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Ich wusste, warum mir die einzige Chance, an Informationen zu kommen, entgangen war. Nur wegen meines Alters. Doch wenn Kommandantin Revas so sehr damit beschäftigt war, sich strikt an das Gesetz zu halten, wer würde dann meine Eltern aufspüren?

Gabion grunzte, als Ratter ein weiteres Neunauge von seinem blutverklebten Körper riss und beiseitewarf.

Gemma näherte sich dem zusammengesackten Boxer, obwohl er offensichtlich große Schmerzen hatte. »Du hättest ihn ernsthaft verletzen können«, schimpfte sie und zeigte auf mich. »Er ist erst fünfzehn Jahre alt.«

Den Verlierer auch noch anzuschreien, erschien mir nicht besonders sportlich, aber Gabion würde sich schon selbst gegen ihre Schelte verteidigen müssen.

»Ich bin fast sechzehn«, sagte ich nur knapp, während ich an ihr vorbeilief, um Kommandantin Revas einzuholen.

»Also gut, er ist fast sechzehn«, berichtigte sie sich, »aber er ist nur halb so groß wie du.«

Ich unterdrückte den Drang, noch einmal umzudrehen und auch diese Behauptung zu korrigieren. Stattdessen richtete ich meinen ganzen Ärger auf die Kommandantin und verstellte ihr den Weg. »Ich stand so kurz davor, an Informationen über die Drift zu kommen.«

»Was ist das für ein Benehmen? Geh aus dem Weg«, erwiderte sie, jedoch ohne eine Spur von Ärger in der Stimme.

»Warum sind Sie überhaupt hier? Ich dachte, Sie wären da draußen im Einsatz, um Tausende Surfs zu retten. War das nicht der Grund, warum Sie nicht mehr als drei Skimmer übrig hatten?«

Ihre dunklen Augen blitzten auf, doch ihr Tonfall blieb ruhig. »Kind, ich sagte, du solltest nach Hause gehen. Das Letzte, was ich jetzt brauche, ist ein Siedler, der dumme Kommentare abgibt, die die Surfs nur noch mehr verärgern.«

»Ich bin doch nicht blöd. Ich weiß schon, was ich tue!«, rief ich, obwohl ich seit diesem Morgen ein paar sehr beleidigende Dinge über die Surfs gedacht hatte – und das aus gutem Grund.

»So, wie du wusstest, wie sie sich wegen der Verordnung fühlen?«, fragte sie spitz und lief an mir vorbei.

Okay, vielleicht wusste ich nicht, was die Surfs ärgerte, aber ich hatte mich heute unter sie gemischt und dabei keinen Aufruhr verursacht. Ich wich Revas nicht von der Seite. »Es gibt einen Surf auf dem Sonnendeck, der etwas über die Drift weiß.«

»Das tun viele, sogar ich.«

»Wie bitte?«, fragte ich. »Was wissen Sie?«

Sie antwortete nicht.

»Dann sagen Sie mir wenigstens, warum Sie sicher sind, dass es die Surfs von der Drift waren – obwohl sie bis jetzt kein Lösegeld gefordert haben.«

Sie blieb kurz stehen und sah mich an. »Ich habe es auf die nette Art versucht, Kind. Doch jetzt ordne ich offiziell an, dass du Rip Tide verlassen musst. Ist das klar?«

Eine Bewegung ganz in der Nähe zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Gabion hatte sich aufgerappelt. Seine dunklen Augen waren auf mich gerichtet und er hörte mit scheinbar großem Interesse unserem Gespräch zu.

»Ist das klar?«, wiederholte Revas in militärischem Befehlston.

»Wie Tautropfen an einem Sommertag.« Fife erhob sich vom Podest. »Ty soll schnell zurück nach Hause. Er hat’s verstanden.« Er eilte auf uns zu. »Kümmern Sie sich nur um die Angelegenheiten der Meereswache, Kommandantin Revas. Ich sorge schon dafür, dass der Junge sicher hier wegkommt.«

Revas warf mir einen Blick zu, als ob sie meinen Schädel aufbrechen wollte, um zu sehen, was ich vorhatte. Doch sie sagte nur: »Ich werde dich kontaktieren, wenn ich Neuigkeiten habe.« Dann schritt sie davon und bellte ihren Gardisten Befehle zu.

»Du solltest diesen jungen Dingern lieber nicht in die Quere kommen«, riet mir Fife. »Sie sind nur darauf aus, sich zu beweisen, keine schöne Sache.«

»Das hängt davon ab, wie man ›schöne Sache‹ definiert«, bemerkte Eel, während er Kommandantin Revas mit den Augen folgte.

»Ich kann Ratter beauftragen, euch beide in meinem Luftschiff zurück zur Handelsstation zu bringen«, bot Fife an.

»Wir haben ein U-Boot.« Aller Mut verließ mich. Ich wollte doch nur ein paar Antworten – oder wenigstens die Gewissheit, dass es meinen Eltern gut ging. Und Revas erwartete von mir, dass ich mit nichts nach Hause zurückkehrte.

»Ich habe keine Ahnung, wie ihr das schafft. Ihr könntet mich nicht mal dazu bringen, ein paar Meter unter Wasser zu reisen. Und erst dort zu leben …« Fife schauderte. »Wenn das einzige Stück Unterwasserwildnis, das ich zu sehen bekomme, gedünstet auf einem Teller serviert wird, bin ich ein glücklicher Mann. Wie auch immer«, fuhr er fort, »die Warteschlange an der Seilbahn wird kilometerlang sein. Am besten, du genehmigst dir noch ein warmes Essen im Café, Boxchampion. Und nimm das Mädchen gleich mit. Auf meine Kosten natürlich. Ihr könnt losfahren, wenn sich der erste Ansturm gelegt hat.«

»Bürgermeister Fife, darf ich runter zum Gefängnis, um Shade zu sehen?«, wollte Gemma wissen.

»Da musst du Kommandantin Revas fragen«, sagte er und schlenderte davon. »Solange sie sich auf Rip Tide aufhält, bin ich nur Gast in meiner Stadt.«

Während sich Gemma auf den Weg zur Kommandantin machte, sackte ich auf dem Deck zusammen. Ich fühlte mich wie ein Schiffbrüchiger – gestrandet und völlig niedergeschmettert. Nur ein paar Zentimeter von meiner Hand entfernt wand sich ein Neunauge. Mit einem Schlag sandte ich das Tier ins Wasser und bemerkte dann, dass Gabion verschwunden war. Ich hatte den Kampf zwar gewonnen, doch am Ende stand ich mit leeren Händen da. Ich hatte nicht die kleinste Spur. Wie sollte ich jetzt meine Eltern finden?

Schritte näherten sich und kurz darauf bildete sich ein Kreis aus Schuhen um mich herum. Als ich aufsah, hatte sich die Seablite-Gang um mich aufgebaut – bis auf Eel und Shade – und alle Gangmitglieder starrten auf mich herab. Jetzt wirkten sie so bedrohlich, wie ich sie in Erinnerung hatte.

»Sieht so aus, als hättest du die Meereswache angeschleppt.« Pretty sprach mit ruhiger Stimme, was jedoch viel unheilvoller klang, als wenn er geschrien hätte. »Also bist du an Shades Verhaftung schuld.«

»Ich?«, fragte ich ungläubig und sah zu Eel hinüber, der am Geländer lehnte. Er zuckte nur die Schultern, als gäbe es nichts, was er tun konnte. »Entweder du holst Shade noch heute raus«, warnte Pretty, »oder ich werde dich solange jagen, bis einer von uns tot ist.«

»Was hat er gesagt?«, fragte ich Gemma, als sie von einem Tisch im Café zurückkam, an dem Abgeordneter Tupper saß. Ich hatte mir mein Hemd und mein Halstuch aus dem Laden wiedergeholt und wir ließen uns in einer dunklen Ecke des Sonnendecks so weit wie möglich von den Musikern entfernt nieder. Ich machte mir zu große Sorgen um meine Eltern, als dass ich auch nur einen Bissen hätte essen können. Außerdem war ich immer noch viel zu aufgebracht wegen Revas’ Befehl, nach Hause zu gehen. Also machte ich mich vorerst unsichtbar.

Der Mond schien hell und eine Party war in vollem Gange. Kein einziger Surf war mehr auf Rip Tide. Sowie der Boxkampf zu Ende gewesen war, hatten sie gehen müssen, denn zu dieser ausgelassenen Feier auf dem Sonnendeck waren nur Topsider eingeladen. Sie lachten und tanzten unter schwankenden Ketten aus winzigen Lampions. Ihre Zinkbemalung war längst verschmiert und ihre seidigen Gewänder schmutzig. Ich fragte mich, ob die Bewohner von Rip Tide jetzt in ihren Betten lagen und den Lärm verfluchten, der durch alle sieben Ebenen der Stadt hallte.

»Tupper meint, dass nur die Präsidentin der Versammlung eine Begnadigung für einen Outlaw aussprechen könne«, sagte Gemma niedergeschlagen. »Und dass es einen wirklich guten Grund geben müsse, damit sie das tue.«

»Hast du Tupper daran erinnert, dass die Regierung die Seablite-Gang in einer unter Wasser gelegenen Besserungsanstalt eingesperrt und zugelassen hat, dass ein Doktor an ihnen herumexperimentiert? Schon allein deshalb sollte die Präsidentin Shade begnadigen und ihm die Chance zu einem Neuanfang geben.«

»Das und noch viel mehr habe ich angeführt.« Gemma klang untröstlich. »Doch Tupper sagte, dass Präsidentin Warison nicht ihren Kopf für irgendeinen Flüchtling riskiere, denn sie stehe bereits mächtig unter Beschuss.«

»Unter wessen Beschuss?«

»Ich hab mir gar nicht erst die Mühe gemacht, danach zu fragen. Ich bin sicher, Tupper meint die Wissenschaftler, die vom Staatenbund fordern, die Notstandsgesetze aufzuheben, weil der Aufstand vorüber ist.«

»Das werden die niemals tun«, spottete ich. »Wenn wir nicht mehr unter den Notstandsgesetzen leben, können die Staaten wieder Wahlen abhalten und alle Abgeordneten der Versammlung würden abgelöst werden. Präsidentin Warison eingeschlossen.«

Gemma zuckte die Schultern, denn das war ihr ziemlich egal.

»Kommandantin Revas sollte dir erlauben, Shade zu sehen.« Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, fühlte ich mich auch schon schlecht deshalb, denn ich hatte sie an ihre verfahrene Situation erinnert. Wenn Shade im Gefängnis saß, konnte sie nicht auf der Specter einziehen.

»Sie hat Nein gesagt, auch nachdem ich ihr erzählt habe, dass ich seine Schwester bin«, sagte Gemma. »Dabei wollte ich nur mit ihm sprechen. Vor dem Kampf hatten wir nicht viel Gelegenheit dazu.«

Und in der kurzen Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, hatte sie ihm auch noch von meiner Notlage erzählt, obwohl ihre – einen Platz zum Wohnen zu finden – für sie viel wichtiger war.

»Ich denke, du hast Recht«, bemerkte sie. »Der Staatenbund schert sich nicht um Familien

Ich zuckte innerlich zusammen, denn ich hatte diese Tatsache am eigenen Leib erfahren. Der Staatenbund hatte versucht, meine Familie auseinanderzureißen, als meine Dunkle Gabe bekannt geworden war. Ärzte der Topsider hatten meine Eltern vor Gericht geschleppt, um sie für unfähig erklären zu lassen, und das nur, weil sie mich unterseeisch aufgezogen hatten. Seit ich Shades Geschichte gehört hatte, hatte ich oft daran gedacht, dass ich vermutlich ebenfalls in Seablite gelandet wäre, wenn ich zu einem Mündel des Staatenbundes geworden wäre.

Ich sah auf den Ozean hinaus und bekam Panik. Wenn ich meine Eltern nicht fand, konnten Zoe und ich immer noch als Mündel des Staatenbundes enden. Schnell schüttelte ich den Gedanken ab. Das würde ich auf keinen Fall zulassen. Ganz besonders nicht, wenn es um Zoe ging. Jemand aus der Regierung könnte Gefallen an ihrer Dunklen Gabe finden und dabei würde garantiert nichts Gutes herauskommen.

In der Nähe entlud sich ein Schuss und wir sprangen erschrocken auf, wirbelten herum und sahen, dass ein paar Topsider nicht weit von uns entfernt mit Tontaubenschießen beschäftigt waren. Die nächste im Dunkeln leuchtende Taube flog in den Nachthimmel, gefolgt von einem weiteren Schuss. Diesmal war es ein Treffer und die Tontaube explodierte über dem Meer.

Während der leuchtende Staub nach unten rieselte, brach plötzlich eine riesige Flosse durch die Wellen. Die Tontaubenschützen rasteten schier aus, denn die Größe des Haies war außergewöhnlich.

Gemma und ich wechselten einen Blick, weil wir wussten, dass es die Specter, das U-Boot der Seablite-Gang, war, die Rip Tide umrundete. Die Outlaws warteten darauf, dass ich ihnen Shade lieferte. Ich sollte Prettys Drohung wahrscheinlich ernst nehmen, doch im Moment war mir mein eigenes Wohlergehen keine Seepocke wert.

Zumindest dachte ich das, bis mich eine Hand von hinten packte und mich in den Schatten des Treppenhauses zog. Gemmas entsetzter Gesichtsausdruck war ein guter Vorgeschmack auf das, was mich erwartete. Doch als ich mich umdrehte, setzte mein Herzschlag trotzdem aus, weil ich Gabion finster auf mich herabblicken sah.

Noch schlimmer war jedoch, dass er zu sprechen begann.

Ein kehliger, unverständlicher Wortschwall kam aus seinem Mund und ich stolperte zurück, um nicht von seinem Speichel getroffen zu werden. Er packte noch fester zu und zog mich wieder zu sich heran. Als er erneut den Mund öffnete, konnte ich den Blick nicht von dem weißen Parasiten darin abwenden. Das Viech wand und schlängelte sich, als würde es zu Gabions Grunzern tanzen.

Gemma trat neben mich. »Versuch es noch einmal«, sagte sie sachlich. »Das erste Wort ist ›gehen‹, stimmt’s?«

Als Gabion nickte, war ich vollkommen verblüfft.

Er ließ meinen Arm los und begann noch einmal zu sprechen. Es klang immer noch unverständlich, aber nicht verärgert, wie ich erst jetzt bemerkte. Er hatte nicht die Absicht, mir heimzuzahlen, dass ich ihm seinen Titel abgenommen hatte. Der Blick seiner schwarzen Augen bohrte sich förmlich in meinen Kopf, so verzweifelt versuchte er, mir etwas zu sagen. Doch ich wusste beim besten Willen nicht, was das sein konnte.

»Es-es tut mir leid«, stammelte ich. »Aber ich verstehe dich nicht.«

Er sah zu Gemma, doch als sie ebenfalls den Kopf schüttelte, brummte er frustriert.

»Kannst du es aufschreiben?«, fragte Gemma.

Er zuckte sichtlich zusammen und ich vermutete, dass sie damit ein heikles Thema angeschnitten hatte. Ich hatte gehört, dass viele Surfs Analphabeten waren. Ich fragte mich, ob es ihn zu sehr beleidigen würde, wenn ich ihn danach fragte. Doch dann kam mir ein anderer Gedanke in den Sinn. »Kannst du Zeichensprache?«

Seine Miene hellte sich auf und er deutete hoffnungsvoll auf mich.

»Ja, ich kann es.« Und in Zeichensprache gab ich ihm zu verstehen, dass alle Siedler sie beherrschten.

Er schien überrascht zu sein und mir wurde klar, dass es eine Menge Dinge gab, die Surfs und Siedler nicht voneinander wussten.

Er hob die Hände und bedeutete mir, dass die meisten Surfs es nicht konnten.

Mir schnürte sich die Kehle zu. Wie schrecklich musste es sein, wenn niemand ihn verstehen konnte. Wie einsam musste er sich fühlen. Was willst du mir sagen?, fragte ich in Zeichensprache, bevor mir bewusst wurde, dass ich gar keine Zeichen benötigte. Gabion war nicht taub.

Auf den Metallstufen unter uns waren Schritte zu hören. Mindestens zwei Personen waren auf dem Weg nach oben zum Sonnendeck. Gabion warf einen besorgten Blick über die Schulter und signalisierte mir hastig, dass ich zum Schwarzmarkt gehen sollte.

»Ist dort die Drift?«, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf. Dann schien er noch einmal nachzudenken, drehte die Handflächen nach oben und zeigte mir damit, dass er es nicht wusste.

Gemma stieß mich an. »Was hat er gesagt?«

»Warum soll ich dann dorthin gehen?«, fragte ich ihn. »Was ist auf dem Schwarzmarkt?«

Die Schritte näherten sich und Stimmen drangen aus dem Treppenhaus zu uns herauf. Gabion zuckte zusammen, als wäre er mit einem Elektroschocker angestoßen worden. Er drehte sich um und blickte die Stufen hinab.

»Weil er bis Tagesanbruch Ihr Gefangener ist«, fauchte die Frauenstimme auf der Treppe. »Also sorgen Sie dafür, dass seine Zelle bewacht wird.« Das war eindeutig Kommandantin Revas.

Offensichtlich hatte Gabion sie auch erkannt, denn er gab mir eilig zu verstehen, dass er gehen müsste.

Ich fragte mich, warum er Angst vor Revas hatte. »Warte«, flüsterte ich, obwohl sich die Schritte bereits der obersten Stufe näherten.

»Warum kann das nicht einer Ihrer Gardisten übernehmen?«, fragte eine zweite Stimme, die ziemlich entrüstet klang. Das war Bürgermeister Fife, was nicht sehr überraschend war.

Gabion zog sich in den Schatten zurück und bedeutete mir: morgen Abend in den Hardluck Ruinen. Er verschwand genau in dem Moment, als Kommandantin Revas auf der Treppe erschien.

Ich sah Gemma an, die mit gerunzelter Stirn auf die Stelle starrte, wo Gabion eben noch gestanden hatte. Sie schien aus irgendeinem Grund misstrauisch zu sein. Ich winkte sie in den Schutz der Dunkelheit unter den überdachten Steg. Das Letzte, was ich jetzt brauchte, war eine weitere Konfrontation mit Kommandantin Revas.