Die Grundformen der Aggression

Aggression ist nicht gleich Aggression – ihre vielfältigen Erscheinungsweisen reichen vom Schimpfen bis zum Verhöhnen, vom Schlagen bis zum Pistolenschuss, vom Beinstellen bis zum Bombenwerfen, von gereizter Patzigkeit bis zum Links-liegen-Lassen – so der renommierte Aggressionsforscher Hans-Peter Nolting. Ob sich die konstruktive Energie der Aggression in destruktives Verhalten wandelt, hängt davon ab, ob eine Situation als bedrohlich empfunden wird.

Aggression im wirtschaftlichen Wettbewerb tritt in der Regel als Reaktion auf eine wirkliche oder auch nur vermutete Minderung der eigenen Macht in Erscheinung. Und vor Machtminderung haben in dieser Hochtempozeit viele Business-Leute zu Recht Angst. Kein Wunder also, dass die Maxime heute lautet: schneller sein, auch: aggressiver sein.

Wer sich seines eigenen destruktiven Potenzials nicht bewusst ist, kann eine Gefahr für jede Gesellschaft und für jedes Unternehmen werden. Um uns selbst und andere besser kennen zu lernen, wenden wir uns nun den vier Klassifikationsgruppen |39|der Aggression zu, um die unterschiedlichen Formen und Ausprägungen – zugespitzt auf die Berufsrealität – identifizieren zu können. Man unterscheidet:

  • die explizit destruktive Aggression,

  • die explizit negative Aggression,

  • die implizit destruktive Aggression und

  • die implizit negative Aggression.

Die explizit destruktive Aggression

Diese Durchsetzungsform hat die physische Verletzung oder sogar den Tod des Gegenspielers zum Ziel. Dazu zählen der Kauf von Auftragsschlägern, die »dem Feind« eine Abreibung verpassen sollen, oder Schüsse auf Enthüllungsjournalisten, die Existenzgefährdendes ans Licht zerren. Meist handelt es sich hier um Aktivitäten im kriminellen (Wirtschafts-)Milieu, egal ob es um zwielichtige Russland-Geschäfte geht oder um Bestechungsversuche in der deutschen Baubranche. Der Begriff der organisierten Kriminalität findet hier seine Berechtigung. Hintergrund für derartige Übergriffe können nicht erfüllte Schmiergeldzahlungen sein (neudeutsch sprechen die Empfänger vom Beratersalär oder Honorierung ihrer »Landschaftspflege«) oder das Aufdecken ebensolcher Überweisungen. Meist sind die Täter in ihrer Existenz gefährdet oder einfach habgierig und – bei Entdeckung ihrer Machenschaften – von Haftstrafen bedroht. In dieser Logik erscheinen ihnen ihre Angriffe als letztes Mittel gerechtfertigt, um sich zu verteidigen:

Die Folgen dieser brutalen Angriffsform erlitt etwa eine süddeutsche Unternehmerin. Ihr Privathaus wurde in Brand gesetzt |40|und sie selbst eines Nachts mit einem Würgedraht überfallen. Unklar dabei ist, ob diese Taten (die bis heute nicht aufgeklärt werden konnten) von der Konkurrenz in Auftrag gegeben wurden, die sich durch den Erfolg der Unternehmerin existenziell bedroht sah. Das unfreiwillige Lernprogramm für das Opfer: Leben mit der Angst und mit einem kostspieligen Bodyguard.

»Erfolg = Bedrohung«, so die nüchterne Bilanz der Dame.

»Würden Sie einen Auftragskiller engagieren, wenn Sie wüssten, dass ein Konkurrent Ihre wirtschaftliche, soziale, familiäre und gesellschaftliche Position zerstören will?«, fragte ich eine Gruppe von erfolgreichen Geschäftsmännern – die Reaktionen wurden natürlich anonymisiert. Spontan antwortete ein 56-jähriger Topunternehmer mit »Ja!« Er würde sich sein Lebenswerk nicht so einfach zerstören lassen! Er erntete dafür eine verblüffende Kritik von drei anderen Spitzenkräften: Sie erregten sich allerdings nicht über seine Bereitschaft zur Brutalität, sondern über seine Feigheit, nicht selbst Hand anzulegen!

Die explizit negative Aggression

Diese Aggressionsform setzt auf die psychische Zermürbung des Gegners: Durch Drohungen, Telefonterror, permanente Überwachung soll beim Opfer ein unangenehmer psychischer Zustand hergestellt werden. Für die Täter spielt eindeutig eine sadistische Komponente mit hinein, sie genießen die Qual des Opfers. Psychoterror entfaltet seine zerstörerische Wirkung erst durch die ständige Wiederholung. Erst das zermürbt das Opfer. Mobbing beziehungsweise Bossing – die Führungskräftevariante dieser Form des Psychoterrors – gehören eindeutig zu diesem Aggressionstyp. Mobbing gilt als Grund für fristlose Entlassungen, und das ist gut so. Dennoch ist diese Aggressionsform |41|verbreitet und schwer nachweisbar. Es beginnt zum Teil harmlos mit irrationalen Gerüchten und endet in massiven Bedrohungsszenarien. Mobber verfolgen das Ziel, den Gegenspieler (von »Opfern« sprechen Mobber nie) dauerhaft zu verunsichern, zu ängstigen und psychisch zu verletzten.

Mobbing entfaltet seine zerstörerische Wirkung über die Zeitschiene, also die andauernde Wiederholung. Das zermürbt das Opfer, im schlimmsten Fall führt es bis zur sogenannten »tertiären Viktimisierung«, in der das Opfer aus lauter Verzweiflung die Bedrohungen als »gottgewollt« in sein Selbstbild übernimmt oder als »geborenes Opfer« in eine völlige Passivität verfällt. Den Tätern ist das egal, Mitleid darf man von Mobbern nicht erwarten. Sie haben ihr Ziel erreicht. Und das lautet: Schwächung des Gegners! Sollten sie aber erwischt werden und sich für ihr Handeln öffentlich im Unternehmen verantworten müssen, beginnen Mobber eine ganz bestimmte Variante des Mitgefühls zu zelebrieren: das Selbstmitleid. Man sollte nicht zu viel darauf geben.

Die implizit destruktive Aggression

Diese Aggressionsform akzeptiert die Zerstörung Dritter als nicht gewolltes, aber notwendiges Nebenprodukt. Ökonomischer, sozialer, wissenschaftlicher oder künstlerischer Erfolg um jeden Preis – das ist kein seltenes Phänomen: Steuerbetrügereien galten fast als Volkssport, bis der Gesetzgeber die Sanktionswahrscheinlichkeit dank schärferer Gesetze und datenverkaufswilliger Bankdirektoren deutlich erhöhte. Nachwuchswissenschaftler fälschen Forschungsergebnisse, um zu Ruhm zu gelangen – auch auf die Gefahr hin, dass ihnen die Promotion zu einem späteren Zeitpunkt wieder aberkannt |42|wird. Der Versuch reizt, weil er schnellen Lohn und Ruhm verspricht. Seriös und nachhaltig ist das nicht.

Vom Konkurs bedrohte Unternehmer nehmen gar den indirekten Tod Unbeteiligter in Kauf (»Ich wollte die Arbeitsplätze in unserer Gemeinde erhalten«), wenn sie mit gefälschten Papieren Mülltransporte zu illegalen Mülldeponien organisieren – auf denen sich später spielende Kinder vergiften werden. Groß angelegte illegale Rindfleisch-Exporte in die Europäische Gemeinschaft zählen ebenso dazu wie illegale Waffenlieferungen an sogenannte »Schurkenstaaten« oder Giftgastransporte beziehungsweise Fabrikteillieferungen durch Deutsche nach Libyen:

 

Gaddafis Sohn brachte es auf eine sehr pragmatische Art auf den Punkt: »Wir mögen die Deutschen. Die haben uns geholfen.« Ein zweifelhaftes Kompliment!

Die implizit negative Aggression

Auch diese Aggressionsform zielt auf den wirtschaftlichen Erfolg. Ein unangenehmer Zustand des Mitbewerbers wird als in Ordnung empfunden. Beispiele dafür sind die typischen Machtkämpfe auf der Topebene (Leadership Struggles).

Diese Aggressionsform gehört zum Lieblingsmachtspiel der Wirtschaftselite. Von der Liebe zur strategischen Halblegalität wird lustvoll-schelmisch gesprochen. Ein Stahlmanager nannte in einem meiner Seminare diese subtile Aggressionsform verklausuliert seinen »kreativen Interpretationsrahmen auf dem Weg nach oben«. Er illustrierte diesen Rahmen mit dem Begriff der »feindlichen Übernahme«, mit dem er einem finanzschwächeren und zunächst wenig kooperationsbereiten Mitbewerber |43|drohte, bis dieser schließlich einlenkte und nachgab. Unser Manager sprach von einem »wirklich schönen, fast kreativen Bluff«, was niemanden überraschen wird, der die private Pokerleidenschaft dieses Mannes kennt!