16

Gemma und ich beobachteten, wie Kommandantin Revas auf der obersten Stufe der Treppe stehen blieb und einen Schlüssel aus ihrer Tasche zog. »Wir müssen bereits jetzt abfahren und unser U-Boot kann keinen Gefangenen aufnehmen. Wenn Shade flüchten sollte, bevor ich zurückkomme«, fuhr sie fort, als auch Fife das Deck erreicht hatte, »werde ich Sie dafür zur Verantwortung ziehen.« Sie drückte dem Bürgermeister den Schlüssel in die Hand.

»Was immer Sie sagen, Kommandantin.« Fife lächelte zwar, aber ihm war anzusehen, dass er verärgert war. »Und was macht die Suche nach den beiden anderen Townships?«

Ich sah, wie sich Revas’ Gesichtszüge verfinsterten, dann ließ sie ihn ohne ein Wort stehen. Sobald sie an uns vorbeimarschiert war, schlüpfte ich aus unserem Versteck und gesellte mich zu Fife.

»Ich sehe überhaupt nicht ein, warum das meine Aufgabe sein soll«, meckerte Fife und steckte den Schlüssel weg. »Ich habe Shade nicht verhaftet«, rief er Revas hinterher. »Ich wollte nicht mal, dass er verhaftet wird!« Als darauf keine Reaktion kam, zuckte Fife mit den Schultern.

Gemma trat zu uns und runzelte die Stirn. »Die Kommandantin schien nicht besonders erfreut, als Sie die Townships erwähnt haben.«

»Ich wollte mich nur ein wenig über sie lustig machen.«

»Das ist aber kein bisschen lustig.«

Fife sah Gemma überrascht an. »Du denkst, dass mir diese Surfs egal sind? Ich war der Einzige, der ihr Verschwinden überhaupt bemerkt hat. Ich war derjenige … Ratter, nein!«, rief er plötzlich und winkte wie wahnsinnig an uns vorbei.

Als wir uns umdrehten, schubste Ratter gerade einen Mann über die Brüstung und ließ ihn schreiend ins Meer stürzen. Kurz darauf war aus der Tiefe der Aufschlag auf dem Wasser zu hören, doch bei der Musik schien niemand sonst auf dem Sonnendeck etwas mitbekommen zu haben.

Fife sah Ratter fassungslos an, doch der zuckte nur die Schultern. »Sie haben gesagt, dass ich mich um die Störenfriede kümmern soll.« Er nahm eine Schwimmweste von der Wand und warf sie, ohne hinzuschauen, dem Mann hinterher. »Der schafft das schon. Er war noch nicht ganz betrunken.«

Mit diesen Worten machte sich Ratter davon, während Gemma und ich zur Brüstung eilten und sahen, wie der Mann sich an die Schwimmweste klammerte und in Richtung Küste paddelte. Anstatt selbst nachzusehen, beobachtete Fife, wie wir erleichtert zurückkamen, und entspannte sich. »Setzen wir uns«, sagte er und zeigte auf einen der Bistrotische. »Dann erzähle ich euch etwas über die vermissten Townships, wenn euch das interessiert.«

Die Tatsache, dass er Ratter nach diesem Vorfall nicht sofort feuerte oder wenigstens zurechtwies, ärgerte mich. Aber ich wollte etwas über die Townships erfahren, also folgte ich Fife durch die Menge. Gemma lief neben mir und es schien, als hätte auch bei ihr die Neugier gesiegt.

Als wir uns an den Tisch setzten, bemerkte ich, dass alle Leute um uns herum leuchtend blaue Lippen und Zähne hatten. War das eine weitere seltsame Mode der Topsider? Dann entdeckte ich einen Tisch in der Mitte des Cafés, auf dem sich Muscheln türmten – Bohrmuscheln, um genau zu sein. Die Art von Muschel, die phosphoreszierenden Schleim verspritzen konnte. An den umliegenden Tischen waren die Leute dabei, die Bohrmuscheln aufzubrechen und auszuschlürfen, und dann grölten sie vor Lachen, wenn der leuchtende Glibber von ihrem Kinn tropfte.

Ohne auf das alberne Gehabe der Partybesucher zu achten, begann Fife mit seinen Ausführungen. »An jedem Ersten eines Monats tauchen die Townships vor Rip Tide auf, um ihre Rationen abzuholen, egal bei welchem Wetter. Als die Fiddleback eines Tages nicht erschien, teilte ich der Meereswache mit, dass etwas Tragisches passiert sein musste. Diese Townships konnten es sich nicht leisten, auch nur eine Monatsration auszulassen. Doch die Meereswache tat gar nichts. Sechs Monate später war es die Surge, die nicht mehr auftauchte. Wieder habe ich die Meereswache informiert – nichts. Als schließlich in diesem Monat die Nomad nicht aufkreuzte, schickte die Meereswache die junge Kommandantin Revas, um Nachforschungen anzustellen. Ich kann nicht sagen, dass ich besonders beeindruckt bin. Ich habe gehört, ihr zwei habt die Nomad gefunden.« Fife rief einen Kellner. »Bring mir ein Glas gezuckerten Seetangwein. Und für euch«, er sah uns an, »Rotalgenmilchshakes?«

»Nein, danke«, erwiderte ich schnell, denn ich wusste, dass Gemma die moosigen roten Meeresalgen hasste, insbesondere, wenn sie als würziges, gallertartiges Getränk serviert wurden.

»Warum sollte jemand so etwas tun?«, fragte Gemma. »All diese Menschen töten?«

»Ich denke, bei diesem Thema sollte ich lieber meinen Mund halten oder ich ende womöglich auch noch verankert am Meeresboden.«

»Wir werden Sie nicht verraten«, versicherte sie ihm.

Seufzend lehnte sich Fife über den Tisch. »Es ist nur eine Vermutung, aber ich glaube, bestimmte Regierungsbeamte könnten es satthaben, ein Abkommen zu erfüllen, das vor acht Jahren unterzeichnet wurde.«

Gemma warf mir einen vielsagenden Blick zu. Hab ich doch gleich gesagt, schien sie damit ausdrücken zu wollen.

»In den letzten Jahren hat der Staatenbund immer weniger Rationen geschickt. Die Surfs kommen damit kaum über die Runden. Als ich mich nach dem Grund erkundigte, wurde mir nur gesagt, dass der Befehl, die Rationen zurückzuschrauben, von ganz oben kam. Es würde mich nicht wundern, wenn von dort auch noch ganz andere Befehle erteilt worden wären.«

»Wie zum Beispiel ein Township zu versenken?«, fragte ich ungläubig. »Niemand würde einen solchen Befehl befolgen.«

»Die Geschichte sagt etwas anderes«, entgegnete Fife. »Betrachte es mal auf diese Weise: Wer profitiert denn davon, wenn die Surfs nicht mehr existieren? Nur die Regierung.« Plötzlich breitete sich ein herzliches Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Oh, hallo, Herr Abgeordneter. Haben Sie nicht Lust, sich zu uns zu setzen?«

Ich drehte mich um und sah Tupper hinter mir auftauchen. Fife warf uns einen verschwörerischen Blick zu – als müsste er uns sagen, dass wir in Tuppers Gegenwart den Staatenbund nicht kritisieren sollten.

»Nein, ich bin auf dem Weg zum Festland«, sagte Tupper. Durch die inzwischen völlig verschmierte Zinksalbenbemalung wirkte sein Äußeres ziemlich befremdlich – als würde sein Gesicht zerlaufen. »Aber als ich Sie mit dem Townson-Jungen sah«, fuhr er fort, »musste ich rüberkommen. Sie haben ihm alles gesagt, was er wissen wollte, oder?«

Fife sah mich an. »Ich denke, ich habe Ty mehr als das erzählt.«

Tupper klopfte mir auf den Rücken. »Gut, ich habe mir nämlich ein paar Gedanken über die Situation deiner Eltern gemacht, junger Mann. Wie sieht das denn in den Augen der Öffentlichkeit aus, wenn die Surfs so dreist sind und zwei Gründer der unterseeischen Siedlungen entführen? Womöglich könnte das sogar Auswirkungen auf die weitere Entwicklung des Algenanbaus haben. Und ich kann dir versichern, dass das niemand will.«

Ich spürte, wie mein Ärger wieder wuchs. In Tuppers Augen war die Entführung meiner Eltern nur ein Problem für die Öffentlichkeit.

»Aus diesem Grund habe ich Kommandantin Revas angewiesen, mich über alles auf dem Laufenden zu halten«, fuhr er fort. »Wenn sie nicht in der Lage ist, deine Eltern innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden zurückzubringen, werde ich den Fall als terroristischen Akt einstufen«, endete er großspurig.

»Wozu sollte das gut sein?«, fragte Gemma.

»Meine Kleine, ein terroristischer Angriff kann nicht ignoriert werden. Weder von den Abgeordneten der Staaten noch von der Öffentlichkeit. Die Surfs werden sich entscheiden müssen: Entweder lassen sie Tys Eltern frei oder sie gelten ab sofort offiziell als Feind des Staatenbundes.«

»Warum noch vierundzwanzig Stunden warten?« Ich sah Tupper jetzt direkt an. »Warum üben Sie nicht gleich Druck auf die Regierung aus?«

»Ihr führt wirklich ein bäuerliches Leben dort unten am Meeresboden«, erwiderte er belustigt. »Ich kann doch nicht mit einem Wort wie »Terrorismus« um mich werfen, ohne zuerst die Genehmigung der Versammlung einzuholen. Vertraulich, versteht sich. Ich würde doch nicht den »Überraschungseffekt« meiner Rede verderben wollen. Also, gute Nacht alle miteinander.«

Die Party auf dem Sonnendeck war noch lauter geworden. Die Musik, das Gelächter, sogar das Zuprosten.

Fife betrachtete mich mit unverhülltem Interesse. »Ich wusste gar nicht, dass deine Eltern so wichtige Leute sind.«

»Sind sie auch nicht«, sagte ich. »Sie sind einfach nur unterseeische Farmer. Aber für mich sind sie wichtig.«

»Und für mich«, sagte Gemma.

Fife erhob sich. »Also, ich muss jetzt los, um jemanden zu finden, der unseren Gefangenen bewacht.« Er warf mir einen mitfühlenden Blick zu. »Ich weiß, dass Shade ein Freund von dir ist. Er ist auch mein Freund. Aber mir sind die Hände gebunden. Das verstehst du doch, oder?«

Ich nickte, während Gemma ihren Sari zurechtzupfte.

»Kann ich Sie kurz etwas fragen?«, wagte ich mich vor.

»Natürlich.« Fife bedeutete uns, mit ihm zu kommen.

»Ich muss zu den Hardluck Ruinen.« Fife hob die Augenbrauen, doch ich ignorierte das. »Sie wissen doch, wo das ist, oder?«

»Ja, das weiß ich …« Seine Überraschung verwandelte sich in Misstrauen. »Und was genau willst du dort kaufen?«

»Nichts. Ich glaube einfach, dass ich dort Hinweise finde. Auf die Drift

Fife blieb plötzlich stehen. »Wer hat dir denn diesen Floh ins Ohr gesetzt?«

»Gute Frage«, mischte sich Gemma ein und warf demonstrativ das lose Ende ihres Saris über die Schulter.

»Wen juckt das schon? Entscheidend ist doch, dass ich meine Eltern finde.«

»In den Hardluck Ruinen gibt es keinen Infostand, an dem du nach ihnen fragen könntest«, sagte Fife. »Es ist ein Ort, an dem die Worte ›gefährlich‹ und ›widerwärtig‹ einen guten Tag beschreiben.«

»Ich bin alt genug, um selbst zu entscheiden, worauf ich mich einlasse.«

»Wenn das mal nicht nach den ›berühmten letzten Worten‹ klingt.«

Er musterte mich, doch ich verzog keine Miene.

»Also gut. Ich werde Revas sagen, dass sie ein paar Gardisten hinschicken soll, um das zu überprüfen. Das ist deren Aufgabe.«

»Ich habe Kommandantin Revas bereits um Hilfe gebeten. Sie hat andere Prioritäten.«

»Da magst du Recht haben«, sagte Fife. »Aber ich werde nicht zulassen, dass du dich für nichts und wieder nichts in tödliche Gefahr begibst. Insbesondere, wenn du mir nicht sagen willst, wer dich auf diesen Gedanken gebracht hat. Das lässt mich nämlich vermuten, dass dir jemand eine Falle stellen will.« Mit diesen Worten tippte er an seinen Hut und lief auf einen Tisch voller lärmender Männer zu, unter denen sich auch Ratter befand.

»Gabion«, stieß Gemma hervor.

Fife drehte sich um. »Wie bitte?«

»Was denn?«, sagte sie, als mein Blick sie traf. »Er hat nicht gesagt, dass wir es niemandem verraten dürfen.«

Gabion hatte ja auch keine Zeit gehabt, uns viel mitzuteilen, aber es war offensichtlich gewesen, dass er nicht dabei erwischt werden wollte.

»Wie kommst du darauf, dass Gabion irgendetwas weiß?«, wandte sich Fife an mich.

»Es ist der einzige Hinweis, den ich habe.«

»Aber wenn er dir eine Falle stellen will, ist es kein Hinweis mehr«, bemerkte Gemma. »Er hat versucht, dich da draußen auf dem Floß bewusstlos zu schlagen. Wieso sollte er dir plötzlich helfen wollen?«

»Schlaues Mädchen«, sagte Fife. »Und ich sage dir auch, warum sie zu Recht misstrauisch ist. Du hast ihn aus dem bestbezahlten Kampf rausgehauen, den er jemals hatte. Dieser Mann kann nicht sprechen, er kann weder lesen noch schreiben. Der Boxring war seine einzige Chance, viel Geld zu verdienen und du, ein Junge – ein Siedler –, hast ihn vor allen gedemütigt. Ich bin sicher, dass er dir das heimzahlen will.«

»Er kam mir aber kein bisschen rachsüchtig vor«, erwiderte ich.

»Weil er dich erst an einen Ort locken will, wo er dich ungehindert zu blutigem Brei schlagen kann«, sagte Gemma, als läge das auf der Hand.

»Oder Schlimmeres«, fügte Fife freundlich hinzu.

Mir wurde kalt ums Herz. Wenn man es auf diese Weise betrachtete, ergab ihr Verdacht weit mehr Sinn, als zu glauben, Gabion hätte ein wohlwollendes Interesse an meinen Problemen.

»Tut mir leid, mein Sohn. Aber ich kann dir die Koordinaten der Hardluck Ruinen nicht geben. Ich möchte keinen Selbstmord unterstützen.«

Mit diesen Worten ließ er uns stehen und meine letzte Hoffnung löste sich in Luft auf. Wer wusste sonst noch, wo sich der Schwarzmarkt der Surfs befand? Jedenfalls kein Siedler, das stand fest. Und falls Kommandantin Revas es wusste, wäre die Wahrscheinlichkeit, dass sie mir die Lage verriet, noch geringer als bei Fife.

Gemma sah mich an, doch ich konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. »Was?«

Sie antwortete, indem sie die Hand öffnete und mir einen Schlüssel zeigte.

Ich schnappte nach Luft. »Den hast du aus Bürgermeister Fifes Tasche!« Eigentlich hätte ich nicht besonders überrascht sein dürfen. Ich hatte schon einmal gesehen, wie sie diesen Trick anwendete.

»Wenn wir Shade nicht zur Flucht verhelfen, wird die Seablite-Gang hinter dir her sein.«

Vermutlich war das nicht der wahre Grund, weshalb sie ihren Bruder befreien wollte, aber das sagte ich nicht.

»Und mal davon abgesehen«, fuhr sie fort, »kann er uns vielleicht sagen, wo sich die Hardluck Ruinen befinden.«

Nachdem sie mich gerade so nachdrücklich vor Gabion gewarnt hatte, konnte ich gar nicht glauben, dass sie diesen Ort immer noch finden wollte.

Sie bemerkte meine Bedenken und seufzte. »Es ist der einzige Hinweis, den wir haben.«

»Wieso sollte Shade etwas über die Hardluck Ruinen wissen? Er ist doch kein Surf.«

»Wenn er mit seiner Gang Versorgungsschiffe ausraubt, muss er die Waren ja irgendwo verkaufen. Zum Beispiel auf einem Schwarzmarkt …«

Ich nickte. Das machte Sinn.

»Aber wir werden ihn nicht einfach nur nach dem Weg fragen«, sagte sie bestimmt. »Er muss versprechen, dass er als dein Bodyguard mitkommt.«

Ich musste zugeben, dass es nicht schaden konnte, von Shade beschützt zu werden. Ich hätte sie für ihre Klugheit küssen können. Und aus tausend anderen Gründen. Doch ich zwang mich, meine volle Aufmerksamkeit der Aufgabe zu widmen, die vor uns lag – Shade aus dem Gefängnis zu befreien.

»Okay, ich bin dabei.«

Während ich die Treppe hinabeilte, ließ ich meinen Blick über die einzelnen Decks wandern und fragte mich, wie wir aus Rip Tide rauskommen sollten. Die Seilbahn kam nicht infrage – zumindest nicht für Shade. Ich wusste, dass sich mein Schicksal unweigerlich mit den Outlaws verbinden würde, wenn wir ihn befreiten. Doch er war die einzige Person, die mir möglicherweise helfen konnte, zu den Hardluck Ruinen zu gelangen. Und nicht einmal das war hundertprozentig sicher.

Als ich die dritte Ebene betrat, rief jemand: »Hey, Junge!« Ich drehte mich um und sah Kommandantin Revas auf mich zukommen. »Was machst du immer noch hier?«

Bevor ich irgendeine Entschuldigung stammeln konnte, meldete sich einer ihrer Gardisten.

»Kommandantin, es sind alle Mann an Bord.« Er stand neben einem Enterhaken, der an der Brüstung festgemacht war.

»Dann gehen Sie«, sagte Revas zu ihm. »Ich komme gleich nach.«

Ich war überrascht, als der Gardist über die Balustrade sprang und verschwand. Ich lief hinüber und sah noch, wie er an einem Seil hinabkletterte und in die Luke eines riesigen U-Boots der Meereswache stieg.

»Wohin wollen Sie?« Ich sah Revas an.

»Wir folgen einem Hinweis.«

Ich fragte mich, ob Gabion ihr ebenfalls den Tipp gegeben hatte, zu den Hardluck Ruinen zu fahren. Doch da Gabion vorhin offensichtlich eine Begegnung mit Kommandantin Revas hatte vermeiden wollen, war das wohl eher unwahrscheinlich.

»Geht es dabei um meine Eltern?«

Sie sprach es zwar nicht aus, doch ihr Blick sagte es nur zu deutlich: Frag lieber nicht.

»Es gibt vieles, was ich dir nicht sagen kann, Ty, aber ich möchte, dass du wenigstens verstehst, warum ich Fife nicht erlauben konnte, dich als Gewinner auszurufen.«

Ich zuckte die Schultern, als sei mir das egal, obwohl ich deshalb innerlich immer noch kochte. Ich hatte ganz klar gewonnen. Etwas so Nebensächliches wie mein Alter hätte keine Rolle spielen dürfen.

»Ich kann nicht zulassen, dass ein Kind ausgebeutet wird. Nicht ein einziges Mal«, sagte sie. »Weil ein Mistkerl wie Fife dann denkt, er käme damit ungestraft davon.« Sie machte eine Pause und fügte hinzu: »Und der nächste Junge hätte vielleicht nicht so viel Glück auf dem Floß wie du.«

Ich biss die Zähne zusammen, denn sonst wäre mir herausgerutscht, dass der »nächste Junge« reine Theorie war, während die Gefahr, in der meine Eltern schwebten, echt war.

»Doch wenn das Gesetz jedes Mal hart durchgreift«, fuhr sie fort, »wissen die Halunken, dass sie es gar nicht erst versuchen sollten.«

»Sicher«, meinte ich. »Hab schon verstanden.«

»Geh nach Hause«, sagte sie noch einmal, aber weniger streng als zuvor. »Ich werde alles für deine Eltern tun, was in meiner Macht steht. Du hast mein Wort.« Sie schwang die Beine über die Brüstung und kletterte an dem Seil nach unten und in das wartende U-Boot.

Ich öffnete die Fäuste und war überrascht, wie feucht meine Handflächen waren.

Ohne noch mehr Zeit zu verlieren, schlich ich die beiden letzten Treppenaufgänge hinunter und watete durch kaltes Wasser, das mir bis zur Hüfte stand. Wie gern hätte ich jetzt meinen Taucheranzug angehabt. Doch zumindest hatte ich Gemma dazu überreden können, dass ich zum Gefängnis ging. Sie war der Meinung gewesen, Shade würde ihr wahrscheinlich eher zustimmen als mir, doch ich hatte argumentiert, dass ich mich auch in der Dunkelheit gut zurechtfand, während sie viel besser darin sei, den Wachmann auf seinem Weg nach unten aufzuhalten. Da es hier unten nicht einfach nur dunkel war, sondern überhaupt kein Licht hereindrang, war ich froh, dass sie schließlich eingelenkt hatte. Abgesehen davon würde Shade mit jedem, der den Schlüssel hatte, einen Deal eingehen, nur um aus der Zelle rauszukommen. Da war ich mir absolut sicher.

Je weiter ich kam, desto unheimlicher wurde es. Ohne meine Dunkle Gabe wäre ich verloren gewesen und völlig verängstigt, bei all dem Zischen, Poltern und Klirren, das durch das Labyrinth aus Rohrleitungen schallte. Das war eindeutig der Technikraum.

Mithilfe meines Sonars tappte ich durch die Dunkelheit und entschied mich für einen schmalen Gang in Richtung Außenwand, um dem ohrenbetäubenden Krach zu entkommen. Ich überlegte, ob es besser wäre zu schwimmen, aber das Wasser war voller Öl und Schlamm – nichts, worin ich mein Gesicht tauchen wollte.

Als ich um eine Ecke bog, schoss Dampf aus einem Rohr und drückte mich gegen eine Wand, was ziemlich schmerzhaft war. Ich taumelte weiter, ließ meine Hand über die wellige Metallwand gleiten und entdeckte, dass sie mit Pockenmuscheln übersät war – so scharf wie die Zähne eines Barrakudas. Wenn es hier Insassen mit längeren Haftstrafen gab, dann taten sie mir leid. Niemand – egal was er getan hatte – verdiente es, in diesem feuchten, dunklen, lauten Albtraum eines Gefängnisses eingesperrt zu sein.

Als sich zwei Gänge kreuzten, blieb ich stehen und fragte mich, welche Richtung ich einschlagen sollte und ob es dumm wäre, während einer heimlichen Befreiungsaktion nach Shade zu rufen. Wahrscheinlich. Aber ich wusste nicht, wie lange Gemma den Wachmann davon abhalten konnte, hier runterzukommen – insbesondere, wenn Fife erst mal entdeckt hatte, dass der Schlüssel verschwunden war. Die Klicks, die ich die Gänge hinunterschickte, offenbarten nichts weiter als tropfendes Wasser und Wände aus Metall.

Dann bemerkte ich neben dem Dröhnen ein weiteres Geräusch. Es war eine Art unregelmäßiges Pochen oder Klopfen, das immer wieder von einem metallischen Scheppern unterbrochen wurde. Als würde jemand an einer Aluminiumverkleidung rütteln … oder an einem Käfig.

Ich folgte dem Klopfen und kämpfte mich durch die überfluteten Gänge, bis an den Rand der Plattform. Die Sicht war hier etwas besser, denn das Mondlicht fiel durch die Gitter der Zellen, die längs des Korridors aufgereiht waren. Das Gefängnis wirkte, als sei es hastig errichtet worden, was insbesondere für das Gitter galt, das die Lücke zwischen der halbhohen Wand und der Decke schloss. Ein Insasse würde das Metallgitter zwar nicht zerschlagen können, aber mit genügend Zeit und Willen könnte er die Schrauben, die das Gitter hielten, vermutlich aus den Stahlträgern lösen.

Hier klangen die unregelmäßigen Schläge noch lauter und das Scheppern noch beunruhigender. Ich watete im Halbdunkel an leeren Zellen vorbei, immer weiter auf das Geräusch zu, das so heftig, so rasend geworden war, dass meine Nerven blank lagen. Wer oder was konnte so einen Lärm verursachen?

Nur eine Minute später kannte ich die Antwort: Ein großer Bullenhai schlug oberhalb der halbhohen Brüstung gegen das Gitter der Zelle. Mit seinem breiten Kopf nur knapp unter der Wasseroberfläche und der aus den Wellen ragenden Rückenflosse stieß und riss die Bestie an dem Metall. Shade saß währenddessen seelenruhig in seiner Zelle, das Meerwasser reichte ihm bis an die Brust und seine Haut leuchtete so stark, dass sie den ganzen Raum erhellte.