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Ich drosselte die Geschwindigkeit des U-Boots. Der lichtdurchflutete Ozean um uns herum schien unendlich weit und leer, doch ich wusste es besser. Wir steuerten geradewegs auf den größten Müllstrudel im Atlantik zu. Jederzeit konnten wir mit voller Breitseite gegen ein Stück Geschichte prallen.

Im Strahl der Außenbeleuchtung des U-Boots wirbelte tatsächlich etwas aus der Dunkelheit auf uns zu. Gemma lehnte sich gegen das Aussichtsfenster. »Ein Fahrrad«, stieß sie staunend hervor. »Genau wie auf alten Fotos.«

»Das bedeutet, wir sind fast da«, sagte ich.

»Wir verstecken einen Anhänger voller Seetang im offenen Meer?«

»Inmitten eines Müllstrudels«, bestätigte ich. »Genial, oder?« Ich überprüfte den Heckmonitor, um sicherzugehen, dass der gut verschlossene Wagen noch immer hinten an unserem U-Boot hing. »Hier kommt nie jemand her.«

Gemma warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Ich wette, aus gutem Grund.«

»Die meisten Taucher fürchten sich davor, erschlagen zu werden …«

»Tatsächlich?« Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

»… aber ich habe den Strudel schon oft erkundet und bin noch am Leben.«

»Ty, bitte versteh das jetzt nicht falsch …« Sie warf ihr langes Haar zurück und zog eine Schwimmweste unter dem Sitz hervor.

Während sie die Weste anlegte, ließ ich das U-Boot steil nach unten absinken. Mit dem tonnenförmigen Rumpf und den doppelten Thermotriebwerken hatte es genügend Antriebskraft, um die schwimmenden Abfälle ohne große Schwierigkeiten zu durchkreuzen, solange wir nicht gegen etwas zu Großes stießen.

Etwa fünfzehn Meter tiefer sahen wir verschiedene kleinere Gegenstände vorbeigleiten – eine Puppe ohne Kopf, Plastiktüten, Getränkedosen und Fischernetze. Obwohl die Netze nicht mehr in Gebrauch waren, konnten sie den Meerestieren immer noch gefährlich werden. Es versetzte mir einen Stich ins Herz, als wir einen Delfin entdeckten, der sich in einem der Netze verheddert hatte und schon lange ertrunken war. Wir sanken weiter in die Tiefe und größere Objekte rauschten vorbei – ein Fernsehgerät, das Kabel hinter sich herzog, eine Schaufensterpuppe, ein funkelnder Kronleuchter – all diese Dinge waren in einem Unterwasserwirbelsturm gefangen. Es schien, als hätte sich das gesamte Gerümpel der letzten Jahrhunderte hier zusammengefunden, um für immer in dem riesigen Strudel dahinzutreiben.

»Woher kommt denn das ganze Zeug?« Gemma kniete sich auf ihren Sitz, um durch das Plexiglasverdeck des U-Boots zu spähen.

»Es wurde überall im Atlantik von Winden und Strömungen eingefangen und hierhergetragen.« Ich änderte den Kurs, um nicht mit einem Kinderwagen zusammenzustoßen. Vorsorglich schaltete ich den Suchscheinwerfer ein und bewegte den Lichtstrahl durch die umherdriftenden Gegenstände, ohne mir annähernd vorstellen zu können, wie viele es waren. Ein starker Auftrieb hielt sie in der Schwebe, während Wrackbarsche, die größer waren als ich selbst, mit vorgestreckten Unterkiefern in den Ecken lauerten, als würden sie ahnen, dass irgendetwas Unheilvolles bevorstand.

Als die Drehbewegung des Strudels zum Stillstand kam, wusste ich, dass wir das Auge erreicht hatten. An diesem Punkt kreisten die Abfälle nur noch auf der Stelle.

»Das ist vermutlich eine dumme Frage«, sagte Gemma und richtete den Blick auf mich, »aber was hält den Anhänger davon ab, einfach wegzuschwimmen, wenn wir ihn hier zurücklassen?«

»Ich werde ihn an etwas Großem befestigen.«

»Gut, und was hält beides davon ab wegzuschwimmen?«

»Wir befinden uns im Mittelpunkt des Strudels. Hier kann der Schrott nirgendwohin schwimmen. Außerdem komme ich schon bei Tagesanbruch zurück und hole ihn wieder ab. Dad will den voll beladenen Wagen bloß nicht über Nacht auf dem Acker stehen lassen. Da wäre er eine zu leichte Beute. Nur weil wir als einzige Familie unter den Siedlern bereit sind, einen Teil unserer Ernte an die Surfs zu verkaufen, heißt das noch lange nicht, dass wir ihnen auch vertrauen.«

»Trotzdem kann ich mich nicht daran erinnern, dass dein Vater gesagt hätte: Versteck den Wagen in einem großen Müllstrudel

»Es ist ihm egal, wo ich den Wagen verschwinden lasse, solange er in Sicherheit ist.«

Sie lächelte. »Aha.«

»Also, das könnte doch ein Anker sein.« Direkt vor uns drehte sich ein Flugzeugwrack mit der Geschwindigkeit eines Seesterns um sich selbst.

Ich schaltete das U-Boot auf Leerlauf und griff nach meinem Helm, der auf dem Sitz hinter mir lag.

Gemmas blaue Augen weiteten sich. »Du hast doch nicht etwa vor, da rauszugehen?«

»Wie soll ich den Anhänger denn sonst an dem Aluminiumklotz befestigen?«

»Na, mit diesen Greifarm-Dingern.«

»Das würde ewig dauern.« Ich lief zwischen den Sitzen entlang in Richtung Ausstieg.

»Du hast gesagt, dass Meerestiere von überall abgewandert sind. Was, wenn die Meeresströmungen nicht nur den ganzen Müll hierhergetragen haben? Dann könnte da draußen doch alles Mögliche lauern.«

Natürlich hatte sie vollkommen Recht. Die Fischer zogen ständig Meereslebewesen aus dem Atlantik, die normalerweise nur im Pazifik oder vor der Küste Australiens vorkamen. Doch während der Großen Flut war so viel Land überschwemmt worden, dass sich zwischen den Ozeanen neue Kanäle gebildet hatten.

»Mir wird schon nichts passieren«, sagte ich und hoffte, dass das stimmte. Ich biss auf den Liquigen-Schlauch im Inneren des Helms und saugte den flüssigen Sauerstoff ein. Dann ließ ich mich durch die Einstiegsluke im Boden des Kreuzers fallen.

»Na, hoffentlich«, hörte ich sie durch den Empfänger in meinem Helm sagen. »Wenn ich nämlich aussteigen muss, um dich zu retten, würde das meinen Tag ruinieren.«

Das war noch milde ausgedrückt. Sie hatte seit mehr als einem Monat nicht einmal einen Zeh ins Meer getaucht. Eine Tatsache, die mir Kummer bereitete. Aber heute hatte sie zugestimmt, mit dem U-Boot rauszufahren – zum ersten Mal seit Wochen –, vielleicht würde sie eines Tages auch versuchen, wieder zu tauchen.

Da ich mit dem Liquigen in der Lunge nicht sprechen konnte, signalisierte ich ihr mit erhobenem Daumen, dass alles in Ordnung war. Mit drei kräftigen Zügen war ich am Heck des Kreuzers, obwohl der Auftrieb so stark war, dass es mich große Anstrengung kostete, die Höhe zu halten. Nachdem ich das Schleppseil des Anhängers an meinem Tauchgürtel befestigt hatte, schwamm ich auf das mit Algen bedeckte Flugzeugteil zu.

Plötzlich streiften Dutzende große Schatten an mir vorbei. Ich hielt an und sandte mithilfe meiner Dunklen Gabe Schallwellen in ihre Richtung. Wenig später sah ich vor meinem geistigen Auge, dass es sich um Dornhaie handelte – eine Haiart, ja, aber keine, die Menschen gefährlich werden konnte. Trotzdem gefiel mir ihre hektische Art zu schwimmen nicht – es schien, als würden sie fliehen.

Ich schickte weitere Klicks in die Finsternis. Bange Sekunden verstrichen. Als das Echo endlich zurückgeworfen wurde, war das Bild, das sich daraus formte, zu verwirrend, um mir von Nutzen zu sein. Weit unter mir befand sich eine Ansammlung verfallener Schiffswracks, die von der Strömung dorthin getrieben worden waren. In dem riesigen Schiffsfriedhof gab es massenweise Vertiefungen und Spalten, in denen alles nur Erdenkliche vor meinem Blick verborgen lauern konnte – Dunkle Gabe hin oder her. Ein schauriger Gedanke.

Trotzdem war ich froh über mein Biosonar. Was spielte es schon für eine Rolle, dass Topsider-Ärzte die Dunkle Gabe, über die wir im Meer Geborenen verfügten, darauf zurückführten, dass der Wasserdruck unsere Gehirne beeinträchtigte? Ich fühlte mich gut und gesund. Und ich war erleichtert, dass sich meine Eltern nicht mehr ständig Sorgen um mich machten. Es waren erst vier Monate vergangen, seit sie erfahren hatten, dass die Dunkle Gabe kein Mythos war und dass ihre zwei Kinder diese Gabe besaßen.

Weil ich mir kein genaues Bild von dem Haufen aus Wrackteilen unter mir machen konnte, konzentrierte ich mich wieder darauf, eine Stelle an dem Flugzeugteil zu finden, an der ich den Anhänger befestigen konnte. Ich hatte gerade eine Fensterreihe entdeckt, die geeignet schien, als Gemmas Schrei in meinem Helm widerhallte. Ich wirbelte zum Kreuzer herum und nahm dabei aus dem Augenwinkel eine riesige Gestalt wahr, die reglos neben mir schwebte.

Nach nur einer halben Drehung sah ich mich einem gewaltigen Tintenfisch gegenüber. Er hatte sich senkrecht aufgestellt und sein fast zwei Meter langer, purpurroter Körper war so massig, dass ich ihn nicht mit den Armen hätte umfassen können, wenn ich es denn gewollt hätte. Der Tintenfisch verharrte auf der Stelle und beobachtete mich. Als seine Haut erst neonweiß und dann blutrot aufleuchtete, kam mir ein Name in den Sinn – Diablo Rojo – der Rote Teufel, eine Kreatur, deren Ruf noch erschreckender war als ihr Anblick.

Ich versuchte zu verdrängen, was ich über diese Art von Tintenfisch gehört hatte: dass er ahnungslose Schwimmer in die Tiefe zog und bei lebendigem Leib verspeiste. Das waren nicht bloß verrückte Geschichten, sondern Augenzeugenberichte und echte Opfer. Von allen Raubtieren der Tiefe brachte kein anderes mein Herz mehr zum Rasen als dieser Tintenfisch. Haie waren Furcht einflößend, aber eben nur Fische, wohingegen ich in den Augen dieser Bestie eine Intelligenz entdeckte, die mich in Angst und Schrecken versetzte.

Die Hautfarbe des Tintenfischs wechselte erneut von leuchtend Weiß zu Purpurrot und ich wusste, dass das nichts Gutes bedeuten konnte. Zweifellos nutzte das Viech den leuchtenden Stroboskopeffekt dazu, seine Beute zu verunsichern – mich.