|31|Aggressionen – überlebenswichtig oder Teufelszeug?

Über Aggressionen spricht man nicht gern. Sie sind ein Tabuthema – zumindest wenn es um die eigenen Aggressionen geht. Dass andere aggressiv sind – keine Frage, doch man selbst? Darüber schweigt jeder lieber. Aber was versteht man überhaupt unter Aggressionen? Und woher kommen diese heftigen Emotionen?

Seit Jahrhunderten fragen sich Theologen, Philosophen, Pädagogen und Psychologen, ob der Mensch von Natur aus gut ist und ihn nur die widrigen Lebensumstände zum Mörder, Sadisten oder Tyrannen machen, oder ob er böse geboren wird und nur die Kultur ihn dazu bringen kann, nicht über seinesgleichen herzufallen. Die Frage, ob »der Mensch des Menschen Wolf« (Thomas Hobbes) oder Schaf ist, ist nur die zugespitzte Formulierung eines der grundlegenden Probleme des Denkens in der westlichen Welt: »Was ist der Mensch?« Ist er seinem Wesen nach böse und verderbt, oder ist er seinem Temperament nach gut und fähig, sich zu vervollkommnen? So fragt der Sozialphilosoph Erich Fromm in seinem wunderbaren Buch Die Seele des Menschen.

Diese Frage wird heute im Allgemeinen mit einem »Sowohlals-auch« beantwortet. Schon auf der Neugeborenenstation begegnen uns introvertiert-passive und sehr aktive Babys voller Lebensenergie. Ob diese Babys zukünftig ihr genetisches Mehr |32|an Power einsetzen werden, um eine Firma zu leiten und Arbeitsplätze zu schaffen oder sich als Chefs einer Hooligan-Gang beziehungsweise im kriminellen Milieu verdingen, das ist eine sozial-erzieherische Frage und ein Problem des zukünftigen Werteverständnisses des Heranwachsenden. Biologie, Ethik und gesellschaftliche Einflüsse gehen hier Hand in Hand!

Fakt bleibt, dass Aggression ein Phänomen ist, das uns überall begegnet: Jeder Mensch in jeder Kultur verfügt darüber, vom Neugeborenen, das – nicht böse gemeint – die Brustwarze der stillenden Mutter traktiert (die Wissenschaft spricht von inzidenteller, also zufälliger Aggression), bis zum bettlägerigen Greis, der sein Umfeld tyrannisiert (feindselige Aggression).

Geben Sie sich nicht dem Irrglauben hin, dass Sie vielleicht gar nicht aggressiv sein können. Vielleicht lehnen Sie Aggressivität ab, vielleicht finden Sie den Begriff zu martialisch, zu primitiv. Dennoch ist es wissenschaftlich nicht zu leugnen, dass auch die Friedliebendsten unter uns über Aggressionen verfügen. Libido und Thanatos, Liebesfähigkeit und die Fähigkeit zu zerstören, sie stecken in uns allen!