Der Diamant – hochkarätig und lupenrein

Das Prinzip des Diamanten orientiert sich an der klassischen kriminologischen Subkulturforschung des New Yorker Professors Howard W. Polsky, der schon deswegen mit Vorsicht zu genießen ist, weil seine tellergroßen Hände bei der Begrüßung ebenso viel Schmerz zufügen wie seine messerscharfen Studien. Im Wissenschaftsjargon wird sein Diamant als »mikrosoziologische Kleingruppen-Analyse« bezeichnet. Der Begriff des |128|Diamanten entstammt Polskys Idee, die Analysen grafisch umzusetzen. Die Diamantenanalyse können Sie erfolgreich innerhalb wie außerhalb des Berufes einsetzen, denn sie ermöglicht Ihnen

  • die Gruppenstruktur einer kriminellen Jugendgang in Moskau oder Sidney zu untersuchen,

  • die Teamstruktur in einer Hamburger Werbeagentur zu erfassen,

  • die Kommunikationsstruktur innerhalb eines Mietshauses zu dokumentieren,

  • die Rollenaufteilung des Vorstandes bei Volkswagen darzustellen oder

  • jede beliebige Leitungsgruppe jedes beliebigen Unternehmen zu analysieren.

Kurz: Die folgenden Ausführungen liefern Streetgang-Wissen für den persönlichen Wettbewerb in der sozialen Marktwirtschaft.

Glücklicherweise basiert diese Analyse auf einem äußerst einfachen und alltagstauglichen Grundkonzept, das Geschäftsfreunde und Mitstreiter in Anführer und in Statusschwache einteilt, in Wichtige und Isolierte, in oben und unten. Vor allem aber hilft dieses Prinzip zu analysieren, wer für und wer gegen Sie agiert, beziehungsweise auf wen Sie sich nun wirklich nicht verlassen sollten. Das Motto lautet: Schlagen Sie ruhig strategisch zu, um nach vorne zu kommen – aber treffen Sie bitte die Richtigen! Der Diamant wird Ihnen dies erleichtern!

Wer diese Analyse im Unternehmen, im Team, in der Arbeitsgruppe oder bei den Vorstandskollegen anwendet, wird wahrscheinlich zu folgenden Resultaten kommen: Sie werden aller Voraussicht nach noch erfolgreicher, weil Sie Teamstrukturen |129|schnell durchschauen und im eigenen Sinne nutzen können. Sie werden professioneller entscheiden, weil Sie genau wissen, wen Sie zukünftig fördern und wen Sie im Status reduzieren wollen. Sie werden einflussreicher werden, weil Sie genau wissen, wer Sie erfolgreich unterstützen kann.

Folgende Rollen im Diamanten sind zu vergeben:

  • der Anführer: der lächelnde Sieger

  • die graue Eminenz: die Macht im Schatten

  • |130|der Leutnant: der loyale Wadenbeißer

  • der Mitläufer: der anpassungsbereite Dienstleister

  • der Isolierte: der teamunfähige Querulant

  • die Dyaden: zwei unwichtige Kollegen, die sich gegenseitig stützen

  • der/das Laufjunge/-mädel: der/die Servicebeauftragte

  • der Sündenbock: der ewig Schuldige

Diese Rollen sind in so gut wie jedem Team vertreten. Allerdings kann es sein, dass sie nicht zu 100 Prozent auf eine Person zutreffen – manche Menschen sind zu 70 Prozent Wadenbeißer und zu 30 Prozent Mitläufer. Wie Sie mit diesen Differenzierungen umgehen können, erfahren Sie weiter unten.

Anführer, graue Eminenz und Leutnants: die Dominanten im Team

Anführer gelten als die Klügsten, Stärksten und Machtvollsten. Sie haben die meisten Privilegien, sind beliebt (zumindest wagt niemand aufgrund ihres Einflusses gegen sie vorzugehen) und werden zum Teil sogar bewundert. Sie haben im Unternehmen keine wahren Freunde, denn ihre Wertschätzung ist an die Rolle gebunden, die sie einnehmen. Ihre Macht bedeutet Einsamkeit, bringt aber auch Vorteile: Wenn sie reden, schweigt die Menge. Niccolo Machiavelli, der Autor des Renaissancebestsellers und ersten Managementhandbuches Il principe (Der Fürst), nennt diese dynamischen Zeitgenossen Condottiere, die lächelnden Sieger. Sie strahlen Zuversicht und Standfestigkeit aus in einer verwirrenden, sich immer schneller verändernden Welt. Die Condottiere haben einen bestechenden Wettbewerbsvorteil: Bei gleicher Qualifikation werden die lächelnden Sieger |131|bevorzugt, denn man arbeitet lieber mit ihnen zusammen als mit mürrischen Pessimisten. Den überlegenen Siegern ist ihr positives Denken ins Gesicht geschrieben. Stille Anführer herrschen sogar nur durch Blickkontakt und Gesten.

 

Ein Beispiel aus der Werbebranche: Hier sind alle bevorzugt schwarz gekleidet und selbst frischgebackene Hochschulabsolventen heißen schon Art-Director. Hierarchieverwischend sitzen die Werber an ovalen Tischen. Statusunterschiede sind auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Aber alle, die reden, blinzeln für Sekundenbruchteile nach halblinks, denn da sitzt er, eingerahmt von seinen statushohen Creative-Directors. Der stille, aber überlegene Anführer signalisiert Wohlwollen oder Desinteresse, an dem sich die Höflinge zu orientieren haben – zumindest, wenn sie weiterkommen wollen.

Der Hierarchie ist nicht zu entkommen, auch wenn sie noch so subtil verschleiert wird.

Die graue Eminenz ist als Macht im Hintergrund. Die klassische Besetzung ist der Senior-Chef, der nur noch sporadisch vor Ort ist, aber dessen Gedanken und Handeln Unternehmenskultur und -alltag prägen. Die Führungskraft, die es schafft, sich auf diesen alten Patriarchen zu berufen und die damit den Eindruck erwecken kann, in seinem Sinne zu agieren, gilt als fast unangreifbar.

 

Eine angehende Justizführungskraft plant die Einführung eines neuen Therapieprogramms für Schwerkriminelle. Der zuständige leitende Regierungsdirektor lehnt die Idee ab. Mehrfaches Nachhaken nutzt nichts. Die Enttäuschung des Newcomers sitzt tief. Wochen später lernt er auf einer Party einen älteren, graumelierten Herren kennen. Die beiden verstehen |132|sich, die Chemie stimmt und der Ältere bietet das Du an. Heiner heiße er. Gegen Mitternacht stellt sich heraus, dass der Graumelierte ebenfalls für die Justiz arbeitet: als Staatssekretär! Unser Newcomer nutzt die Gelegenheit, stellt sein abgelehntes Therapieprogramm kurz vor und erfährt Zustimmung. So gestärkt lässt er sich auf die Tagesordnung der nächsten Leitungskonferenz setzen. Er stellt dort erneut – zum Missfallen seines leitenden Regierungsdirektors – sein Programm vor und ergänzt dies mit dem kleinen, aber feinen Zusatz:

»Ich habe das Heiner am Wochenende vorgestellt. Der fand die Idee gut.«

»Welcher Heiner?«, fragt der Direktor.

»Heiner Hellmann.«

»Unser Staatssekretär?« Der Direktor hat sofort seine lässige Sitzhaltung verloren und steht innerlich »stramm«, zumal Hellmann als graue Eminenz der Justiz gilt.

»Ja.«

»Woher kennen Sie den denn?«

»Ach«, so unser Newcomer bescheiden, »das ist nur so ein privater Kontakt.«

Der Direktor checkt den Kontakt gegen, setzt danach eine Arbeitsgruppe ein und fördert das Therapieprogramm. Unser Newcomer ist nicht nur glücklich, sondern er erzählt rund siebzig Mal von seiner Begegnung mit Heiner – den er übrigens privat nie wieder treffen wird. Aber das ist egal, denn es hat sich in seinem beruflichen Umfeld der Eindruck festgesetzt, der Newcomer habe einen guten Draht nach oben ins Ministerium!

Sollte Ihre graue Eminenz noch leben, versuchen Sie, sich in Entscheidungsfragen mit ihr abzustimmen. Erfahren Sie Unterstützung von der grauen Eminenz, werden Sie die Reaktion Ihres Umfeldes genießen können.

|133|Die Leutnants sind die rechte Hand, der starke Arm des Anführers. Reden sie, unterstützen sie die Sicht der Chefs. Sie verfügen über weniger Privilegien, spekulieren aber auf die Nachfolge, sollte der Anführer aussteigen, pensioniert werden oder stürzen. Leutnants sind – solange ihr Anführer fest im Sattel sitzt – führungsloyal und vermeiden kritisches Feedback. Das Ansprechen von bitteren Wahrheiten fördert aus ihrer Sicht nicht die Karriere, sondern allenfalls lautstarke Dementis. Stattdessen verblüffen sie durch Tempo und Schlagfertigkeit. Das signalisiert Souveränität. Leutnants gelten in ihrem Loyalitätsverständnis als die »Verteidiger irrationaler Hypothesen«. Dazu ein Beispiel:

 

Die Konferenz läuft seit 9.00 Uhr. Draußen strahlt die Mai-Sonne. Plötzlich merkt der Leiter an, dass er am Nachmittag schwere Graupelschauer erwarte. Die Konferenzteilnehmer wirken irritiert. Nichts deutet darauf hin. Nur der Leutnant blickt nachdenklich aus dem Fenster und teilt dann zur Überraschung aller mit: »Ich erinnere mich genau, im Mai ’96 hatten wir eine ähnliche Situation. Bestes Wetter am Morgen und nachmittags faustdicke Hagelkörner …« Die Teilnehmer schauen noch irritierter. Nur der Chef – nach außen ungerührt – lächelt innerlich: Sein Leutnant funktioniert noch. Er verteidigt selbst irrationale Wetterhypothesen. Der Chef nennt diese eingestreuten Behauptungen »Versuchsballons«. Sein Leutnant sieht das klarer. Er spricht vom »Loyalitätstest«.

 

Sind Sie nicht sicher, ob Ihre Leutnants Ihnen noch loyal folgen, sollten Sie ähnliche irrationale Hypothesen aufstellen und abwarten, wer Ihnen zustimmt und wer nicht. Erstere sind Ihnen treu ergeben, und das sollten Sie ruhig würdigen. Als kritische Ratgeber in Umbruchsituationen taugen diese Loyalen natürlich nichts. Aber dafür gibt es ja hoch bezahlte Unternehmensberater.

|134|Mitläufer, Isolierte und Dyaden: die durchsetzungsschwache Basis jedes Unternehmens

Die Mitläufer sind die zahlenmäßig größte Gruppe der Mitarbeiter. Sie genießen die Protektion der Mächtigen, denn sie funktionieren. Genauer: Sie machen einfach das, was man von ihnen erwartet. Sie reden engagiert mit – wenn es um unwichtige Dinge geht. Sie scheuen sich vor Verantwortung, wollen nicht ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, wollen nicht anecken und passen sich daher dem Mainstream des Unternehmens an. Sie interessieren sich für Gerüchte und sind offen für Vorurteile. Das bringt sie in ihrer Karriere zwar nicht weiter, gibt ihnen aber das Gefühl mitzureden. Gehört wird aber selten auf sie. Das erwarten sie auch nicht. Die Kommunikation dieser Mitarbeiter findet weniger im offiziellen Rahmen statt, ist aber räumlich leicht zu orten: Sie sammeln sich zum kollegialen Austausch sehr gerne um Kaffeemaschinen, in Raucherecken oder in hoch frequentierten Fluren, eben dort, wo die informelle Kommunikation stattfindet. Manche Führungskraft, die diese Mitarbeiter dort engagiert debattieren hört, fragt sich, warum dieses Engagement nie im Meeting zu vernehmen ist. Aber das hat Prinzip. Man nennt es »Engagement in der Bedeutungslosigkeit«. Ein Markenzeichen der Mitläufer. Diese suchen natürlich auch persönliche Vorteile im Kompromiss und können dabei mit der ganzen Verhaltensweisenpalette von Ehrlichkeit, Einfühlsamkeit bis zum aalglatten »Einschleimen« aufwarten. Sie sind machtflexibel, das heißt, dass sie jeder Führungskraft dienen können, unabhängig von deren Leitungsphilosophie. Sie liefern ihre Arbeit korrekt ab, tendieren zum Dienst nach Vorschrift und haben ihr Hauptaugenmerk auf die Familie oder Hobbys gerichtet. Diese Mitarbeiter machen nichts kaputt und reißen |135|auch nichts raus. Sie sind im positiven Sinne Durchschnitt, fühlen sich damit wohl und bilden in ihrer Masse die Basis jedes Unternehmens.

Die meisten Teams, Abteilungen oder Arbeitsgruppen verfügen auch über isolierte Persönlichkeiten. Dies sind Mitarbeiter, die durch ihr Auftreten oder ihr Äußeres irgendwie aus dem Rahmen des Unternehmens herausfallen. Sie haben kaum Privilegien. Ihre Meinung interessiert nicht, auch wenn man sie in der Regel ausreden lässt. Selbst ihre produktivsten Anregungen werden nicht wahrgenommen, da jeder Gruppenteilnehmer die Redezeit des Isolierten als willkommene Auszeit betrachtet und seinen privaten Gedanken nachgeht. Sollte der Isolierte dieses Gewähren-Lassen missverstehen und seine Rede über Gebühr fortsetzen, wird man Wege finden, ihn abzuwürgen. Vermutlich wird ein Meetingteilnehmer abrupt eine Kaffeepause vorschlagen und alle werden dieser Anregung folgen – zur Verblüffung des Isolierten. Natürlich wird nach der Pause dem Betreffenden nicht noch einmal das Wort erteilt. Mitarbeitern, denen dies widerfährt, sollte klar sein, dass nur noch ein Teil ihres Gehaltes leistungsbezogen ist und der Rest als Schmerzensgeld eines Outsiders zu betrachten ist!

Dyaden haben es unwesentlich besser. Dyaden treten im Doppelpack auf. Man versteht darunter zwei statusniedrige Kollegen, die sich gegenseitig stützen. Sie können sich auf ihr gegenseitiges Wohlwollen verlassen. Dieses basiert auf Sympathie. Dyaden fallen im Unternehmen auf, weil sie häufig miteinander telefonieren, obwohl ihre Büros nebeneinander liegen, fast immer zusammen in der Kantine essen und – wenn es ganz schlimm kommt – auch noch am Wochenende gemeinsam zum Kegeln gehen. Sie schrecken nicht davor zurück, selbst bei unpassender Gelegenheit in großer Runde die »guten Ideen« des Dyadenpartners hervorzuheben. Das wirkt peinlich, ist aber |136|nicht schlimm, da niemand anderes von ihnen erwartet. Im Übrigen interessieren die Eingaben der Dyade die statushohen Zeitgenossen nicht.

Laufjungen und Sündenböcke: das Gegenteil von Durchsetzungsstärke

Laufjungen (oder -mädchen) gelten im Team oder der Arbeitsgruppe als durchsetzungsschwach und statusniedrig. Man erkennt sie leicht: Sie übernehmen freiwillig und im vorauseilenden Gehorsam Dienstleistungen für die Oberen, signalisieren Harmlosigkeit und sind um das Wohl der anderen besorgt, nicht aber um ihr eigenes. Diese Mitarbeiter sprechen gerne von ihrer Selbstlosigkeit und hoffen auf Lob. Laufjungen erkennt man daran, dass sie hoch motiviert und freiwillig Betriebsausflüge, Firmenfeiern, Management-Seminare oder Adventure-Touren für das Team organisieren. Manchmal sorgen sie sogar in Meetings für Kaffee, Milch und Süßstoff und bringen – in der weiblichen Variante – Selbstgebackenes in der Vorweihnachtszeit mit. Das ist menschlich, sympathisch und nett. Es trägt zur angenehmen Atmosphäre bei – und ist aus machtstrategischer Rollenperspektive eine Katastrophe. Diese Art der Freundlichkeit gilt als Schwäche und Geste der Unterwürfigkeit in den Augen machtorientierter Menschen: »They take kindness for weakness«, wie es mein ehemaliger US-Boss auf den Punkt brachte. »Service-Tussis und Butler-Typen übertrage ich keine Verantwortung. Die werden nicht ausreichend ernst genommen«, so ein Konzernabteilungsleiter, der seine Worte gar nicht böse oder abschätzig meint.

Diese Laufjungenrolle kann einem schneller verliehen werden, als einem lieb ist. Vor allem wenn man neu in ein Team |137|stößt, besteht die Gefahr, dass man einen derartigen Status verpasst bekommt. Ein Beispiel:

 

Der Lebensmittelmanager nennt es seine »Führungsfrauenfalle«. Sitzt er mit einer neuen Frau aus dem Führungskräftenachwuchs in einem Meeting, stellt er die Neue zunächst den alten Hasen vor und lobt sie in höchsten Tönen. Nach wenigen Minuten zeigt er sich dann irritiert, weil Kaffee und Tee auf den Konferenztischen fehlen. Der Manager sagt der Neuen, dass dieses nicht der Stil des Hauses sei. Üblicherweise sei für einen guten Service gesorgt (im Vorfeld hat er übrigens selbst das Sekretariat angewiesen, die Tische leer zu lassen). Er lässt daraufhin unverfänglich seinen Blick über die Gruppe am Tisch schweifen und schaut der neuen Kollegin tief in die Augen. Fühlt diese sich angesprochen, steht auf und ordert Kaffee und Tee, hat sie das Spiel verloren: Just ist sie zum Laufmädchen wider Willen gekürt worden. Die Kollegen sehen diese Entwicklung mit Erleichterung: »Unsere Neue ist nett und wirklich hilfreich. Die ordnet sich gut ein und unter«, so ein Teilnehmer des Meetings. Das sind keine Worte, die von Durchsetzungsstarken als Kompliment empfunden werden! Unser Lebensmittelmanager klagt allerdings in letzter Zeit, dass dieses Spiel nicht mehr so recht funktioniere: Vor kurzem habe er eine Kandidatin gehabt, die ihren Blick während des Tests erst gar nicht erhoben habe. Die habe weiter in ihren Unterlagen geblättert und daher auch den auffordernden Blick des Managers nicht erwidert. Stattdessen habe sie laut und deutlich nur einen Satz gesagt, der aber klar signalisierte, dass dieses Spiel bei ihr nicht funktioniert: »Für mich bitte heute und in Zukunft ein Vittel-Wasser.« Daraufhin sei Herr Schumann aufgestanden und zum Konferenztelefon gegangen, um die Getränke zu ordern. Das verwunderte niemanden, denn aus der Perspektive der Konferenzteilnehmer gilt Schumann als Isolierter. Konsequenterweise erhielt er auch von niemandem Dank für seinen Service. Auch nicht von der Neuen, denn die hatte das Spiel durchschaut – und eine glänzende Karriere vor sich.

|138|Auch banale Machtspiele können Realitäten zementieren!

Der Sündenbock hat eine bedeutende und häufig unterschätzte Rolle in Arbeitsgruppen. Er signalisiert Klarheit. Wenn sich ein Team auf einen Sündenbock geeinigt hat, gibt es einen bestechenden Vorteil für die Gruppe – zum Nachteil des Sündenbocks: Die Schuldfrage ist von vornherein geklärt. In dubio contra reo, im Zweifelsfall werden die Fehler stets beim Sündenbock liegen. Für die Arbeitsfähigkeit einer Gruppe ist dies von stabilisierender Bedeutung: Sie zerfleischt sich bei Unstimmigkeiten nicht gegenseitig. Stattdessen schießt sich das Team nach kurzem Disput – wie bei einem Nichtangriffspakt – zügig auf den Sündenbock ein. Fair ist das nicht. Selbst wenn alle wissen, dass dieser nicht wirklich schuld ist, steht wenigstens die Frage im Raum, warum der Sündenbock das Elend nicht verhindert hat. Eine böse Falle für den Stigmatisierten!

 

Der Mitarbeiter (und Sündenbock) Lehmann versucht solchen Unterstellungen im Meeting Paroli zu bieten: »Was sollen diese Vorwürfe gegen mich? Das ist gar nicht mein Aufgabenbereich. Und im Übrigen: Der ganze hier kritisierte Ärger lief während meines Urlaubs. Da war ich in Portugal. Da war ich gar nicht hier! Das lass ich mir nicht wieder anhängen!« Das Team zeigt sich aber wenig beeindruckt von diesen Einlassungen. Wie im Chor schallt es zurück: »Das ist es eben, Lehmann. Immer wenn es hier um etwas geht, wenn Verantwortung zu übernehmen ist, wo sind Sie dann? Im Urlaub!«

 

Sündenböcken missfällt naturgemäß diese Rolle, aber sie haben wenig Chancen, ihr zu entkommen, denn alle im Team |139|sind froh, dass es einen anderen erwischt hat. Die Bemühungen zur Gegenwehr des Sündenbocks bleiben meist nicht nur erfolglos, sondern werden als Beleg für die Unsouveränität und Überforderung des Stigmatisierten interpretiert. Wenn das Team behauptet, man sei ein Loser, dann ist es sehr schwer, dagegen anzuarbeiten. Die Soziologie spricht in diesem Fall von »Zuschreibungsprozessen«. Die Zuschreibung des Sündenbockstatus grenzt an Mobbing beziehungsweise Bossing. Einer der weit verbreiteten Fehler im Umgang mit Sündenböcken liegt in der Tatsache, dass dieses hässliche Interaktionsspiel übertrieben wird, und das ist nicht zu empfehlen! Denn wenn Sündenböcke überstrapaziert werden, kündigen sie und verlassen die Gruppe. Dies hat zur bitteren Folge, dass die Rolle neu zu besetzen ist – aber mit wem? Das ist sehr schwer zu kalkulieren, und wenn es schlecht läuft, trifft es Sie selbst.

Um zu verhindern, dass Sie den Sündenbock-Zuschlag bekommen, hilft nur eines: Pflegen Sie Ihren Sündenbock. Schenken Sie ihm hin und wieder einen guten Rotwein, ein Ticket für das Golfturnier, eine Karte für die Oper oder eine Schachtel »merci«. Bauen Sie ihn auf. Seien Sie gut im Bösen. Ihr Sündenbock wird dankbar sein und Ihnen treu ergeben bleiben.