Die Berufung auf höhere Instanzen

Manche Führungskräfte verfügen über ein Selbstvertrauen, das schon fast an Omnipotenzfantasien grenzt. Das hindert sie aber keinesfalls daran, sich bei Fehlentwicklungen als »kleines Rad in einem großen Getriebe« zu definieren, das nur ausführt, was |199|andere anordnen. Diese Berufung auf höhere Instanzen befreit sehr effektiv von eigener Schuld und signalisiert Kritikern, dass die Verantwortlichen ganz woanders zu suchen sind.

»Schuld«, so erklärte ein Berliner Bankier, »Schuld haben weltweite, nicht prognostizierbare Strömungen.« Nicht er, nicht seine Bank. Dass sein Kreditinstitut – von seiner Person ganz zu schweigen – aus der globalen Finanzkrise weitaus besser herauskommt als viele Unternehmen und deren Angestellte – also dafür trägt er nun wirklich keine Verantwortung.

Selbst Vorstände mutieren dank dieser Strategie zu unschuldig Staunenden, die hilflos achselzuckend vor dem Lauf der Welt stehen. Da draußen agieren übermächtige Kräfte, gegen die man sich nach langem, hartem Kampf schließlich doch hat geschlagen geben müssen. Unglücklicherweise sind nun die Kunden – oder die Mitarbeiter – diejenigen, die diese Niederlage schmerzhaft zu spüren bekommen.

Die beliebtesten Schuldigen sind:

  • der weit entfernt, irgendwo auf einem anderen Kontinent sitzende Vorstand, der harte, bedingungslose Forderungen stellt;

  • die Marktzwänge, die aus der Globalisierung erwachsen;

  • die renditeorientierten Aktionäre, die zufriedengestellt werden müssen;

  • die rücksichtslosen Mitbewerber, die sich wie Haifische gebärden.

Wer diese Strategie anwendet, achtet darauf, dass in seinen Beteuerungen ein Körnchen Wahrheit steckt – so fällt Kritikern der Widerspruch schwerer. »Wer kann die Globalisierung und ihre Konsequenzen negieren – schließlich agiere ich international«, rechtfertigte ein Chemiemanager Entlassungen im großen Stil.

|200|Bei der Strategie der Berufung auf höhere Instanzen stehen – wie die Kriminalsoziologen Sykes und Matza erklären – Normen und Prioritäten im Widerstreit miteinander. Wenn Sie die Prioritäten Ihrer Vorgesetzten kennen, wissen Sie, was Sie von ihnen zu erwarten haben:

  • Liegt die Priorität in der absoluten Gewinnmaximierung des Unternehmens, wird man Sie bei Nichterfüllung der Erwartungen schlicht opfern.

  • Liegt die Priorität der Führungsetage im Mitarbeiter- und Kundenwohl, wird die Bereitschaft bestehen, auf Ihre Belange einzugehen.

  • Liegt die Priorität Ihres Vorgesetzten primär in der eigenen materiellen Bedürfnisbefriedigung, werden kurzfristig ertragreiche Entscheidungen getroffen, die dem Unternehmen langfristig durchaus schaden können – aber wenn dieser Fall eintritt, ist Ihr Chef längst in einer anderen Firma.

Wenn Sie die Prioritäten Ihrer Vorgesetzten kennen, wissen Sie, wie sie in der Regel entscheiden werden.

Aber die Berufung auf höhere Instanzen ist kein Privileg von Topmanagern. Sie findet auch auf niedrigeren Hierarchieebenen Anwendung.

 

Herr Schneiderwink ist ein ganz normaler, sympathischer Abteilungsleiter. An einem wunderbar sommerlauen Freitagnachmittag schaut er auf die Uhr: gleich 16.30 Uhr – der Feierabend winkt. Allerdings ist da noch die wichtige Kalkulation, die bis 19.30 Uhr beim Einkäufer Brezelmeier sein muss, denn die Deadline für das Angebot läuft heute aus.

Da Schneiderwink findet, dass er in dieser Woche schon genug gearbeitet |201|hat – und er hat wirklich viel gearbeitet, die 40-Stunden-Grenze hat er längst überschritten –, und er heute seinen kleinen Sohn noch sehen und ihm etwas vorlesen möchte – wozu er die ganze Woche nicht gekommen ist –, überlegt er also, welcher seiner Mitarbeiter das übernehmen könnte: Luise, Martin oder Walter.

Walter will Schneiderwink nicht fragen; der Grantler würde glatt Nein sagen, und dann muss er, Schneiderwink, sich mit Walter anlegen und es am Ende anordnen. Das schafft nur eine ungute Stimmung. Martin hingegen wird über die Überstunden jammern und die längere Arbeitszeit erst mit seiner Frau abstimmen wollen. Die ist nämlich eifersüchtig und misstrauisch. Jedes Mal, wenn Martin etwas später nach Hause kommt, denkt sie, er hätte eine Affäre. Am Ende muss Schneiderwink womöglich mit Martins Frau telefonieren und die Mehrarbeit rechtfertigen. Darauf hat er wirklich wenig Lust.

Bleibt also noch Luise. Aber Luise hat es wirklich am wenigsten verdient. Sie schuftet schon mehr als ihre beiden Kollegen und liefert exzellente Arbeit. Luise noch stärker mit Aufträgen zu belasten, ist unfair, das weiß Schneiderwink. Aber das Angebot muss doch heute noch raus, und der Brezelmeier macht immer so einen fiesen Druck, wenn er etwas haben will. Und außerdem kann Luise schlecht Nein sagen.

Dieser Auswahlprozess dauert in der Realität übrigens nur wenige Wimpernschläge. Innerhalb von Sekundenbruchteilen scannt unser Hirn die Optionen, wägt Vor- und Nachteile ab und kommt zu einem Ergebnis.

Herr Schneiderwink geht also gegen 16.25 Uhr in Luises Büro: »Wissen Sie, Luise, seit Sie bei uns sind, läuft hier alles wesentlich besser. Früher herrschte in diesem Bereich immer ein gewisses Chaos. Heute sind wir dank Ihnen bestens organisiert. Wir sind eine richtige Vorzeigeabteilung geworden.« Nach einer kleinen Pause fügt Schneiderwink hinzu: »Ich habe hier noch eine Sache, die können in dieser Firma nur zwei Personen lösen: ich oder Sie. Aber ich bin heute noch mit Terminen total dicht. Es wäre eine riesige Hilfe, wenn Sie das übernehmen würden. Um |202|uns weiterhin auf dem Markt behaupten zu können, müssen wir rechtzeitig die Kalkulation einreichen. Wenn Sie richtig Gas geben, müssten Sie bis 19.30 Uhr damit durch sein.«

Luise fühlt sich geschmeichelt. Sie weiß, dass Schneiderwink ganz schön dick aufträgt, aber – sie kann es nicht abstreiten – sie fühlt sich anerkannt und wichtig. Sie ist eine Stütze des Unternehmens.

Diese Situation ist allerdings nicht neu: Es ist nicht das erste Mal, dass Schneiderwink sich kurz vor knapp mit einer dringenden Aufgabe an sie wendet. Martin und Walter kommen da besser weg – bei gleicher Bezahlung. Dennoch sagt sie natürlich nicht nein: Entweder ist man die Stütze des Unternehmens oder nicht.

Schneiderwink geht jetzt übrigens zum Golfen. Schließlich ist das Wetter wundervoll. Ein lauer Sommerabend. Den darf man nicht ungenutzt verstreichen lassen. Wenn er etwas Gas gibt, kann er bis 19.30 Uhr am 18. Loch sein. Dann schafft er es noch rechtzeitig nach Hause, um seinem Sohn vor dem Zubettgehen etwas vorzulesen.

Verhält sich Schneiderwink unfair? Ja. Ist er sich dessen bewusst? Ja. Hat er ein schlechtes Gewissen? Nein. Schließlich geht es um die Zukunft des Unternehmens – und um seinen Familienfrieden.

 

Luise hätte dieser Mehrarbeit übrigens entkommen können. Schließlich kennt sie die Situation schon. Sie hätte sofort bei Schneiderwinks Eintreten in ihr Büro das Wort ergreifen und mit brüchiger Stimme berichten können, dass sie gerade per Telefon erfahren hätte, dass ihr Kind an schrecklichen Magenschmerzen leidet und nach seiner Mutter weint. Sie müsse sofort, auf der Stelle, ohne jede Verzögerung nach Hause eilen.

Schneiderwink hätte – mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit – von seinem Vorhaben Abstand genommen. Vielleicht hätte er doch den grantelnden Walter genötigt oder mit Martin und seiner Frau die Gestaltung der kommenden drei Stunden abgestimmt. |203|Oder er hätte die Kalkulation eben selbst machen müssen. Dann hätte er nicht golfen können – aber rechtzeitig nach Hause zu seinem Sohn hätte er es allemal geschafft.