs die unterseeischen Pioniere hassen«, sagte ich. »Ich habe davon gehört.«

»Das bedeutet nur, dass ich nicht weiß, wie ich dir helfen kann«, erklärte er. »Auf keinen Fall werde ich mich als Mittelsmann anbieten oder Rip Tide zum Austauschplatz machen, falls diese Surfs auf Lösegeld aus sind.«

»Warum sollten sie Tys Eltern sonst entführt haben?«, fragte Gemma.

»Könnte politisch motiviert sein«, sagte Fife. »Vielleicht auch aus Rache.«

»Also, ich werde nicht darauf warten, bis die Surfs irgendeine Erklärung abgeben«, sagte ich. »Sie holen sich hier in Rip Tide immer ihre Rationen ab, richtig?« Fife nickte und ich fuhr fort: »Und wann kommen sie das nächste Mal?«

»Frühestens in zwei Wochen. Alle Townships nehmen ihre Rationen am Beginn des Monats auf.«

Mein Herz sank. »Und wissen Sie, wo die Drift jetzt sein könnte? Wo ihr Fischfanggebiet ist?«

»Keine Ahnung.« Er klang ehrlich bekümmert. »Ich entferne mich von der Küste nie weiter als bis hierher.«

»Was ist mit den anderen Surfs?«, wollte Gemma wissen. »Können Sie sich nicht erkundigen, ob jemand auf dem Weg nach Rip Tide an der Drift vorbeigekommen ist?«

»Sie betrachten mich nicht gerade als Kumpel«, sagte Fife. »Ich bin derjenige, der ihnen jeden Monat weniger geben muss, als sie eigentlich brauchen. Sie begreifen nicht, dass ich nur Befehle ausführe und an sie verteile, was mir geschickt wird.« Er seufzte tief und blickte zu Shade hinüber. »Du solltest dich langsam einölen.«

»Jetzt schon?«, beschwerte sich Eel. »Der Gestank wird mir den ganzen Appetit verderben.«

»Nichts kann deinen Appetit verderben.« Pretty hob einen zweiten Eimer hoch. Er kippte ihn leicht an und ließ etwas Öl über Shades breite Schultern laufen, womit sich Shade dann die Arme und die nackte Brust einrieb. Fischöl. Sofort war der ganze Benzintank von dem Gestank erfüllt.

Doch ich war noch nicht bereit, das Thema fallen zu lassen. »Abgeordneter Tupper sagt, die Surfs werden mit Kommandantin Revas sprechen. Stimmt das?«, fragte ich Fife.

Er schnaubte. »Die Versammlung geht davon aus, dass sie eine Kontaktperson in der Meereswache hat. Blanker Irrglaube. Offen gesagt, selbst du hättest bessere Karten, etwas aus ihnen herauszubekommen. Trotz deines Scheins, der dich sofort als unterseeischen Pionier entlarvt, und das soll schon was heißen.«

Ich hatte das bange Gefühl, dass er Recht haben könnte. Nachdem ich Kommandantin Revas an diesem Nachmittag erlebt und eine Kostprobe ihres Charmes erhalten hatte, sah ich keinen Grund, warum die Surfs unbedingt mit ihr verhandeln sollten, egal was Tupper dachte.

Genau in diesem Moment drängelte sich Ratter durch die aufgehängten Kadaver. »Tut mir leid, dass ich Sie unterbrechen muss, Boss.« Dann entdeckte er mich und machte ein finsteres Gesicht.

Gemma hob das Kinn und starrte zurück.

»Was gibt’s, Ratter?«, wollte Fife wissen.

»Da draußen stehen ein paar verärgerte Surfs. Sie wollen mit Ihnen sprechen. Soll ich mich darum kümmern?«

»Nein«, sagte Fife. »Sie haben das Recht, sich zu beschweren. Und ich bin derjenige, der dafür bezahlt wird, sich ihren Kummer anzuhören. Sag ihnen, ich komme gleich raus.«

Ich fragte mich, ob die Antwort des Bürgermeisters ohne unsere Anwesenheit anders ausgefallen wäre.

Ratter warf mir einen seiner bösen Blicke zu und ging. Er war ein stämmiger Kerl und ohne Zweifel gewalttätig, aber es war mir egal, dass er mich hasste. Meine einzige Sorge war, wie ich meine Familie wieder zusammenbringen konnte.

»Dieser Mann wollte Ty nicht nach Rip Tide lassen«, erzählte Gemma Fife aufgebracht. »Hat er etwa auch ein Problem mit den Pionieren?«

»Ratter hat ein Problem mit allen, die anders sind als er«, erwiderte Fife. »Glücklicherweise trifft das auf jeden zu. Die Welt braucht nur einen Ratter.«

»Wenn überhaupt«, murmelte ich.

»Du magst ihn nicht besonders, was?«, fragte Fife. »Ausgezeichnet, denn dafür bezahle ich ihn – unangenehm zu sein, damit ich es nicht sein muss.«

»Darin ist er sehr gut«, brummte Gemma, was Fife zum Lachen brachte.

»Weißt du, was ein Ratter ist?«, fragte er sie.

Gemma schüttelte den Kopf.

»Ein Hund, der darauf abgerichtet ist, Ungeziefer zu töten. Du kannst ihn in ein Rattenloch stecken und er wird nicht eher wieder herauskommen, bis der letzte Nager tot ist. Er schüttelt seine Opfer, bis ihnen das Genick bricht. Mit so einem Hund lässt sich gut Geld verdienen. Als ich Bürgermeister wurde, wollte ich diese Stadt von Ungeziefer befreien – das heißt, von der zweibeinigen Art. Und Ratter ist der Hund, der mir dabei hilft.« Fife grinste über das ganze Gesicht. »Er trägt seinen Namen wirklich mit Stolz.«

Draußen erklang ein Gong. »In einer halben Stunde ist Showtime«, sagte er zu Shade. »Ich seh euch alle am Ring.« Er blieb bei mir stehen. »Tut mir leid, dass ich keine große Hilfe war. Aber bleib in der Nähe und halte weiter die Ohren offen. Wenn ein Surf irgendetwas darüber weiß, dass die Drift ein paar Pioniere entführt hat, wird es in Rip Tide die Runde machen, bevor der Kampf vorüber ist.«

»Danke«, sagte ich. »Das werde ich tun.«

»Weil du ein Dunkles Leben bist, nehme ich mal an, dass du weißt, was eine echte Riptide ist?«

»Ja, das weiß ich.«

»Gut, dann sei da draußen vorsichtig.« Nachdem er seinen Hut aufgesetzt hatte, sah sich Fife nach Shade um und zog die Stirn in Falten.

»Vergiss seinen Kopf nicht«, rief er Pretty zu. »Gabion ist dafür bekannt, seinen Gegnern die Ohren abzureißen.«

Während die anderen sich durch den Bohrschacht auf den Weg nach unten machten, blieben Gemma und ich am äußeren Geländer stehen. Die Sonne ging langsam unter, was mir Sorgen bereitete. Wenn die Surfs bis jetzt kein Lösegeld gefordert hatten, bezweifelte ich, dass sie es überhaupt noch tun würden, ungeachtet dessen, was Tupper gesagt hatte.

»Was ist Riptide?«, fragte Gemma.

Fife nutzte diese Floskel wahrscheinlich oft. Und irgendwie passte sie auch. »Eine Stelle im Meer, wo verschiedene Strömungen aufeinandertreffen. Das Wasser ist ganz aufgewühlt und es ist schwierig, ein Schiff hindurchzusteuern. Es kann tückisch sein.«

»Schwierig zu steuern« passte genau zu der Situation, in der ich mich befand. Ich drehte mich um und ließ meinen Blick über das offene Sonnendeck mit den vereinzelten Café-Tischen wandern. Anders als auf den anderen Ebenen gab es hier nur ein paar Gebäude und den Bohrturm in der Mitte, sodass ich einen ungehinderten Blick auf die Surfs hatte, die sich am Geländer um den Bohrschacht drängten.

»Einer von denen muss etwas wissen«, sagte ich frustriert. »Aber sie werden nicht mit mir reden.«

»Du hast es noch nicht mal versucht«, bemerkte Gemma. »Vielleicht hassen nicht alle die Siedler.«

»Von allem, was ich heute gehört habe, ist das das Einzige, woran ich nicht zweifle.« Ich sah sie an. »Was ist mit dir? Hast du Shade gefragt, ob du auf der Specter wohnen darfst?«

»So kurz vor dem Kampf konnte ich ihm nicht erzählen, dass ich obdachlos bin«, sagte sie leichthin. »Das hätte seine Konzentration stören können.«

Ich nickte, obwohl man nicht wissen konnte, in welcher Verfassung Shade nach dem Kampf sein würde. Hoffentlich hatte er dann noch seine Ohren.

Plötzlich hatte ich wieder das Bild vor Augen, wie Shade das Fischöl auf seiner Haut verteilte, und mir kam eine Idee. »Du hast völlig Recht. Ich muss wenigstens versuchen, mit den Surfs zu reden. Aber nicht als Pionier.«

»Wie …?«

»Ich muss meinen Schein verdecken, sodass ich als jemand anderes durchgehe … zum Beispiel als Fischer.«

Offensichtlich hatte sie meinen Plan verstanden, denn sie lächelte. »Dann such dir mal eine hübsche Farbe aus.«

Fischer kauften Zinkpaste gleich im Fass und meistens in der Farbe ihres Firmenlogos. Ich wählte einfach die Farbe, die ich am meisten mochte: das Blau des Meeres an einem sonnigen Tag in etwa sechs Metern Tiefe. Ich zog mein T-Shirt aus und bekam die schnellste Zinkpastenbemalung des ganzen Ozeans.

Der Angestellte hatte zugestimmt, mein T-Shirt und mein Halstuch bis zum Ende des Kampfes aufzubewahren. Von Kopf bis Fuß mit blauer Paste eingeschmiert, überquerte ich das Sonnendeck und vertraute darauf, dass ich wie ein Fischer aussah.

Mit angehaltenem Atem eilte ich an einer Fressbude vorüber. Auf der fünften Ebene war ich an vielen Topsidern vorbeigekommen, die Papiertüten mit knusprig gebackenen Meeresalgen bei sich trugen. Doch hier oben sah ich nicht einen Surf, der Meerfenchel knabberte, einen salzigen Snack aus frittierten Pflanzenstängeln. Anders als die meisten Topsider waren Surfs Fleischesser. Roh, gegart oder geräuchert – und oft hinuntergespült mit flüssigem Walfischtran.

Ich aß gerne Fisch, keine Frage, doch der Verkaufsschlager auf dem Sonnendeck war vergorene Robbenflosse, was noch verdorbener roch, als es aussah. Noch schlimmer war jedoch, dass die Flosse mit einem Dip gegessen wurde, der aus dem Inhalt der Robbengedärme hergestellt wurde – halb verdaute Muscheln und irgendwelches Grünzeug. Mum hatte mir einmal erklärt, dass die Surfs nicht genügend Platz auf ihren Townships hatten, um Gemüse anzubauen, und auf diese Weise lösten sie das Problem – sie aßen die Meeresalgen aus den Mägen der Meeressäugetiere. Meiner drehte sich schon allein bei dem Gedanken um.

Ich ging an der überdachten Tribüne vorbei und spürte, wie die Haare an meinem Körper unter der Zinkpaste zu kribbeln begannen, als ich die Kleidungsstücke aus Darmhaut entdeckte – Ponchos, Regenhemden und ärmellose Mäntel mit Kapuzen. Sofort musste ich an Rajs reizende Theorie denken: dass die Surfs ihre wasserdichte Kleidung aus menschlichen Därmen herstellten. Ich wandte mich dem mir am nächsten stehenden Surf zu, um mir die durchsichtigen Streifen, aus denen seine Windjacke zusammengenäht war, etwas genauer anzusehen. Das war eindeutig irgendein organisches Material, so durchsichtig wie der Schleier eines Topsiders. Wahrscheinlich ausgekratzte Eingeweide oder Magenschleimhaut, doch wer wusste schon, woher es stammte?

Ich beschloss, die beunruhigenden Gedanken beiseitezuschieben. Jetzt oder nie. Wenn der Boxkampf erst begonnen hatte, würde niemand mehr über die Drift reden. Und selbst wenn, könnte ich es bei all dem Geschrei und Gejubel sicher nicht hören. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und tauchte in die Menge ein.

Nach nur zwei Schritten schloss sich der Pulk hinter mir und plötzlich fühlte ich mich, als wäre ich in die Tiefe getaucht, ohne vorher Liquigen zu inhalieren. Der Wasserdruck im Coldsleep Canyon hätte die Luft nicht schneller aus meiner Lunge pressen können. Ich zwang mich, an Gemma zu denken – wie sie durch die eng gedrängten Körper steuerte – und tat dasselbe.

Ich bahnte mir einen Weg zum Geländer und lehnte mich darüber, um endlich wieder Luft zu schnappen, die noch nicht von jemandem ausgeatmet worden war.

Wenn ich so dicht neben dem Bohrschacht blieb, wäre ich nicht völlig von der Menge eingeschlossen und könnte es schaffen. Dann bemerkte ich, dass die Surfs um mich herum mit Dreizack, Dolchen, Bögen und Pfeilen bewaffnet waren, auf deren Spitzen Haifischzähne und scharfe Spiralmuscheln steckten. Offensichtlich waren sie auf Ärger aus. Beim Anblick ihrer primitiven Waffen fragte ich mich erneut, wie Hadal an ein so modernes U-Boot herangekommen war.

Die Lautsprecher rund um Rip Tide knisterten und dann erscholl die Nationalhymne des Staatenbundes. Auf den unteren Decks wurde begeistert mitgesungen, doch um mich herum herrschte Stille. Ich warf einen verstohlenen Blick auf die Surfs am Geländer. Wenn ich keinen dringenden Grund gehabt hätte, auf dem Sonnendeck zu bleiben, hätte ich es jetzt fluchtartig verlassen. Mit zusammengebissenen Zähnen standen sie da und ihr Gesichtsausdruck war nichts anderes als blutrünstig. Wenn man bedachte, dass sie keinen Abgeordneten in der Versammlung hatten, der in ihrem Namen sprechen oder abstimmen durfte, konnte ich nachvollziehen, warum sie nicht besonders patriotisch eingestellt waren.

Als die Hymne verklungen war, unterhielten sich die Leute auf dem Sonnendeck sofort wieder, also bewegte ich mich weiter am Geländer entlang und hielt die Ohren offen. Endlose Minuten verstrichen und alles, was ich aufschnappen konnte, war, dass die Surfs Nebenwetten auf »erstes Blut« und »erste Wasserspritzer« abschlossen.

Zu meiner Linken sagte eine männliche Stimme: »Hey, Levee, hast du gewettet? Ich weiß nicht, auf wen ich setzen soll.«

Ich wäre beinahe von einem Surf in einem Rollstuhl abgedrängt worden, als eine leise Stimme erwiderte: »Ich kann dir sagen, auf wen du nicht wetten solltest, auf die Drift.«

Ich erstarrte und wagte nicht, mich umzudrehen und damit zu verraten, dass ich zuhörte.

»Was ist denn mit ihr?«, fragte der andere Mann leise.

»Das kann ich hier nicht sagen. Viel zu großer Andrang.«

»Was Schlimmes?«

Ich hörte nicht, was der andere erwiderte. Vielleicht hatte er auch nur genickt.

»Weißt du irgendetwas über den Herausforderer?«, fragte der erste Typ laut, als hätten sie die ganze Zeit über den Kampf gesprochen. »Die Quote von zwanzig zu eins ist ganz schön verlockend.«

»Ich wette, es gibt einen Grund für diese Quote, und das kann nichts Gutes bedeuten. Dieser Surf ist noch ein ganz unbeschriebenes Blatt.«

Verdammt, sie sprachen nicht weiter über die Drift. Jedenfalls nicht hier. Und ich hatte nichts erfahren. Ich atmete tief ein, drehte mich um und fand mich einem Mann gegenüber, dessen sonnengebleichte Rastalocken wie ein Turban um seinen Kopf aufgetürmt waren. »Ich kann dir etwas über den Herausforderer erzählen«, sagte ich.

Er trug eine ärmellose Tunika und die Tätowierungen auf seinen Oberarmen waren von der Sonne verbrannt. Er verschränkte die Arme, sodass eine Hand auf dem Griff des Hackmessers zu liegen kam, das in seinem Gürtel steckte. »Warum sollte mir ein Fischer wie du irgendetwas erzählen wollen?«

»Weil du Informationen hast, die ich haben will.«

Der Surf schwieg, als wüsste er genau, wovon ich redete. »Du hast gelauscht, oder?«, fragte er leise. Plötzlich zog er das Hackmesser aus dem Gürtel und hielt es vor mein Gesicht. »Da, wo ich herkomme, schneidet man neugierigen Leuten die Nase ab.«