Der schmale Grat zwischen Selbstaufgabe und Egozentrik

In Bertolt Brechts Parabelstück Der gute Mensch von Sezuan kann sich die Protagonistin Shen Te keinem um Hilfe flehenden |26|Menschen verschließen. Bis zur Selbstaufgabe opfert sie sich in ihrem Helfersyndrom auf. Um dem eigenen finanziellen Ruin zu entgehen, erfindet sie in letzter Not den hartherzigen und skrupellosen Cousin Shui Ta, in dessen Maske sie Bittstellern entgegentritt, um ihre Interessen zu wahren. Nur durch diese Persönlichkeitsspaltung gelingt ihr das Überleben. Eine extreme Strategie, die letztlich keine Lösung ist. Brechts Theaterstück endet mit den bekannten Worten:

 

»Wir stehen enttäuscht und sehn betroffen

den Vorhang zu und alle Fragen offen.«

 

Shen Te symbolisiert die grenzenlose Güte, und Shui Ta steht für das egoistische Prinzip – und irgendwo dazwischen liegt das richtige Maß, das den Menschen davor schützt, als Opfer unterzugehen oder als Täter Schuld auf sich zu laden.

Eine weitere prominente literarische Figur, die das Dilemma zwischen Selbstaufgabe und rücksichtsloser Egozentrik anspricht, ist der Mephistopheles aus Johann Wolfgang Goethes Drama Faust. Teuflisch-geistreich nimmt dieser die Begrenztheit menschlichen Handelns ins Visier, »wenn sich der Mensch, die kleine Narrenwelt, gewöhnlich für ein Ganzes hält«. Der Mensch ist eben nicht nur gerecht, und vieles gut Gemeinte hat schon zu großem Elend geführt. Diese Paradoxie ist Mephistos Leitidee. Er versteht sich als

 

»ein Teil von jener Kraft,

die stets das Böse will und stets das Gute schafft.«

 

Das mephistophelische Prinzip greift der Philosoph und Medientheoretiker Norbert Bolz heute auf, wenn er den notwendigen gesellschaftlichen Strukturwandel mit dem Begriff des |27|»Machiavelli-Consultings« auf die Spitze treibt. Er spricht provokant von den Strategien des Bösen und von der schöpferischen Zerstörung als eigentlicher unternehmerischer Leistung, die auch Unberechenbares auslöst und damit erst Neues und Innovatives ermöglicht. Das mephistophelische Prinzip attackiert jene Besitzstandswahrer in Unternehmen, die Innovationen immer ausbremsen.

Wer Biss hat, Nein sagen kann und nicht, wie im Helfersyndrom, ständig Unterstützung signalisiert, der schützt sich davor, ein Opfer der Übervorteilung und Ausbeutung zu werden. Der erlangt außerdem viel mehr Respekt.

Nein sagen kann man lernen, ebenso die Stärke, sich durchzusetzen. Und warum sollten wir nicht sogar noch einen Schritt weitergehen und Spaß daran finden, unsere Interessen zu vertreten? Sind Sie dazu bereit oder unterliegen Sie dem Einfluss der Ethikfrage, die Ihnen – mit dem Kognitionspsychologen Kohlberg gesprochen – die postkonventionelle Moral abverlangt? Kohlberg betont, dass wir uns an den Menschenrechten und Kants kategorischem Imperativ orientieren sollen: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« Oder etwas salopper: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füge auch keinem anderen zu!

Eine wunderbare Handlungsmaxime, wenn alle Menschen Engel wären und sich daran hielten. Aber: »Glaubt man ausschließlich an das Gute im Menschen, wird dieses irreführende rosige Licht zur bitteren Enttäuschung führen«, mahnt selbst der Sozialphilosoph Erich Fromm, der als Protagonist des Guten in die Geschichte eingegangen ist. Der naive Glaube an die unbedingte Nächstenliebe verführt zur Selbstaufgabe im Helfersyndrom. Und die kann, wie wir oben schon gesehen haben, in den eigenen Ruin führen.

|28|Einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen Selbstaufgabe und Egoismus bietet ein bestimmter Bereich der Ethik: die sogenannte Strebensethik. Während die Pflichtethik uns vorschreibt, wie wir zu handeln haben, uns feste Maximen und Werte an die Hand gibt, will die Strebensethik beraten, besonders in den Situationen, in denen wir selbstverantwortlich agieren müssen. Die Strebensethik will zur Selbstkompetenz, zum Lebenkönnen befähigen. Sie rät uns zum Beispiel, in einer zwischenmenschlichen Situation auf Dauer keine einseitigen Leistungen zu erbringen, uns also nicht ausbeuten zu lassen. Sie unterstützt uns, in diesen Situationen Nein zu sagen, uns nicht mit Lob und Schmeichelei erpressen zu lassen.

Natürlich gibt es neben der Eigenverantwortung auch die Verantwortung für das Allgemeinwohl, die wir alle tragen. Es kann also nicht das Ziel dieses Buches sein, das rücksichtslose Durchsetzen der eigenen Interessen zu propagieren. Aber schon die Bibel sagt: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« – die Eigenliebe sollte also nicht zu kurz kommen. Es kommt darauf an, einen Weg zu finden, der unser eigenes Wohl mit dem der Allgemeinheit verbindet. Hilfestellung bietet dabei der Sozialphilosoph Jeremy Bentham (1748–1832), der den Utilitarismus, also die Frage, was dem eigenen Unternehmen nutzt, immer auch am Allgemeinwohl misst. Und selbst der Liebling der Wirtschaftsliberalen, Adam Smith, verlangte die »Mindestrücksichtnahme« und nicht das aggressive Gewinnstreben um jeden Preis! Der kurzfristige Sieg sei zwar verlockend, sichert aber keine Nachhaltigkeit! Hilfreich ist also ein »weitsichtiger Egoismus« – eine Denkfigur, derer sich der Utilitarismus, der Kommunitarismus, die kooperative Ethik und andere Denkweisen bedienen –, er verbindet die eigenen Interessen mit dem Gedanken der Nachhaltigkeit. Auf diese Weise kommt der |29|weitsichtige Egoismus dem Altruismus sehr nahe, weil er die allgemeinen Interessen berücksichtigt.

In diesem Buch geht es also nicht um die Förderung eines tumben Ellenbogenkarrierismus. Ich möchte Sie unterstützen bei der Durchsetzung guter Ziele, also von Zielen, die im Sinne des Unternehmens, seiner Mitarbeiter und Ihrer Interessen sind – auch gegen den Widerstand Dritter, denn zu viele gute Ideen und Projekte bleiben auf der Strecke, weil sie von Blendern und Fortschrittsbremsern blockiert werden! Gute Ziele mehren nicht nur den persönlichen Einfluss und das individuelle Vermögen. Sie steigern auch den Einfluss und das Vermögen des Unternehmens und der Mitarbeiter: Das ist Win-win in Reinkultur, und diese Durchsetzungsstärke kann man lernen.

Sich mit Power in der Wettbewerbsgesellschaft durchboxen, um Gutes zu tun, das ist ein vielversprechendes Ziel! Ihr Einsatz: die Bereitschaft, konfrontativ zu handeln. Das bedeutet, dass Sie sich mit Ihrer natürlichen Aggression beschäftigen müssen, denn die positive Aggression ist das Kraftwerk in Ihnen, das Ihnen erst Mut macht, sich gegen Widerstände durchzusetzen!

Positive Aggression ist das Kraftwerk im Menschen, das Durchsetzungsstärke erst freisetzt!

Gemeint ist damit natürlich nicht der Schlag ins Gesicht des Gegenspielers, sondern das, was in der Psychologie unter Sublimierung verstanden wird. Auf Deutsch: die Umsetzung aggressiver (und sexueller) Energie in wirtschaftliche, kulturelle und soziale Leistung! Daher überrascht es nicht, dass verantwortungsvolle und erfolgreiche Menschen ihren wirtschaftlichen Aufstieg und privaten Wohlstand mit kulturellem Sponsoring |30|und sozialen Stiftungsgründungen verbinden. Es geht bei der Sublimierung um die Aktivierung der brachliegenden, natürlichen, moralisch gerechtfertigten aggressiven Kräfte, die Mut machen, persönliche Grenzen zu überschreiten. Kurz gesagt: Positive Aggression fördert die in der Berufswelt so geschätzten pro-aktiven Verhaltensweisen!

Man kann Aggressionen nicht verleugnen, vollständig unterdrücken oder gar abschaffen. Sie gehören zur Grundausstattung des Menschen und haben eine wichtige Überlebensfunktion. Es kommt darauf an, wie man mit seinen Aggressionen umgeht, wie man sie einsetzt: auf konstruktive oder destruktive Weise. Die Wissenschaftlerin Claudia Heyne betont, dass konstruktive Aggressionen eine Voraussetzung für Konflikt- und Durchsetzungsfähigkeit sind. Bitte vergessen Sie nicht: Aggression ist in diesem Sinne zunächst einmal ein wertfreies Potenzial an Energie und Aktivität, das sich nur unter ungünstigen Umständen in Gefühle und Impulse destruktiver Qualität verwandelt!

Bevor wir uns den konstruktiven Möglichkeiten der Aggression zuwenden, werden wir uns zunächst genauer ansehen, was Aggressionen überhaupt sind.