24

Gemma und ich wirbelten herum und suchten den Nachthimmel ab, obwohl ich schon wusste, was ich zu sehen bekommen würde. Ich hatte die Stimme erkannt. Und da war er auch – Bürgermeister Gideon Fife. Er lehnte aus einem Fenster seines gestreiften Luftschiffes und hielt sich ein Megafon vor den Mund.

»Ty, Gemma, ihr bleibt, wo ihr seid!«, befahl er mit donnernder Stimme. »Ich komme runter.«

Sobald sich das Luftschiff in Richtung Stadion senkte, zerstreuten sich Plover und die anderen Surfs. Ich schätzte, dass sie einen guten Grund dafür hatten und bemerkte, dass auch Ratter sich auf den Weg zurück zur Kabine machte, als hätte er etwas zu erledigen. Schnell wechselte ich einen Blick mit Gemma. »Lass uns verschwinden.«

»Wieso, traust du etwa Fifes Absichten nicht?«

Das war natürlich eine rhetorische Frage, trotzdem erwiderte ich: »Willst du hierbleiben und herausfinden, ob es gute Absichten sind?«

»Sicher nicht.«

Wir rannten den steilen Aufgang zwischen den Sitzreihen hinauf in Richtung Hängebrücke. Doch bevor wir oben ankamen, trat eine dunkle Gestalt in den Gang. Ich hielt abrupt an und Gemma stieß von hinten gegen mich.

»Wieso …« Ohne die Frage zu beenden, folgte sie meinem Blick und sah den großen Mann, der jetzt zu uns herunterkam. Sein Gesicht war noch immer zu dunkel, um es erkennen zu können, doch bei jedem Schritt zog er ein Bein nach – Shade.

Er blieb auf der Stufe über uns stehen. »Wie ich sehe, seid ihr zwei noch am Leben.« Er klang nicht verärgert, aber er lächelte auch nicht. Er sah sich nach links um. »Hatten Sie ein Auge auf die beiden?«

Ich sah Fife eine Reihe höher durch die Sitze marschieren. »Ich bin auch gerade erst angekommen«, sagte er zu Shade. »Du musst zugeben, wenn ich sage, ich werde mich um dich kümmern, dann tue ich es auch.«

»Ich war gerade an Ihrem Verkaufsstand, um Ihnen meinen Dank auszusprechen«, erwiderte Shade und sie gaben sich die Hand. »Mit frischen Austern.«

Fife grinste. »Dann ist das jetzt meine Art, Danke zu sagen.«

»Sie haben einen Verkaufsstand auf dem Schwarzmarkt?«, fragte ich Fife. Das schien irgendwie nicht richtig zu sein, denn er war der offizielle Repräsentant der Surfgemeinschaft innerhalb des Staatenbundes.

»Natürlich«, sagte er. »Wer außer mir weiß besser, was die Surfs brauchen? Shade und ich arbeiten schon seit Jahren zusammen. Er und die Jungs liefern die Vorräte, ich verkaufe sie und die Surfs kaufen sie. Jeder gewinnt dabei.«

»Sie wollten Shade beauftragen, unser Geschäft mit der Drift platzen zu lassen und die Ernte zu stehlen!«

Fifes Augenbrauen wanderten überrascht in die Höhe. »Das ist eine schwere Anschuldigung.«

Zumindest stritt er es nicht ab. »Dann ist das Ihr Verkaufsstand, an dem der Seetang verkauft wird, oder? Aber Shade wollte es nicht für Sie stehlen. Als er sich geweigert hat, haben Sie die Surfs der Drift gezwungen, es zu tun.« Mein Ärger wuchs, denn jetzt fügten sich alle Teile zusammen. »Sie haben die ganze Zeit gewusst, wo meine Eltern sind, weil Sie Hadal dazu gezwungen haben, sie zu entführen!«

»Nun mal langsam«, rief Fife und hob die Hände. »Als Nächstes behauptest du noch, ich hätte Präsidentin Warison ermordet. Also, ich gebe zu, dass ich nicht nach der Herkunft der Waren frage, die ich in den Hardluck Ruinen verkaufe.« Er und Shade wechselten einen belustigten Blick. »Aber soweit ich weiß, läuft das alles legal ab. Jemanden zu entführen, nun, das ist ziemlich weit davon entfernt, legal zu sein. Das würde ich nicht tun, ich würde auch nicht jemand anders dazu anstiften.«

»Sie haben uns dazu gebracht, ihn aus dem Gefängnis zu befreien.« Gemma zeigte auf Shade.

»Ich habe euch nicht darum gebeten«, erwiderte Fife ruhig.

Ich wusste, dass mein Schein noch stärker zu leuchten begann. Ich schämte mich, weil wir so dumm gewesen waren. Fife und Shade hatten uns nur benutzt. Ich zwang mich, ruhig zu bleiben und fragte Shade: »Woher wusstest du, dass wir dich befreien würden?«

»Ich konnte mir denken, dass ihr mich dort nicht verrotten lassen würdet.« Sein Blick wanderte zu Gemma. »Vor allem, wenn man ein so geübter Taschendieb ist.«

Fife grinste. »Ich habe nicht einmal bemerkt, dass du den Schlüssel geklaut hast.«

Gemma wurde rot vor Zorn. »Warum haben Sie ihn nicht einfach selbst rausgeholt?«

»Ein Bürgermeister, der einen Flüchtling freilässt?«, erwiderte Fife mit gespieltem Entsetzen. »So können an die Hundert Festlandbewohner schwören, dass ich während des Ausbruchs das Sonnendeck nicht verlassen habe. Ich habe nicht einmal Ratter eingeweiht. Er ist ein grandioser Schlägertyp, aber ein schrecklicher Schauspieler.« Er sah mich an. »Tut mir leid, dass du in das Becken mit den Neunaugen tauchen musstest. Entschuldige.«

»Das Becken mit den Neunaugen?«, spottete ich. »Was ist mit dem Krokodilbecken? Wollen Sie sich bei diesen Menschen auch entschuldigen?«

»Wofür? Ich biete ihnen eine einmalige Gelegenheit. Ich kann mich nicht erinnern, dass du ein Problem mit dem Boxkampf hattest.«

»In einem Boxring sterben die Leute normalerweise auch nicht.«

»In diesem Ring schon. Andauernd. Doch es steht den Surfs frei, in den Ring zu steigen oder nicht. Dasselbe gilt für das Stadion. Niemand zwingt sie dazu, ins Wasser zu springen.«

»Ihre Lebensumstände zwingen sie dazu«, entgegnete ich kalt.

»Und was verursacht ihre Lebensumstände?«, fragte Fife demonstrativ. »Vielleicht eine Verordnung, die ihnen nicht erlaubt, auf dem Kontinentalschelf zu fischen?«

Vor Scham wäre ich am liebsten im Erdboden versunken. Darauf hatte ich keine Antwort.

»Da ist unsere Mitfahrgelegenheit«, sagte Shade und zeigte auf den Bereich des Stadions, der in Trümmern lag. Jetzt war der Zweck des Stacheldrahtzauns, der diese Lücke versperrte, offensichtlich. Er hielt die Krokodile davon ab, in den Ozean zu entkommen. Jenseits des Zauns schnitt eine riesige Flosse durch die Wellen. Die Specter.

Fife seufzte und blickte zu Shade hinüber. »Es bricht mir das Herz, dass du den Ring so schnell nicht wieder betreten wirst.«

»Nie wieder.«

»Du hättest die Zuschauer in Horden angelockt. Nun ja, bleiben wir also bei unserer üblichen Vereinbarung?«

»Innerhalb einer Woche sollte ich wieder etwas für Sie haben«, bestätigte Shade.

Allein ihnen zuzuhören, weckte bei mir schon den Wunsch, einfach ins Meer zu springen und abzuhauen.

Fife winkte mit seinem Hut dem Luftschiff zu, das über dem Stadion schwebte. Zur selben Zeit machte sich Shade in die entgegengesetzte Richtung auf den Weg zur Specter.

»Als Nächstes denke ich über ein Ozean-Rodeo nach«, sagte Fife und sah mich an. »Delfine mit einem Seil einfangen, auf Orcas reiten und solche Dinge«, fuhr er fort, während sich eine Leiter neben ihm ausrollte, die aus dem Luftschiff geworfen worden war. »Das könnte eine Show werden. Zu schade, dass du noch nicht achtzehn bist.« Er tippte an seinen Hut, stieg die Leiter hinauf und kletterte durch eine offene Luke in die Fahrgastzelle des Luftschiffs.

Gemma machte auf dem Absatz kehrt und eilte Shade hinterher, der bereits am Rand des Trümmerhaufens stand. Doch bevor sie ihn erreichte, sprang Shade schon von Brocken zu Brocken, bis er am Stacheldrahtzaun angekommen war. Er kletterte darüber und stand nun auf der Meerseite der Trümmerwand. Gemma und ich folgten ihm etwas vorsichtiger.

Die Specter steuerte auf das Stadion zu, Pretty stand auf der Brustflosse und schwang ein Seil mit einem Enterhaken am Ende. Als das U-Boot die Lücke aus Trümmern und Schutt erreichte, ließ er den Haken durch die Luft sausen. Mit einem dumpfen Aufschlag landete er vor dem Stacheldrahtzaun und schrammte an den Gesteinsbrocken entlang, bis er sich irgendwo verfangen hatte.

»Wie kannst du mit einem Mann Geschäfte machen, der solche Wettkämpfe veranstaltet?«, fragte Gemma Shade, als sie neben ihm angekommen war.

»Bring sie noch etwas näher«, rief Shade nach unten, dann wandte er sich an Gemma. »Fife bezahlt am meisten für unsere Ladung.«

»Das ist doch keine Entschuldigung. Es passiert direkt vor deiner Nase«, sie zeigte mit dem Finger auf das überflutete Stadion, »und du tust nichts dagegen.«

»Schlag niemals eine Münze aus«, erwiderte Shade unbeeindruckt. »Und das werde ich auch nie.«

Pretty benutzte das baumelnde Seil, um an der Schuttmauer hinaufzuklettern. Oben angekommen, richtete er sich auf. Sein langes Haar schimmerte silbern im Mondlicht. »Wir müssen zusehen, dass wir Kielwasser gewinnen«, sagte er zu Shade und reichte ihm das Seil. »Diese Skimmer kreisen hier immer noch herum.«

»Ich komme nicht mit euch«, sagte ich.

»Willst du von hier wegfliegen?« Shade klang amüsiert.

»Ich werde mir eins der geflickten Boote von den Surfs ausborgen und wegrudern.«

»Mach, was du willst.« Shade hielt Gemma das Seil hin. Als sie nicht danach griff, runzelte er die Stirn. »Ich werde dich absetzen, wo immer du willst.«

»Ich bleibe bei Ty.«

»Wenn du glaubst, ich lasse dich auf einem Haufen Müll hier rauspaddeln, dann liegst du falsch.«

Einige Mitglieder der Seablite-Gang standen auf der Brustflosse der Specter und sahen zu, wie sich Gemma langsam von Shade entfernte.

»Du hast fünf Sekunden, um auf dem einfachen Weg an Bord zu gehen«, warnte er sie. »Oder wir machen es auf die harte Tour.«

»Dunkles Leben«, mischte sich Pretty plötzlich ein. »Weißt du, wie man segelt?«

»Wie bitte?«

»Mit einem Boot. Auf dem Wasser. Segeln«, sagte er trocken.

»Ja, ich kann segeln.« Ich hatte es auf der Seacoach gelernt, als ich jünger war.

»Die Surfs bewahren Segel und Takelage an der Rückseite des ersten Gebäudes in südlicher Richtung auf«, sagte er. »Folge einfach der Mauer und du wirst darauf stoßen.«

»Danke«, sagte ich und fragte mich, ob seine Angaben ehrlich waren. Das letzte Mal, als Pretty und ich eine Unterhaltung geführt hatten, hatte er mich mit einem Messer bedroht.

Jetzt wandte er sich zu Shade um und sagte leise: »Sie wird um sich treten und schreien, wenn du sie gewaltsam an Bord schleppst. Willst du sie wirklich auf dumme Ideen bringen?« Er nickte knapp in Richtung der zuschauenden Outlaws.

»Willst du jetzt mein Gewissen spielen?« Shades Tonfall hatte eine gefährliche Schärfe.

Pretty gab nach. »Dafür zahlst du mir nicht genug. Tu, was du willst.«

Shade richtete den Blick auf Gemma. »Wenn du jetzt bockst, bekommst du keine zweite Chance. Hast du verstanden?«

Sie nickte.

»Also, kommst du mit uns?«

»Nein«, sagte sie bestimmt.

Er tippte sich an den Kopf, als wollte er sagen »so sei es«, dann wandte er sich ab, um an dem Seil zur Specter hinabzuklettern.

»Tja, Kamerad«, spottete Pretty und sah mich an. »Wenn ihr irgendetwas zustößt, wird er uns beide töten.«

»Ich werde nicht zulassen, dass ihr etwas geschieht.«

»Dann hau endlich ab, bevor Fife entscheidet, dass du zu viel gesehen hast. Er hat Ratter schließlich nicht wegen seiner Rechenkünste eingestellt.«

»Pretty!«, rief Eel. Er stand nur noch allein auf der Flosse und hielt die Luke offen. »Du solltest dich beeilen, oder er lässt dich zurück und du musst mit den Krokodilen schwimmen.«

Fluchend machte Pretty einen großen Satz und landete auf der Flosse. Kaum war die Luke hinter ihm geschlossen, tauchte das U-Boot auch schon ab.

»Ich habe mich in ihm geirrt«, sagte ich und sah dabei zu, wie die Specter verschwand.

»Meinst du Pretty oder meinen Bruder?«, fragte Gemma traurig.

»Komm.« Ich nahm ihre kalte Hand. »Lass uns von hier verschwinden.«

Die Boote, die am Schuttwall zusammengebunden waren, wurden nicht bewacht. Ich wählte das stabilste aus, natürlich mit dem Vorsatz, es bei der ersten Gelegenheit zurückzubringen, und wir kletterten hinein. Wir paddelten aus dem Lichtkreis des Stadions in die drückend heiße Dunkelheit hinaus und richteten uns nach Süden.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Gemma, die vorn im Boot saß. »Warum hat uns Gabion hierhergeschickt?«

»Er hat gehört, wie ich Kommandantin Revas gefragt habe, wieso die Drift meine Eltern entführt hat. Ich glaube, er wollte mir den Grund zeigen.«

»Keiner weiß, wie schwer es die Surfs haben.«

»Weil viele Dinge zusammenkommen – die Siedler bestehen auf der Verordnung, die Staaten lassen die Townships nicht in die Nähe ihrer Küsten und die Regierung kürzt die monatlichen Rationen. Niemand hat das ganze Ausmaß vor Augen.«

»Oder schert sich darum«, fügte sie hinzu.

Wir erreichten das erste Gebäude, das sich südlich des Stadions befand. Es lag etwas höher, trotzdem war nur ein Stockwerk über dem Wasser zu sehen. Wir umrundeten es und entdeckten einen breiten Zugang an der Rückseite. Er führte in einen riesigen Raum, der wahrscheinlich einst als Lagerhalle gedient hatte. Taschenlampen waren mit Schnüren an die Stützbalken gebunden und verursachten gespenstische Lichtflecken auf dem Wasser.

Obwohl wir aufgehört hatten zu paddeln, trieb unser Boot im ruhigen Wasser weiter vorwärts. An der Rückseite und an beiden Längsseiten der großen Halle trieb jeweils ein Schwimmdock. Alle drei waren vollgepackt mit Bootszubehör – Masten und Segel, aufgestapelte Fischfallen, Paddel und Kisten. Wir befestigten unser Boot an dem hinteren Dock und kletterten hinaus.

»Ich könnte wetten, dass sie vor Tagesanbruch hier immer alle Boote festmachen«, sagte ich, als ich die lange Reihe der Klampen entdeckte, die an jedem Dock angebracht waren. »Wir sollten uns also lieber beeilen. Ich will nicht mehr hier sein, wenn die Surfs zurückkommen.«

Gemma band eine der Taschenlampen los und leuchtete die Umgebung ab, während ich ein zusammengerolltes Segel von einem Stapel an der Wand heranschleppte.

Als ich hörte, wie sie nach Luft rang, blickte ich auf und sah, wie sie mich entsetzt anstarrte. »Was ist?« Ich drehte mich um, doch ich entdeckte nur aufgestapelte Takelage.

»An der Wand«, presste sie mit unterdrückter Stimme hervor. Sie richtete den Schein der Taschenlampe über meine Schulter und strahlte ein Wort an, das in großen, unregelmäßigen Buchstaben auf den rissigen Beton gemalt war – SURGE.

Bevor ich daraus schlau wurde, fuhr Gemma mit dem Lichtstrahl an der Wand entlang, bis sie auf ein weiteres Wort stieß: FIDDLEBACK.

Mehr war an dieser Wand nicht zu finden und sie richtete die Taschenlampe auf die andere Seite der Verladerampe. Sie sprach den Namen des nächsten Townships aus, bevor sie ihn gefunden hatte: »Nomad.«

Und dort stand das Wort in krakeligen Buchstaben über dem Schwimmdock.

Die Hitze im Inneren der Lagerhalle wurde unerträglich. »Vielleicht haben die Surfs die Namen der vermissten Townships zu ihrem Gedenken an die Wand geschrieben«, überlegte ich laut.

»Sieht die Schrift in deinen Augen respektvoll aus? Oder wirkt sie nicht eher so, als würde man Leuten damit Angst einjagen wollen?«

»Angst einjagen oder warnen«, stimmte ich ihr zu. »Lass uns hier abhauen.«

Ich ließ den Blick noch einmal durch die dunkle, tropfende Halle wandern, dann zog ich das Moskitonetz vom Bootsmast und takelte das Segel an seiner Stelle auf. Gemma leuchtete weiter mit der Taschenlampe über die Berge aus Zubehörteilen, bis ihr etwas hinter einem Vorhang aus Fischernetzen ins Auge fiel, die zum Trocknen aufgehängt waren. Langsam wagte sie sich in diese Ecke vor.

»Gemma, komm zurück!«, rief ich ihr im Flüsterton nach. Das Licht brauchte ich nicht, aber sie war schon ziemlich weit entfernt, und das beunruhigte mich.

»Ich glaube, ich habe noch mehr Schriftzüge entdeckt«, sagte sie.

»Komm zurück«, ließ ich nicht locker. »Ich bin fertig. Lass uns verschwinden.«

Ich schaute mich zum Eingang um, weil ich fast schon erwartete, eine Flotte aus Booten der Surfs ankommen zu sehen. Das war zwar nicht der Fall, aber was ich dort sah, brachte mein Herz fast zum Stillstand.

»Ty, sieh mal.« Gemma hatte die Fischernetze zur Seite gezogen. »Hier steht Drift

»Verdammt«, murmelte ich und suchte verzweifelt nach einer Waffe.

»Was ist los?«, fragte sie.

Ich zeigte auf das Wasser, wo eine Bugwelle, wie von einem unsichtbaren Schiff verursacht, in die Andockstelle strömte. »Ein Krokodil.« Nur die Nasenlöcher ragten aus dem Wasser. Doch der Größe der Welle und der Breite der Schnauze nach zu urteilen, musste das Viech fast sechs Meter lang sein.

Gemma ließ das Fischernetz zurückfallen. »Oh Scheiße.«

Die Kreatur schwamm einen weiten Kreis zwischen den Docks und kehrte zum Eingang zurück.

»Alles okay«, flüsterte Gemma mehr zu sich selbst als zu mir. »Es schwimmt wieder weg.«

Doch es schwamm nicht wieder weg. Es hielt in der Mitte des Gebäudezugangs an und ließ sich dort treiben, als wollte es uns herausfordern.

»Selbst wenn wir im Boot sitzen, sind wir ihm ausgeliefert, stimmt’s?«, fragte sie, obwohl klar war, dass sie die Antwort bereits kannte.

»Ich würde nicht mal versuchen, in einem Rennboot an dem Biest vorbeizukommen, daran vorbeizusegeln, wenn es hier drin keinen Wind gibt, können wir vergessen.«

»Und es kann jederzeit hier raufklettern, wenn es will, oder?« Sie überflog das Schwimmdock mit einem hastigen Blick. »Antworte lieber nicht.«

»Such nach einer Harpune oder einem Speer«, sagte ich und wandte mich zur hintersten Ecke um. Doch da wurden mir plötzlich die Beine weggeschlagen und ich fiel der Länge nach hin.

Ich dachte zuerst, das Krokodil hätte sich blitzschnell herangepirscht, aber als ich mich mit einem erstickten Schrei wieder aufrichtete, stand ein Mann über mir, der seinen rostigen Dreizack auf meine Brust gerichtet hatte. Hadal. Mit seiner schorfigen, haarlosen Haut und den Hörnern sah er eher wie ein Monster als ein Mensch aus.

»Ich habe keine andere Wahl«, presste er mühsam hervor und hob den Arm, um mich aufzuspießen.

»Sie wurde am Meeresboden verankert, oder?«, platzte es aus mir heraus, denn jetzt fügten sich alle Teile blitzschnell zusammen. »Deshalb steht Drift an der Wand.«

Er erstarrte, hielt die Waffe weiterhin erhoben, stieß sie jedoch nicht in meine Brust.

»Jemand hat die Luken von außen zugekettet, die Motoren außer Kraft gesetzt und sie in der Tiefe versenkt.« Das war nur eine Vermutung, aber sie fühlte sich richtig an. »Und Sie wissen nicht wo.«

»Ja«, sagte er so leise, dass es auch nur ein Atemzug hätte gewesen sein können. »Und alle sind darin gefangen«, fügte er hinzu und fuhr sich mit der Hand über den kahlen Kopf, als würde er einen Gedanken wegwischen wollen. »Auch meine Tochter.«

»Wer tut so etwas?«, fragte ich, ohne einen Fluchtversuch zu unternehmen. »Wer versenkt Townships?«

Hadal senkte den Dreizack. »Fife.«

Das war keine große Überraschung. Mein Sprung in das Krokodilbecken hatte auch meinen Blickwinkel verändert. Jetzt sah ich Fifes freundliches Schauspiel als das, was es war: ein Schauspiel. »Er hat Sie beauftragt, mich zu töten?«

Mit einem Kopfnicken trat Hadal zurück und ließ mich aufstehen. »Schon auf Rip Tide. Doch ich kam stattdessen hierher, weil ich dachte, die Meereswache würde die Drift vielleicht rechtzeitig finden …« Seine Worte klangen voller Groll und er beobachtete das Krokodil, das, nur mit den Augen und der Schnauze aus dem Wasser ragend, noch immer den Zugang blockierte.

Leise trat Gemma zu uns.

»Wo sind meine Eltern?«, fragte ich.

Hadal wandte sich von mir ab und lief zum Rand des Schwimmdocks. »Fife hat vor, sie heute Abend im Garten der Surfs zurückzulassen. Auf diese Weise kann er uns Surfs die Schuld in die Schuhe schieben.«

Seine Worte zerrissen mich fast. »Sind sie tot?«

Schweigend sah Hadal dabei zu, wie das Krokodil, ohne eine Spur zu hinterlassen, unter Wasser glitt. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich.

Ich zwang mich, nicht überzureagieren – keine Panik, keine Trauer, nichts –, ich wollte nur auf die Stimme in meinem Kopf hören. Ich musste so schnell wie möglich zum Garten der Surfs. Aber wie? Sollte ich die Specter zurückrufen?

Hadal starrte uns an und wirkte dabei so gequält, dass meine Gedanken verstummten. »Wenn ich dich töte, wird das die Drift auch nicht retten.« Seine Stimme klang so rau, als stecke er in einem Würgegriff. »Fife wird die Drift niemals freigeben. Sie ist eine Warnung für die anderen Townships – und ich bin der lebende Beweis.«

Er erhob erneut den Dreizack. Schnell zog ich Gemma hinter mich und verfluchte mich dafür, dass ich nicht längst in Deckung gegangen war.

Doch er stieß wieder nicht zu, sondern drehte die Waffe in den Händen. »Ich sollte Fife töten …«, knurrte er und packte den Schaft noch fester. Dann trafen sich unsere Blicke. »Vielleicht ist es für dich noch nicht zu spät. Vielleicht kannst du deine Familie noch retten, wenn du jetzt lossegelst.« Er ließ die Zacken des Dreizacks nach unten schnellen. »Du musst vor der Flut dort sein.«

In diesem Moment brach das Krokodil aus dem Wasser hervor.

Hadal ließ den Dreizack auf den Schädel der Kreatur niedersausen, doch die rasiermesserscharfen Klingen prallten daran ab, als wären sie auf einen Felsen getroffen. Mit einer blitzschnellen Bewegung schnappte das Krokodil nach Hadals Bein und zog ihn vom Dock. Einen Wimpernschlag später war im aufgewühlten Wasser nur noch eine Wolke aus Blut zu sehen.

Ich taumelte zurück, hörte Gemmas erstickten Schrei und fühlte, wie sie sich an mich klammerte. Ich drehte mich zu ihr und hielt sie fest.