Vom Guten des »Bösen« – der Sinn der Aggression

Die bekannte Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich betont: Aggressionen »gehören zur Grundausstattung des Menschen und führen nicht nur zur Destruktion, sondern haben auch eine Überlebensfunktion«.

Dabei gibt es kein »Aggressionsgen«, das die Biologen identifizieren könnten und dessen Entnahme zu einem Mehr an Friedfertigkeit führen würde, auch wenn manche Bücher das auf den ersten Blick vermuten lassen. Der Versuch, Aggression biologisch |33|zu orten, bleibt gegenwärtig Utopie; vielmehr gibt es ein faszinierend enges Zusammenspiel der psychischen und physischen Seite der Aggression: Aggression und ihre körperlichen Reaktionen wie Schweißausbrüche, hohe Pulsfrequenz und der Verlust psychischer und körperlicher Kontrolle setzen immer eine Feindseligkeitswahrnehmung voraus. Erst, wenn jemand seine Umwelt als ihm übel gesinnt wahrnimmt, werden aggressive körperliche Reaktionen als Selbstschutz und aus territorialen Verteidigungsgründen freigesetzt. Die Reaktionskette lautet:

Feindseligkeitswahrnehmung Gefahr körperliche Stressreaktion aggressive Gegenwehr (oder Flucht)

Diese Feindseligkeitswahrnehmung ist von Mensch zu Mensch höchst unterschiedlich, abhängig von seiner Ängstlichkeitsskala von »furchtlos« bis »schüchtern«. Die Ausprägung unserer Feindseligkeitswahrnehmung ist kraftvoll und lässt uns innerhalb von Sekunden vom Romantiker zum Kämpfer mutieren. Nehmen wir als Beispiel eine romantische und gar nicht bissige Situation eines meiner Studenten in Paris:

 

Paris, Stadt der Liebe, in der Abendstimmung, ein guter Rotwein und die Liebste im Arm unter der Brücke an der Seine – einfach schön. Keine Spur von Aggression, sondern Zärtlichkeit pur.

Doch das ändert sich plötzlich, denn meinem Studenten fällt ein Satz aus meiner Kriminologie-Vorlesung ein: »Serienmörder haben ein Faible für großstädtische Reviere.« Plötzlich hört unser romantischer Student ein Rascheln, etwas bewegt sich in der Dunkelheit. Er kann es nicht orten; Angst überschwemmt ihn. Da ist es wieder, das Geräusch! Panik kommt auf. Er lässt das Weinglas fallen, reißt seine Liebste hoch und schreit »Lauf, lauf!« Gleichzeitig greift er nach einem dicken Holzknüppel, gibt |34|ihr beim Laufen Rückendeckung und ist gewaltbereit, den vermeintlichen Angreifer niederzuschlagen – aber da ist gar nichts …

Die Seine fließt, die Sonne geht langsam unter, und es kommt kein Serienmörder. Alles Einbildung, aber eine Feindseligkeitswahrnehmung, die ihn in absolute Kampfbereitschaft versetzte! (Gut, das nicht zufällig ein Jogger des Weges kam – der hätte die Prügel meines Studenten wohl kaum nachvollziehen können …)

 

Der renommierte Psychologe Friedrich Dorsch geht in seinem naturwissenschaftlich-psychologischen Wörterbuch auf diese individuellen Reaktionen ein, wenn er von (aggressivem) Stress spricht: Im organischen Sinne sei das jede Belastung, »die als solche erlebt wird«, abhängig davon, ob man etwa eine verrohte oder hypersensible Psyche aufweist. So irrational die Reaktion des Studenten im Nachhinein auch sein mag, sie weist uns auf den zentralen Aspekt des Aggressionsmechanismus in der Psyche hin, nämlich den Schutz. Wann immer sich die Nackenhaare sträuben, Furcht in uns hochkriecht, die Anspannung und damit auch die Aggressionsbereitschaft steigt, dann sollten wir diesem Frühwarn-System folgen: Es warnt uns vor möglichem drohenden Ärger, dem wir jetzt noch durch Flucht oder Gegenwehr gezielt begegnen können.

Meine Empfehlung: Folgen Sie diesem seismografischen Gespür lieber einmal zu viel!