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Solange das Schleppseil des Anhängers an meinem Gürtel befestigt war, konnte ich dem Diablo Rojo unmöglich entkommen. Langsam tastete ich nach dem Verschluss, doch der Tintenfisch reagierte sofort. Er schleuderte einen seiner Tentakel nach vorn und schlug mit solcher Wucht auf meine Schulter ein, dass mein Kopf nach hinten flog.

Benommen richtete ich mich wieder auf und sah, wie die Kreatur in die Waagerechte schnellte, ihre acht Tentakel und die beiden noch längeren Fangarme ausstreckte – und auf mich richtete. Hastig wendete ich mich ab, doch der Tintenfisch schoss blitzschnell auf mich zu, sodass mir keine Zeit blieb zu fliehen. Er verpasste mir einen weiteren Schlag gegen die Brust, ich flog in hohem Bogen durchs Wasser, blieb aber in seiner Reichweite und wurde von ihm gepackt.

Ich zwang mich, die Augen zu öffnen und fand mich von den Tentakeln des Tintenfischs umwickelt wieder. Verzweifelt versuchte ich mein Tauchermesser aus dem Halfter zu ziehen, doch der Tintenfisch drückte meine Arme an den Körper. Sein Klammergriff wurde noch fester, als er mich zu seinem Schnabel zog, der schärfer war als jede Rasierklinge. Dann schnappte das Viech nach meinem Helm und versuchte ihn zu knacken wie den Schädel eines Thunfischs. Glücklicherweise hielt das Plexiglas.

Gemma schrie mir etwas ins Ohr, doch meine ganze Aufmerksamkeit war nur auf die mit unzähligen Spitzen besetzte Zunge gerichtet, die nur wenige Zentimeter von meinen Augen entfernt gegen meinen Helm stieß, als wollte sie ihn kosten. Ich kämpfte wie wild gegen die tödliche Umarmung des Tintenfischs. Die Saugnäpfe an den Tentakeln waren mit winzigen Zähnen besetzt, die sich wie Dornen in die Haut meines Taucheranzugs bohrten. Wahrscheinlich würden sie die metallische Nanopartikelbeschichtung nicht durchdringen können, doch selbst der kleinste Riss konnte die Sensoren beschädigen, die unter der Beschichtung eingearbeitet waren. Wenn das passierte, würde ich mit viel Schlimmerem zu kämpfen haben als mit zerstochener Haut. In dieser Tiefe würde ich erfrieren.

Doch meine Angst spornte mich an. Trotz des Würgegriffs des Tintenfischs bekam ich mein Messer zu fassen und stach blindlings zu. Ein Schwall aus blauem Blut stieg auf. Ich hatte dem Tentakel nur einen kleinen Schnitt verpasst, doch das genügte schon, um den Tintenfisch in die Flucht zu schlagen. Angetrieben von seinen Kopfflossen verschwand er mit schlenkernden Armen in der Tiefe.

Ich ließ mich zurücksinken und warf einen Blick auf den Kreuzer. Gemmas starres Gesicht war gegen das Aussichtsfenster gepresst. Der Angriff hatte weniger als eine Minute gedauert, sodass ihr keine Zeit geblieben war, in irgendeiner Form zu reagieren.

»Was war das denn für ein Viech?«, kreischte sie in mein Ohr. Wahrscheinlich hatte sie das schon die ganze Zeit getan, doch erst jetzt drang ihre Stimme in mein Bewusstsein. »Ich habe dir gesagt, nimm diese Greifarm-Dinger. Aber nein, du musst unbedingt mit irgendwelchen Ungeheuern durch die Gegend schwimmen.« Ihre Stimme klang entsetzt, aber auch wütend.

Ich winkte ihr zu, um zu zeigen, dass ich okay war, doch mein Messer würde ich nicht so schnell wieder wegstecken.

»Toll, ich bin ja so froh, dass es dir gut geht«, schimpfte sie. »Aber jetzt kommst du zurück ins U-Boot.«

Ich hob einen Daumen in die Höhe und sandte eine Reihe Klicklaute in die Tiefe, doch mit den hoch aufgetürmten Wrackteilen unter mir war es unmöglich zu sagen, wohin der Tintenfisch verschwunden war. Ich beeilte mich, das Schleppseil des Anhängers durch die leeren Fenster des Flugzeugs zu schlingen und ließ den Verschluss zuschnappen.

War der Tintenfisch durch meinen Schein angelockt worden?, fragte ich mich.

Eine schimmernde Haut zu haben, konnte hier unten manchmal ganz schön lästig sein. Doch die meisten Siedler des Benthic-Territoriums aßen biolumineszierenden Fisch und aus diesem Grund leuchteten wir alle bis zu einem gewissen Grad. Ich hatte mich jedoch nicht wie die meisten Siedler erst im Erwachsenenalter in der Tiefsee niedergelassen. Ich hatte mein ganzes Leben im Meer verbracht, deshalb war mein Schein etwas heller als üblich.

»Kannst du dich bitte beeilen …« Gemma brach mitten im Satz ab und schnappte nach Luft. »Da – auf dem Sonar-Bildschirm – irgendetwas steigt schnell auf.«

Mit erhobenem Messer wirbelte ich herum und vermutete, dass der Tintenfisch zurückgekommen war. Doch es war schlimmer als das. Wenige Klicklaute verrieten mir, dass die sich nähernde Kreatur nicht allein war. Ich hätte es kommen sehen müssen, denn ich wusste, dass der Rote Teufel der einzige Tintenfisch war, der im Rudel jagte.

Ich schwamm hastig auf den Kreuzer zu, als die Biester aus der Tiefe hervorschossen. Sie waren zu dritt und genauso riesig wie das erste Exemplar. Sie wurden langsamer, bis sie sich schließlich zwischen mir und dem U-Boot in der Schwebe hielten, während sich ihre Haut von Weiß zu Rot und wieder zurück verfärbte. Jetzt war ich mir sicher, dass sie damit ihre Angriffsbereitschaft signalisierten.

»Ty, versteck dich!«, schrie Gemma, während sie den Kreuzer von hinten zwischen die Tintenfische lenkte. Doch anstatt sich zu zerstreuen, wirbelten sie herum und griffen das U-Boot an.

»Oh nein!«, schrie Gemma angewidert. »Verschwindet, ihr glibberigen Missgeburten.« Sie trommelte gegen das Aussichtsfenster und stellte die Scheibenwischer an.

Ich wusste, dass ihr nichts passieren würde, und nutzte die Gelegenheit, um mich unter dem Flugzeugwrack in Sicherheit zu bringen.

»Hey, können diese Viecher durch die Einstiegsluke klettern?«, fragte Gemma plötzlich. »Ich wette, sie können es. Ich schließe die Luke mal besser.«

Ich blieb, wo ich war. Wenig später war sie zurück am Mikrofon. »Okay, sie ziehen ab und machen sich über irgendeinen armen Fisch her.«

Vorsichtig spähte ich durch eines der Flugzeugfenster und sah, wie die Tintenfische in der Ferne einen zuckenden Tarpun mit sich in die Tiefe schleppten. Mit einer Länge von über zwei Metern würden sie mit dieser Beute eine Weile beschäftigt sein. Wenigstens hoffte ich das. Genau in diesem Moment erfüllte ein Geräusch den Ozean, als würden Dutzende Taucheranzüge gleichzeitig aufgerissen, gefolgt von einem grausamen Knacken. Ich schauderte bei dem Gedanken, dass es auch mein Körper hätte sein können, der da auseinandergerissen wurde.

»Ty, wo bist du?«, fragte Gemma.

Weil meine Lunge mit Liquigen gefüllt war, konnte ich nicht antworten und schwamm stattdessen unter dem Flugzeugteil hervor. Da bemerkte ich eine dicke Kette neben mir, die weit in die Tiefe reichte. Ich drehte um, tauchte auf der gegenüberliegenden Seite des Flugzeugwracks wieder auf und erstarrte bei dem Anblick, der sich mir bot.

Wie es schien, war ich nicht der Einzige, der auf die Idee gekommen war, den Müllstrudel als Versteck zu nutzen.

»Komm weg da!«, forderte mich Gemma durch den Empfänger in meinem Helm auf. »Ich kann dich nicht sehen.«

Ich umrundete das Flugzeugwrack erneut, winkte sie zu mir und deutete ihr mit den Armen an, dass sie noch reichlich Platz hatte. Ein verärgertes Seufzen hallte in meinem Helm wider, doch sie brachte den Kreuzer langsam in Fahrt.

Nachdem ich mithilfe des Biosonars überprüft hatte, dass die Tintenfische tatsächlich abgezogen waren, wandte ich mich wieder dem Gegenstand zu, der neben mir an der Kette verankert war – ein riesiger Unterwasserberg, der im ruhigen dunklen Wasser schwebte. Das musste natürlich eine Illusion sein, denn Unterwasserberge schwebten nicht. Doch das Gebilde vor mir war so groß, dass ich die Umrisse mit meinem Biosonar nicht sichtbar machen konnte. Ich schwamm darauf zu, um mir das Ganze genauer anzusehen, und fühlte mich dabei wie ein winziger Fisch.

»Was ist das?«

Sogar durch den knisternden Empfänger konnte ich die Furcht in Gemmas Stimme hören.

Langsam formte ich die Buchstaben mit den Lippen, weil die Zeichensprache noch immer neu für sie war: Township.

Zumindest war das meine Vermutung. Es hatte eine rundliche Form und war etliche Stockwerke hoch. Damit war es auf jeden Fall groß genug, um vier- bis fünfhundert Leute zu beherbergen sowie mit allem anderen ausgestattet zu sein, was Menschen auf so einem Schiff benötigten – Filteranlagen für frisches Wasser, Küchen und Vorratsspeicher, Sauerstoff und Wärmegeneratoren. Und das Schiff war auf jeden Fall so alt und ramponiert wie die Townships, die ich bisher gesehen hatte.

»Ist das ein Wrack?«, fragte Gemma.

Ich zuckte die Schultern, obwohl das eine vernünftige Erklärung zu sein schien. Warum sollte das Schiff sonst in dem Müllstrudel versenkt worden sein? Townships konnten zwar auch unter Wasser fahren, doch soweit ich wusste, blieben die meisten mit ganz oder teilweise zurückgeklapptem Dach an der Meeresoberfläche – je nach Typ des Schiffes. Also war das wahrscheinlich wirklich ein Wrack. Aber was für eine Verschwendung, es hier zu versenken, denn es hätte gut als Ersatzteilspender verkauft werden können.

Ich konnte weder erleuchtete Aussichtsfenster noch Bewegungen oder irgendwelche anderen Lebenszeichen im Inneren des Schiffes entdecken, wohingegen es an der Außenseite nur so von Leben wimmelte. Genau genommen hatte sich dort ein eigenes kleines Ökosystem entwickelt. Seepocken hatten sich an die Fenster geheftet, Krabben kletterten durch das Seegras, das aus der Seitenverkleidung zu sprießen begann, und überall tummelten sich Fischschwärme.

Mit meinem Tauchermesser kratzte ich die Algen von einem der Fenster, doch alles, was ich sah, war mein leuchtendes Spiegelbild. Ich tippte auf den kleinen Tauchcomputer an meinem Handgelenk, der mit meinem Taucheranzug verbunden war, und stellte die Lampen an meinem Helm heller. Nachdem ich das Licht zu einem Strahl gebündelt hatte, richtete ich es direkt auf das Fenster und schreckte überrascht zurück. Ein Junge hockte mit einer Decke über den Schultern zusammengesunken auf der Fensterbank. Sein Kopf ruhte auf den verschränkten Armen, als wäre er beim Hinausspähen eingeschlafen.

Wenn er auf einem Township lebte, war er ein Surf – so wurde die »Überschussbevölkerung« genannt. Ich konnte mich nicht erinnern, einen wie ihn schon mal gesehen zu haben. Sein Schädel war kahl rasiert und geometrische Tätowierungen umrahmten sein Gesicht. Andererseits hatte ich aber überhaupt noch nie die Gelegenheit gehabt, einen Surf aus dieser Nähe zu betrachten.

»Was ist los?«, fragte Gemma. »Was siehst du?«

Ich bedeutete ihr zu warten und klopfte mit dem Griff meines Messers gegen das Plexiglas. Der Junge wachte nicht auf. Er zuckte nicht einmal zusammen.

Unbehagen machte sich in mir breit wie kalter Nebel. Nichts deutete darauf hin, dass die Maschinen des Townships in Betrieb waren. Keine Turbine brummte. Kein Licht war zu sehen. Kein Blasenstrom stieg auf, also gab es auch keinen Sauerstoff. Und es war keine Wärme zu spüren.

Ich schauderte, als mir schließlich bewusst wurde, dass ich gerade versucht hatte, eine Leiche zu wecken. Und noch unheimlicher war, dass der Junge so aussah, als sei er wie ich fünfzehn Jahre alt.

»Hast du da drin etwa einen Toten entdeckt?«, fragte Gemma plötzlich. »Das siehst du dir doch gerade an, oder? Einen toten Menschen?«

Als ich nickte, legte sie den Rückwärtsgang ein und nahm eine Bootslänge Abstand.

Ich ließ mich weiterhin vor dem Fenster treiben, obwohl mein Brustkorb wehtat, als hätte ich zu viel Liquigen inhaliert. Wer auch immer der Junge war, er konnte schon eine ganze Weile tot sein. Vielleicht sogar seit Jahren. Sein Körper war so gut erhalten, dass es schwer zu sagen war. Der fehlende Sauerstoff und die eisigen Wassertemperaturen hatten das Township in einen riesigen begehbaren Gefrierschrank verwandelt.

»Ty«, klang Gemmas Stimme leise in meinem Ohr. »Komm wieder an Bord. Wir werden per Funk Hilfe anfordern.«

Das hörte sich gut an. Ich war ganz sicher nicht scharf darauf, in einer Geisterstadt herumzustöbern, doch ein Gedanke hielt mich davon ab, zum U-Boot zurückzuschwimmen. Was, wenn da drin noch jemand am Leben war und Hilfe brauchte?

Angesichts des Seegrases, das an der Außenwand Wurzeln geschlagen hatte, war es zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber nur weil das Township an dieser Stelle verankert war, musste es nicht unbedingt die ganze Zeit außer Betrieb gewesen sein. Was, wenn dieses Schiff schon eine Weile hier vor Anker lag und die Maschinen erst vor ein paar Tagen den Geist aufgegeben hatten? Ich musste nach Überlebenden suchen, egal wie sehr mich der Gedanke ängstigte.

Ich gab Gemma ein Zeichen, dass ich mich im Inneren des Townships umsehen wollte.

»Sei vorsichtig«, sagte sie nur und mir wurde schlagartig bewusst, dass ein Teil von mir gehofft hatte, sie würde mir mein Vorhaben ausreden.

Während ich unter der gewaltigen Konstruktion abtauchte, ergriff mich ein mulmiges Gefühl. Die Unterseite war eine ebene Fläche, sodass ich den Einstieg schnell gefunden hatte. Aber ein Blick genügte und ich wusste, wo das Problem lag.

Ich schwamm wieder nach oben und umrundete das Township, doch mit jeder Einstiegsluke, an der ich vorüberkam, verlangsamten sich meine Schwimmzüge. Als ich es schließlich ganz umrundet hatte, waren meine Arme schwer wie Blei und ich konnte sie kaum noch anheben – nicht, weil ich so erschöpft war, sondern wegen dem, was ich gesehen hatte.

Jeder einzelne Lukendeckel war mit einer Kette verschlossen … von außen.